| # taz.de -- Ukrainischer Film „Atlantis“: Die Zukunft wird sein wie Matsch | |
| > „Atlantis“ ist ein lakonischer Science-Fiction-Film aus der Ukraine. | |
| > Regisseur Walentyn Wassjanowytsch sucht nach Hoffnung im zerstörten | |
| > Donbass. | |
| Bild: Sergiy (Andrii Rymaruk, links) assistiert bei einer Leichenschau an einem… | |
| Braun. Die dominierende Farbe in diesem Film ist Braun. Die Landschaften, | |
| durch die sich die Kamera bewegt, sind schlammige Wüsteneien, in denen man | |
| am Horizont selten eine Pflanze erblickt. Dafür Industrieruinen, | |
| Minenfelder, von Menschen weitgehend sich selbst überlassene Ödnis. Am | |
| nächtlichen Himmel ein rötliches Braun, zusammengequirlt aus Wolken und | |
| Qualm von Fabrikschloten. Man schreibt das Jahr 2025, „Atlantis“ ist mithin | |
| ein Science-Fiction-Film. Alles darin sieht mehr nach heute aus und | |
| trotzdem fremd. | |
| Was in dieser Geschichte des ukrainischen Regisseurs Walentyn | |
| Wassjanowytsch am ehesten an Zukunft denken lässt, ist der Hinweis am | |
| Anfang des Films, direkt nachdem die Zeit der Handlung genannt wurde: „Ein | |
| Jahr nach dem Krieg“. | |
| [1][Im Donbass], wo „Atlantis“ spielt, ist bisher nicht abzusehen, ob | |
| [2][der 2014 dort ausgebrochene Krieg zwischen ukrainischem Militär und | |
| prorussischen Separatisten] nach einem Jahrzehnt wirklich beendet sein | |
| wird. [3][Die jüngsten russischen Truppenbewegungen an der Grenze zur | |
| Ukraine] hatten befürchten lassen, Russland könnte eine Offensive im | |
| umkämpften Gebiet vorbereiten. | |
| In „Atlantis“ herrscht Frieden, doch die Gegend kommt nicht zur Ruhe. Im | |
| Boden des Kohlebaugebiets ist durch aufgelassene Gruben und die | |
| Hinterlassenschaften von Fabriken das Grundwasser so salzig, dass die dort | |
| noch lebenden Menschen ihr Wasser von Lastern geliefert bekommen müssen. | |
| Einer dieser Lieferanten ist Sergiy (Andrii Rymaruk). Er ist in der Region | |
| geblieben, obwohl sie längst als auf lange Sicht unbewohnbar gilt. | |
| Sergiy hat zuvor in einem Stahlwerk gearbeitet. Bis das englische | |
| Management in einer Ansprache vor versammelter Belegschaft verkündet, die | |
| Fabrik werde „wegen Umbaumaßnahmen“ geschlossen. Früher hatte Sergiy zudem | |
| im Krieg gekämpft. Mit einem Kollegen aus der Fabrik, der mit ihm auf Seite | |
| der ukrainischen Armee im Einsatz war, macht er zu Beginn des Films | |
| Schießübungen. Man weiß ja nie. Traumatisiert sind beide. | |
| ## Leichenschau an teilmumifiziertem Kriegsopfer | |
| Sergiy ist ein verschlossener Typ, wie die meisten Figuren im Film. Seine | |
| stundenlangen einsamen Fahrten mit dem Lkw absolviert er stoisch. Als er | |
| auf einer Tour an einem liegengebliebenen Transporter einer | |
| Hilfsorganisation vorbeikommt, schleppt er das Fahrzeug ohne viele Worte | |
| ab. So trifft er Katja (Ljudmila Bileka), die ehrenamtlich hilft, die | |
| sterblichen Überreste verscharrter Kriegsopfer in der Region aufzuspüren | |
| und ordentlich zu bestatten. Sergiy bietet an, in seiner freien Zeit | |
| mitzumachen. | |
| Wassjanowytsch zeigt vor allem die bürokratische Seite dieser Arbeit. Auf | |
| einer Fahrt zum Friedhof, wo die Organisation Särge von unidentifizierten | |
| Leichen abliefert, nimmt das Unterschreiben von Formularen die längste Zeit | |
| des Vorgangs ein. In einer anderen Szene ist minutenlang ein Arzt zu sehen, | |
| der eine Leichenschau an einem teilmumifizierten Kriegsopfer vornimmt und | |
| mit monotoner Stimme die äußerlichen Merkmale zu Protokoll gibt. Es ist | |
| einer der Momente, in denen am meisten gesprochen wird. | |
| Überhaupt macht in „Atlantis“ allein die Tongestaltung die Musik. Maschinen | |
| wie die Lkw-Motoren oder der Hochofen des Stahlwerks sorgen für einen | |
| brummenden Drone. Wenn geschossen wird, was selten geschieht, knallt es | |
| trocken. Dazwischen wird gesprochen, auch das eher wenig, selten heben die | |
| Menschen ihre Stimme. Die giftige Leere, die in den Bildern ausgestellt | |
| ist, braucht keine suggestiven atmosphärischen Zugaben. | |
| ## Bleiben, trotz allem, als Perspektive | |
| Diese Stille ist es auch, die Sergiy gegen alle Umweltwiderstände in der | |
| Ostukraine weiterleben lässt. Und bei aller Tristesse signalisiert | |
| Wassjanowytsch damit zugleich so etwas wie Optimismus. Eine der letzten | |
| Szenen, in der eine Wärmekamera zum Einsatz kommt, bietet einen Blick auf | |
| Katja und Sergiy im Dunkeln. Sie sind sich inzwischen nähergekommen, | |
| sprechen darüber, warum sie bleiben wollen. Das Bleiben selbst ist, wie es | |
| scheint, ihre Perspektive. | |
| Im Jahr 2019 lief „Atlantis“ auf den Filmfestspielen von Venedig in der | |
| Reihe „Orizzonti“, wo er den Preis als bester Film gewann. Er war auch für | |
| die Oscarverleihung im April als bester internationaler Film nominiert. | |
| Jetzt ist „Atlantis“ online beim Streamingdienst Mubi angelaufen. | |
| Die strenge Kargheit seiner Bilder nicht im Kino sehen zu können, ist ein | |
| Verlust. Ihn überhaupt sehen zu können, in jedem Fall ein Gewinn: | |
| Science-Fiction, die ohne Spezialeffekte auskommt und dennoch Möglichkeiten | |
| der Zukunft erkundet. Und ein Kriegsfilm, der den Blick rein auf die Folgen | |
| militärischer Gewalt lenkt. Hoffnung ohne Kitsch. | |
| 6 May 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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