# taz.de -- Verdrängung in Puerto Rico: Der Kaufrausch nach dem Sturm | |
> 2017 verwüstet Hurrikan „Maria“ das US-Außengebiet Puerto Rico. Seitdem | |
> kaufen Investoren vom Festland massenweise Immobilien, die Preise | |
> explodieren. | |
RINCON/SAN JUAN taz | Der Wagen kriecht die schmale asphaltierte Straße | |
hinauf. Gloria Cuevas fährt Schrittgeschwindigkeit. Ihr linker Arm ruht auf | |
dem Lenkrad, den rechten schwenkt sie wie einen Taktstock mal nach links, | |
nach rechts, dann wieder nach links. Hier unten wohnt Familie soundso, da | |
oben der Sohn von Frau soundso. Nachbarschaftsgeschwätz. Jeder kennt jeden. | |
Rincon, ein Surfer-Städtchen am westlichen Zipfel Puerto Ricos. Dreieinhalb | |
Flugstunden trennen das Karibikparadies von New York. | |
An diesem Januarmorgen kehrt Cuevas, 67, Silberlocken, Silberringe, | |
gebräunte Haut, zum ersten Mal in das Haus zurück, von dem sie geglaubt | |
hatte, hier würde sie einmal alt werden. Dann kam alles anders. | |
Im September 2017 überlebte sie eine der tödlichsten Naturkatastrophen in | |
der Geschichte der Vereinigten Staaten: den atlantischen Wirbelsturm | |
„Maria“. Kategorie fünf, Windgeschwindigkeit 260 km/h, geschätzte 3.000 | |
Todesopfer. Die Schäden beliefen sich auf knapp 112 Milliarden Dollar. | |
Gloria Cuevas, ihre Frau und ihre sieben Hunde und Katzen kamen in letzter | |
Minute bei Freunden unter und retteten sich vor der Flut. Ihre Mietwohnung | |
wurde vom Sturm platt gemacht, sie verloren fast ihren gesamten Besitz: | |
Dokumente, Antiquitäten, ein geliebtes Bettwäscheset, das sie von ihrer | |
Mutter geerbt hatte. Monatelang lebten sie ohne Strom, zogen von Unterkunft | |
zu Unterkunft. | |
Schon lange vor dem Sturm hatten Puerto Rico Schulden in Milliardenhöhe | |
geplagt. Dann kam „Maria“. Und einige verstanden die nationale Tragödie als | |
Einladung. Auf dieser Insel kann man jeden, wirklich jeden fragen, was es | |
mit dem Begriff „Katastrophen-Kapitalismus“ auf sich hat, jeder nickt | |
sofort, alle wissen Bescheid. Naturkatastrophen schaffen ideale Bedingungen | |
für Investoren: Man stürzt sich auf die niedrigen Immobilienpreise und | |
macht später damit Gewinn. | |
In den Wochen nach dem Hurrikan fehlte es an medizinischer Versorgung, an | |
Strom, um Insulin zu kühlen und Beatmungsgeräte zu betreiben. Es gab keine | |
passierbaren Straßen, kein Benzin, keine Transportmittel, um Patienten in | |
Krankenhäuser zu bringen, an Dialysegeräte anzuschließen und Notfälle zu | |
behandeln. Menschen waren durch Wassermassen, Bergrutsche und einstürzende | |
Gebäude ums Leben gekommen. Unzählige wurden obdachlos, Zehntausende | |
verloren ihre Jobs. | |
Als der damalige US-Präsident [1][Donald Trump] 13 Tage nach der | |
Katastrophe für vier Stunden nach Puerto Rico einflog, prahlte er mit der | |
hervorragenden Katastrophenhilfe und warf in einer Kirche mit notleidenden | |
Puerto Ricanern Rollen Küchenpapier in die Menschenmenge. Das Desaster | |
versuchte er zu relativieren. [2][„Katrina“, der Hurrikan, der 2005 Teile | |
von New Orleans verwüstet hatte,] der sei eine „echte Katastrophe“ gewesen. | |
In der Realität hatte die Katastrophenhilfe versagt. Als Cuevas Wochen nach | |
dem Hurrikan endlich ein Hilfspaket von der amerikanischen | |
Katastrophenhilfe FEMA auspackte, fand sie darin statt sauberem Trinkwasser | |
die Süßigkeitensorte Skittles und Dosenfleisch. | |
Cuevas parkt vor dem Haus, das früher ihr Reich war. Sie steigt aus und | |
richtet den Blick starr auf den hellgrün gestrichenen Gitterzaun: die | |
Grenze zu ihrer alten Welt, die sie verlassen musste. Nach „Maria“ hatten | |
sie jahrelang gesucht und schließlich das Haus am Hügel bezogen. Hier | |
legten sie einen Pflanzengarten an, so prächtig, dass Besucher anhielten, | |
um Fotos zu machen. | |
Bis die Besitzer sich vor einem Jahr dazu entschlossen, das Haus für teures | |
Geld zu verkaufen – wie so viele es seit „Maria“ tun. Wie Cuevas da steht, | |
wirkt sie verloren. Um sie herum ein tropisches Pflanzenreich aus Palmen, | |
Brotfruchtbäumen, Papayas. Von den Hügeln her zwitschert und blüht es wie | |
im botanischen Garten. | |
„Das Absurde ist“, bricht es aus ihr heraus, „die Gringos können unsere | |
Hühner und unsere coquis, die Frösche, gar nicht ausstehen.“ Die Gringos, | |
so nennt man hier Festland-Amerikaner, die seit einiger Zeit in Scharen auf | |
die Insel ziehen, Immobilien aufkaufen und die Mietpreise in die Höhe | |
treiben. Cuevas betont immer wieder, sie persönlich habe nichts gegen | |
Gringos, sie selbst lebte zwanzig Jahre lang auf dem Festland. „Das hier | |
ist kein Kampf zwischen uns und ihnen. Sondern einer zwischen Reich und | |
Arm.“ | |
Zwischen 2017 und 2022 kamen in Puerto Rico weitere 300.000 Wohnungen durch | |
Stürme zu Schaden. Einwohner dieser Häuser mussten häufig fliehen. Im | |
Universitätsviertel Rio Piedras in der Hauptstadt San Juan stehen noch | |
immer fast die Hälfte der Gebäude leer, berichtete die NGO „Centro Para la | |
Reconstruccion del Habitat“ 2022. Vielen Hausbesitzern fehlten die | |
erforderlichen Dokumente, um nachzuweisen, dass die Häuser ihnen gehören. | |
Das lokale Wirtschafts-Think-Tank „Center for a New Economy“ fand in einer | |
Studie zur Entwicklung des Immobilienmarktes heraus, dass Angebote für | |
Kurzzeitunterkünfte wie Airbnb nach „Maria“ um 30 Prozent anstiegen. In | |
Rincon dient jede dritte Mietunterkunft der Kurzzeitmiete. So wie Cuevas | |
musste in beliebten Küstenstädten fast jeder, der zur Miete lebte, in den | |
letzten Jahren sein Haus verlassen, weil jemand es aufkaufte und andere | |
Pläne hatte – früher lebten fast alle zur Miete, weil es bezahlbar war. | |
Heute wandert man Richtung Peripherie oder aufs Festland ab. Zwischen 2017 | |
und 2019 stiegen Immobilienpreise um 23 Prozent an. | |
Einheimische nennen Rincon im Scherz „Grincon“. Sie berichten, wie „die | |
Gringos“ mit ihren Scheckbüchlein am Strand entlangschlendern und nach | |
potenziellen Verkäufern spähen, oft nach alten Menschen. Auf den Straßen | |
und in den Restaurants ist fast nur noch Englisch zu hören. Aber längst | |
sind es nicht nur die Amerikaner, die Häuser aufkaufen: auch gut | |
verdienende Puerto Ricaner profitieren von dem Trend. Jeder will an dem | |
Airbnb-Boom mitverdienen. | |
Cuevas sitzt jetzt in der „Sunset Bakery“, auf einem Parkplatz am Rande | |
Rincons: ihr Happy Place, wo sie regelmäßig Freunde trifft. Auch heute | |
umarmt sie stürmisch eine Gruppe älterer Männer, die hier sich hier zum | |
Kaffeetrinken verabredet haben. Sie selbst trinkt weder Kaffee noch sonst | |
irgendwas. Sie dreht pausenlos an ihren Silberringen herum und spricht, | |
stundenlang. Von der Ungerechtigkeit, von der Korruption, vom Aktivismus | |
gegen die Privatisierung der Strände Rincons. Es fühle sich so an, sagt | |
sie, als ob der Hurrikan ihrer Insel ein Schild aufgedrückt hätte: „Zum | |
Verkauf“. | |
Als ob die, die jetzt ein Strandhaus nach dem anderen aufkaufen und | |
renovieren lassen, vergessen hätten, wo sie hier seien. Cuevas weiß sehr | |
gut, was die Klimakrise für Puerto Rico, für ihre drei Kinder und Enkel | |
bedeutet. Weiß, dass die Stürme immer öfter, immer heftiger kommen könnten. | |
Das Warten auf den nächsten Hurrikan ist immer eine tickende Zeitbombe. | |
„Wir alle haben hier ein kollektives Belastungssyndrom.“ | |
Katastrophen-Kapitalismus passiert nicht im luftleeren Raum, er wird von | |
einem politischen Rahmen erst ermöglicht. Weniger als ein halbes Jahr nach | |
dem Sturm hatte Puerto Ricos damaliger Gouverneur [3][Ricky Rosselló] vor | |
einem New Yorker Business-Publikum verkündet, Maria sei ein „blank canvas“, | |
eine leere Leinwand für Investoren, sich ihre Traumwelt zu malen. | |
Im März 2018, einen Monat nach dem Auftritt des Gouverneurs, kamen im | |
Luxushotel Vanderbilt Condado am Strand der Haupstadt San Juan 800 | |
„Puertopians“ zusammen. Drei Tage lang surften und meditierten sie, daneben | |
bastelten sie zusammen an ihrer Utopie, Puerto Rico in ein Paradies für | |
Krypto-Investoren, ein „Hongkong der Karibik“ umzuwandeln. | |
Einer der Sprecher prahlte, wie er seit seinem Umzug von Kalifornien nach | |
Puerto Rico als Amerikaner nur 4 Prozent Einkommensteuer zahle, statt 55 | |
Prozent in den USA. Wer seinen Wohnsitz vom Festland hierher verlegt und | |
mindestens 183 Tage im Jahr in Puerto Rico lebt, profitiert von | |
Steuervergünstigungen. Genau deshalb sind so viele hier. Eigentlich sollten | |
so durch Investitionen Arbeitsplätze geschaffen und die Insel aus der | |
Rezession gezogen werden. In der Realität sind es häufig dieselben | |
Profiteure, die Gebäude aufkaufen und sie in Luxuspaläste verwandeln. | |
Auch im Januar brennt in Rincon die Sonne auf der Haut. An einem dieser | |
strahlend schönen Tage sitzt Damien Chiodo, 50, Gringo, auf einer Holzbank | |
auf seiner Farm und versucht, Puerto Rico zu erklären. Die Hühner gackern, | |
die Hunde toben, im Hintergrund plätschert der Fluss. Wäre | |
Selbstbewusstsein ein Mensch, wäre es Chiodo. Zwischen seine Erklärungen | |
schiebt er in kurzen Abständen Wörter wie „fuckin“, „pussy“ und „br… | |
Chiodo besitzt 150 Immobilien in Puerto Rico, nur eine davon ist ein | |
Airbnb: als Zeitvertreib für seine Frau. Vor fünf Jahren zog er mit seiner | |
Familie in ein Haus am Strand in Rincon. Wenige Autominuten entfernt kaufte | |
er außerdem eine Farm mit Dutzenden Hühnern, einem Schwein, Ziegen und drei | |
Hunden. Die Eier, die die Hühner legen, verteilt er in der Nachbarschaft. | |
Dafür hat er sich selbst auf Google eine Bewertung von fünf Sternen | |
gegeben. „Unsere Farm versorgt jeden Tag zehn Familien“, steht da. „Ich b… | |
nicht der Bösewicht, den du zu finden hoffst“, hatte er vor dem Interview | |
in einer Nachricht geschrieben. | |
Ihn ärgert das „Kolonialismus-Narrativ“, das linke Journalisten vom | |
Festland auf der Insel suchen und in die Welt tragen würden. Gleichwohl, | |
gibt er zu, habe diese Erzählung eine Berechtigung. Aber glaubt man Damien | |
Chiodo, ist das Ganze viel komplizierter. Nicht alles lässt sich mit dem | |
Kolonialismus und Amerikanern wie ihm erklären, die ihren Lebensmittelpunkt | |
hierher verlagert hätten. | |
Seit fünf Jahren lebt Chiodo mit seiner Familie in Rincon. Mal sagt Chiodo, | |
er sei von Kalifornien hergezogen, weil er sich hier ein Haus direkt am | |
Strand leisten könne. Dann wieder, weil es in Rincon keine Amokläufe gäbe | |
und seine Kinder sicher zur Schule gehen könnten. Er selbst besitzt gut | |
zwei Dutzend Waffen („zur Verteidigung“), auch jetzt gerade liegt eine in | |
seinem Auto. Er lacht ein bisschen verlegen. Auf seinem linken Oberschenkel | |
ist eine bunte Pistole tätowiert, auf dem Knöchel über seinem rechten Fuß | |
„Punkrocker“. Immer wieder schicken ihm Aktivisten der lokalen Gruppe von | |
#GringoGoHome Morddrohungen. Einmal drohte man, seine Frau zu | |
vergewaltigen. | |
Leben in Puerto Rico, sagt Chiodo, sei so anstrengend, dass es sich | |
manchmal so anfühle, als ob man es den Menschen absichtlich schwermachen | |
wolle. Die hohen Steuern für Einheimische, die die Ärmsten in der | |
Gesellschaft am stärksten belasten, ein dysfunktionaler Bürokratieapparat, | |
die schlechte medizinische Versorgung. Und vor allem: die Korruption in der | |
Regierung. Die Tageszeitung San Juan Daily Star berichtete vor einem Jahr, | |
eine der größten Immobilienfirmen gehöre dem Sohn des Gouverneurs Pedro | |
Pierluisi. Der gab zwar zu, sein Sohn würde etwa 200 Wohneinheiten managen. | |
Diese würden aber nicht ins Gewicht fallen, sagte er. Vorschläge zur | |
Regulierung des Wohnungsmarktes lehnt er ab. | |
Viele Puero Ricaner ziehen lieber aufs Festland, nach Florida, Philadelphia | |
oder New York. Fast alle haben Familie drüben. Knapp dreieinhalb Millionen | |
Puerto Ricaner leben auf der Insel, rund acht Millionen auf dem Festland. | |
In den Monaten nach „Maria“ erlebte Puerto Rico den größten Massenexodus | |
seiner Geschichte. Ältere Menschen mussten wegen der fehlenden | |
medizinischen Versorgung ihr Zuhause verlassen und zogen zu ihren Kindern | |
aufs Festland, Jüngere verließen die Insel, um der Armut und der desolaten | |
Arbeitsmarktsituation zu entkommen. | |
Einige warnen, Puerto Rico könnte sich mit dem Immobilienwahn und | |
Tourismusboom in eine Gesellschaft von Köchen, Baristas und Gärtnern | |
verwandeln, deren wichtigster Zweck es ist, die Bedürfnisse von Touristen | |
und Krypto-Milliardären zu befrieden. | |
Chiodo ist Gründer und CEO der Firma Keylink. Kann jemand die Schulden für | |
seinen Hauskredit nicht abzahlen, wenden sich Banken wie die Bank of | |
America oder Santander an Keylink, die sich dann um Renovierung und | |
Weiterverkauf kümmern – manchmal auch um Zwangsräumungen. Wegen der | |
Rezession machte Chiodo schon lange vor „Maria“ Geschäfte auf der Insel. | |
Als „Maria“ über Puerto Rico fegte, befand er sich gerade in der | |
Hauptstadt. „Nach dem Sturm auf die Straße zu gehen fühlte sich an, als | |
hätte jemand eine Atombombe abgeworfen“, erinnert er sich. | |
„Haben Sie Gewissensbisse wegen Ihrer sechs Privathäuser auf der Insel?“ | |
Er nickt. Dann tut Chiodo etwas, was er selten tut: er schweigt kurz. Er | |
sagt, er habe den Swimmingpool in seinem Garten so bauen lassen, dass er | |
von draußen kaum zu sehen sei. | |
122 seiner Immobilieneinheiten, die er hier an der Südküste im Städtchen | |
Aroyo kaufte, ließ er renovieren und verwandelte sie in Bungalows für | |
sozialen Wohnungsbau, der den Schwächsten ein Zuhause gibt. „Eines der | |
bereichernden Projekte in meinem Leben.“ Chiodo liebt „opportunities“, er | |
liebt den Luxus. Aber er liebt auch die Idee, zu den Gerechten zu gehören. | |
Er versteht die Unterprivilegierten der Welt, er wuchs selbst in Armut auf. | |
Als Jugendlicher ging er für sich und seine Mutter im Wald Eichhörnchen | |
jagen, um etwas zum Essen zu haben. | |
Den Begriff „Katastrophen-Kapitalismus“ kennt Chiodo. Er bedeutet | |
Ausbeutung. Und die Ausbeuter sind die, die Kapital aus der Schwäche | |
anderer ziehen. „Opportunismus liegt in der Natur des Menschen.“ Aber er | |
persönlich kenne niemanden hier, der das absichtlich tue. Viele Amerikaner | |
halfen nach „Maria“ tatsächlich, andere wollten helfen, seien aber einfach | |
„douchebags“. | |
Ein „White Savior Komplex“ – also sich für einen weißen Retter zu halte… | |
sei das Letzte, was diese Insel braucht – dieselben weißen Menschen, die | |
die Insel mehr als ein Jahrhundert kolonialisiert und sie ihrer Ressourcen | |
beraubt hätten, wollen die Einheimischen jetzt retten, indem sie ihnen | |
erzählen, wie alles besser geht. Schwierig. | |
San Juan ist ein tropischer Schmelztiegel. Eine Stadt, in der der Himmel | |
fast immer strahlt und in der Tag und Nacht Salsa-Beats tönen. Knallbunte | |
Häuschen im spanischen Kolonialstil reihen sich wie Traubenzuckerketten | |
aneinander. Nichts passt hier zusammen, aber alles macht Sinn. In den | |
vergangenen Jahren wurden gigantische Hotelbauten am Strand hochgezogen. | |
Man geht schnorcheln und lässt sich mit einer Machete Kokosnüsse öffnen, | |
aus denen man das Wasser schlürft. Ein Airbnb mit acht Betten in der | |
Altstadt kostet zu Hochzeiten 3.000 Dollar pro Nacht, die Krypto-Szene | |
boomt. Aber zwischendrin: illegale Hausbesetzerprojekte, | |
Gemeinschaftsgärten, leerstehende Gebäude, überall Graffiti. Manchmal | |
blockieren Hühner und giftgrüne Leguane die Straßen. | |
Alana Mediavilla, 37, trifft ihre Geschäftspartner heute im | |
Universitätsviertel Rio Piedras. Sie hat 40 Minuten für ein Interview, | |
kündigt sie an. Sie sitzt mit den Partnern im Sandwichladen „El Panismo“, | |
wo sie zu Mittag essen. Sie trägt Pluderhosen und eine Kette mit einem | |
„Coqui“-Anhänger: das Nationalmaskottchen. Derselbe Frosch, von dem Gloria | |
Cuevas sagt, die Gringos könnten ihn nicht ausstehen. | |
Mediavilla ist: Produzentin, Regisseurin, Unternehmerin, dreifache Mutter | |
und Ehefrau. Außerdem Bitcoin-Investorin. Gerade hat das Filmfestival | |
Cannes ihre Dokumentation „Stranded“ als besten Kurzfilm ausgezeichnet. In | |
ihrer Familie bringt sie das Geld nach Hause, sagt sie stolz. | |
Mediavilla kam in Puerto Rico zur Welt. Als Studentin zog sie in die USA, | |
zuletzt lebte sie im kalifornischen San José. Mit Anfang zwanzig wurde sie | |
schwanger und musste ihr Studium abbrechen. Als die Pandemie ausbrach, | |
beschlossen sie und ihr amerikanischer Mann, nach Puerto Rico zu ziehen. | |
Hier hat sie für sich und ihre Familie im Örtchen Humacao außerhalb San | |
Juans für 250.000 Dollar eine Dreizimmerwohnung am Strand gekauft. In | |
Kalifornien wäre das niemals möglich gewesen. Mediavilla versteht die | |
Aufregung um die Wohnungsnot nicht. „Was hier passiert, passiert auch auf | |
dem Festland. Nur ist es eben eine sexy Geschichte, dass die Sündenböcke | |
hier die ‚bösen Weißen‘ sind, die ‚Colonizers‘.“ Der Rassismus gegen | |
Amerikaner, gegen ihre eigenen Kinder, sei neu. Er passe nicht zum | |
internationalen Puerto Rico. Dieser magischen Insel, auf der sie aufwuchs | |
und die sie liebt. Wer hier mit guten Absichten herkommt, der werde mit | |
offenen Armen empfangen. | |
Sie sagt, sie als Unternehmerin und Künstlerin hätte hier endlose | |
Möglichkeiten, vom US-Staat finanzierte Stipendien für Projekte zu | |
ergattern. „Geld fällt hier von den Bäumen, man muss sich nur bewerben.“ | |
Vielen, die über Gringos herziehen, fehlten die richtigen Zugänge. Sie | |
wüssten nichts von all dem. | |
Ihren Behauptungen entgegen gaben andere Gesprächspartner gegenüber der | |
tazan, Stipendien würden immer an die gleichen großen Organisationen | |
vergeben werden: hinzu kommen sogenannte Reimbursement Grants, Darlehen, | |
bei denen man Vorschüsse leisten müsse: Geld, das viele nicht haben. Dabei | |
hat die Regierung seit „Maria“ 84 Milliarden Dollar zum Wiederaufbau der | |
Insel zur Verfügung gestellt. | |
„Weißt du, wie schwierig es ist, von den Männern zum Golfspielen eingeladen | |
zu werden?“, fragt Mediavilla. So sei die Welt eben: ungerecht. Jeder müsse | |
netzwerken, für sich kämpfen, so wie sie ihr Leben lang kämpft. Das hier | |
sei ein freies Land: wer entscheidet, wer auf der Insel leben darf und wer | |
nicht? Sie weiß ihre neoliberalen Einstellungen eloquent zu verteidigen. | |
„Unsere Politiker haben uns mehr gestohlen als die Gringos. Unsere Wut | |
richtet sich an die Falschen!“ | |
Gloria Cuevas sagt, die Regierenden Puerto Ricos seien Marionetten | |
Washingtons. Sie, ihre Frau und die Tiere haben Rincon letztes Jahr | |
verlassen und sich endlich ein Häuschen gekauft, aus dem sie niemand mehr | |
vertreiben kann. Sie leben jetzt in Mayagüez, einer Studentenstadt an der | |
Westküste. | |
Damian Chiodo füttert die Hühner und streichelt die Hunde, dann läuft er | |
Richtung Wagen. Nächste Woche, sagt er, wird er wieder unterwegs sein: | |
Business in Baltimore. In den letzten 15 Monaten saß er 135 Mal im Flieger. | |
Mediavilla isst ihr Schinkensandwich nicht auf, sie läuft zum Büro zurück. | |
Vorbei an leerstehenden Gebäuden, über denen „Zu verkaufen“-Schilder | |
hängen, passiert sie Murals und Beschmierungen mit „Gringo Go Home“. | |
Rio Piedras ist das Zuhause von feministischen Kollektiven, düsteren | |
Punk-Spelunken und Secondhand-Läden. Auf dem Straßenpflaster haben Künstler | |
zusammen mit den Einwohnern eine überdimensionale Kakerlakenskulptur | |
aufgestellt. Ihr Körper aus recyceltem Rost und Stahl reckt sich | |
triumphierend in die Höhe. Das Insekt als Sinnbild für die Einwohner des | |
Viertels: Die Kakerlake ist eine Überlebenskünstlerin. Wenn alle anderen | |
längst weg sind, harrt sie aus. Auch die Menschen in Rio Piedras wollen | |
hier bleiben. Selbst wenn eines Tages alles den Gringos gehören wird. | |
13 Feb 2024 | |
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