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# taz.de -- Der „Dau“-Bluff im Berlinale-Wettbewerb: Da ist gar kein Elefant
> Filmmaterial, das nur aus Längen besteht. Schauspieler, die sich fast
> reales Leid zufügen. Ein manipulativer Regisseur. Wer braucht „DAU.
> Natasha“?
Bild: Trinkspiele, Sex, Gewalt: Natalia Berezhnaya, Luc Bigé, Olga Shkabarnya …
In einem sind sich alle einig, Fans wie Verächter: So etwas wie das
Dau-Projekt hat es noch niemals gegeben. Am Anfang stand die Idee eines
historischen Films um die Biografie des sowjetischen Physikers und
Nobelpreisträgers Lew Landau. Die Sache hatte sich Regisseur Ilja
Chrschanowski ausgedacht, zuvor nur mit einem (faszinierenden) Film
hervorgetreten, ein Mann, der die Öffentlichkeit scheut. Diese Sache wuchs
sich, gelinde gesagt, aus. Irgendwann ist sie auch Chrschanowski
entglitten, der im wohl so mittelkorrupten Oligarchen Sergei Adoniev einen
höchst spendablen und geduldigen Geldgeber fand.
Es wurde ein riesiges Filmset in der Ukraine errichtet, die Dreharbeiten
zogen sich über mehrere Jahre. Aber auch in den Phasen, in denen nicht
gedreht wurde, lebten viele der Darsteller*innen einfach weiter in den
Kulissen. In wechselnden historischen Kostümen, das Projekt umfasst einen
Zeitraum von den dreißiger bis in die fünfziger Jahre, versteht sich als
Allegorie der totalitären Stalin-Jahre. Am Set waren keine Handys und
dergleichen erlaubt, sogar der Gebrauch zeitgenössischen Vokabulars war in
den Richtlinien, die alle unterschreiben mussten, strikt untersagt.
Weil zu den Richtlinien auch eine Schweigeklausel gehört, weil nur
ausgewählte Reporter das Set besuchen durften, die eher sensationalistisch
berichteten, bleibt für Außenstehende eher unklar, wie genau das Leben und
dann auch die vergleichsweise sporadischen Drehs (Kamera: Jürgen Jürges)
vor Ort verliefen.
Es sind viele Gerüchte und Geschichten in Umlauf, die sich zu einem
ziemlich unguten Bild verdichten: Der offenbar höchst charismatische
Chrschanowski wird von den einen als Visionär verehrt, von anderen [1][sehr
plausibel als eine Art narzisstischer Sektenführer] beschrieben, als
skrupelloser Manipulator, der Leute dazu bringt, Dinge zu tun, die sie
später bereuen.
Was nun auf der Berlinale zu sehen ist, ist nur ein recht winziger
Ausschnitt des gesamten Projekts. In Berlin war der Versuch, es als riesige
Installation auf die Beine zu stellen, gleich zweimal spektakulär
gescheitert. In Paris war in zwei Theatern im Zentrum der Stadt ein eher
matter Nachbau des stalinistischen Russland zu besichtigen (man musste ein
„Visum“ erwerben und das Handy am Eingang abgeben): Der seit einem
Jahrzehnt kreißende Dau-Berg hatte ein dann doch eher laues Lüftchen
geboren.
Vorab, dann in Paris, nun in „Natasha“ habe ich mehr als zehn Stunden des
unübersichtlichen Dau-Filmmaterials gesehen. Anfangs denkt man noch, es sei
wie mit den Blinden und dem Elefanten: Man ertastet ein seltsames Teil
eines riesigen Tiers nach dem andern und begreift erst spät, worum es sich
eigentlich handelt. Mein Fazit nach all diesen Stunden: Da ist gar kein
Elefant. Da sind vielmehr Stunden um Stunden, die weniger Längen haben, als
dass sie aus nichts als Längen bestehen.
Das Faszinosum liegt jedenfalls kaum in dem, was man auf der Leinwand
sieht: Besäufnisse, ein unüberschaubares Personaltableau, der nominelle
Protagonist Landau (vom Star-Dirigenten Teodor Currentzis gespielt) ist
eher selten im Bild. Dafür: endlos viel Gequatsche, spinnerte, teils
sadistische Experimente mit Mensch und Tier, Wissenschaftler*innen vor
Tafeln mit Formelanschriften, Streit, Schlaf und Sex, ziemlich viel Sex.
Das Faszinosum, jedenfalls für die, die eins sehen, liegt wohl darin, dass
das Projekt eine Grauzone schafft: zwischen Fiktion und realem Leben. Es
sind am Set, das sich für viele der Beteiligten wie eine zweite
Wirklichkeit anzufühlen begann, Beziehungen und Kinder entstanden.
Der Sex, den Natasha (Natalia Berezhnaya) vor unseren Augen recht
ausführlich mit dem real existierenden Eso-Wissenschaftler Luc Bigé hat,
ist also echt. Oder so ähnlich wie echt. Auch die Trinkspiele mit der
Kollegin Olga (Olga Shkabarnya) sind echt, deren Kotzen ist echt, die
Nacktheit Natashas beim Verhör ist echt, die Flasche, die sie sich vaginal
einführen muss, ist echt.
Gefilmt ist das mit Handkamera, formlos, ohne Musik. Die Schutzwand der
Fiktion ist fast nicht vorhanden. So fügen die Darsteller*innen einander
fast reales Leid zu. Die Fans sagen: Hier haben wir, zwar künstlich
hergestellt, vor der Kamera unverdünnt richtiges Leben. Ich frage mich
inzwischen: Wie muss man drauf sein, um das zu goutieren?
27 Feb 2020
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## AUTOREN
Ekkehard Knörer
## TAGS
Schwerpunkt #metoo
Stalinismus
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