# taz.de -- Wettbewerb der Berlinale: Was man zu sehen genötigt wird | |
> Bombe für Bombe: „Irradiés“ ist der gewaltvolle Film eines Überlebende… | |
> der die Betrachter*innen zu Überlebenden macht. Darf er das? | |
Bild: Ausschnitt aus Rithy Panhs Film über Massenvernichtung | |
„Irradiés“ ist ein Klagegesang auf die Menschheit. Das Pochen und Sägen d… | |
Streicher will auf der Tonspur nicht enden. Oder doch, ein einziges Mal, | |
Leichen werden in Massengräber geräumt, ein einziges Mal gibt es Schweigen. | |
„Irradiés“ ist ein Film, dem man nach einer ersten Sichtung und in 3.000 | |
Zeichen nicht gerecht werden kann. | |
Ein Film, über den ein Urteil zu fällen beinahe unmöglich ist, ein Film, | |
der von Verstrahlung berichtet, von Zerstörung, von Tod und Mord und Folter | |
und dem Schlachten von Menschen durch Menschen. | |
Der Film nimmt in Hiroshima seinen Ausgang, ist aber weit davon entfernt, | |
sich auf die Atombombe zu beschränken. In den ersten Bildern beobachtet man | |
eine Hand, die eine Art Puppenhaus baut, darin wird ein Foto platziert: ein | |
Familienbild, über das man nichts Konkretes erfährt, wie man im ganzen Film | |
über das, was man sieht, sehen muss, zu sehen genötigt wird, nichts | |
Konkretes erfährt. | |
Der Film ist ein zermalmender Ansturm der Bilder, die kein Auslassen, keine | |
Pietät, kein Wegschauen kennen und alle Zeigetabus im Handstreich | |
zertrümmern. Die Verstrahlung ist Bild für Bild, Leiche für Leiche, Bombe | |
für Bombe, Schädel für Schädel konkret. | |
Die Frage ist, was passiert, wenn das konkrete Bild an Bild und | |
Schädelstätte an Schädelstätte gereiht wird: Wird das Einzigartige nicht, | |
gegen die Intentionen des Regisseurs Rithy Panh, [1][der als Junge die | |
Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha überlebte], so allgemein und | |
abstrakt, wie er es für das maschinelle Töten behauptet? | |
## Hiroshima, Hanoi, die Todeslager S-21 und Auschwitz | |
Das Bildfeld von „Irradiés“ ist dreigeteilt. Mal sieht man dreimal | |
dasselbe, mal gehen die Bildfelder ineinander über, als wären sie eins, mal | |
stehen zwei oder drei Bilder in gespannter oder bestätigender Beziehung | |
zueinander. Fast alles ist found footage, gefundene Bilder, als Beleg, | |
konkret und abstrakt, für die Verstrahlung der Welt neben die anderen | |
Bilder platziert: Hiroshima und Hanoi, die Todeslager S-21 und Auschwitz – | |
das sind nicht Belege für eine These, sondern, eines unerbittlich auf das | |
andere folgend, Attacken auf den Betrachter. Auf der Tonspur sagt André | |
Wilms: „Man darf nicht friedlich filmen.“ | |
Der Ansturm lässt nach. Andere Bilder mischen sich zwischen das | |
vervielfältigte Grauen. Ein Buto-Tänzer (Bion) in weißer Kreide und/oder | |
Latex, schwarze Höhlen die Augenpartie. Fortsetzung des Klagegesangs mit | |
den Mitteln des Tanzes, aber auch eine Beruhigung, ein Aufbruch zum | |
Frieden. Die Bilder, der Film und wir gelangen in ein Jenseits des | |
Schreckens. | |
„Irradiés“ ist der Film eines Überlebenden, der die Betrachter*innen zu | |
Überlebenden macht. Es ist ein vielfach beglaubigter, ein erschütternder | |
Akt. Es ist aber auch eine obszöne, des Kitschs in Bild, Musik, Text | |
keineswegs entratende Gewalttätigkeit. Wie das ästhetisch und ethisch | |
angehen kann, darüber muss gesprochen werden. | |
1 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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