| # taz.de -- Iranischer Spielfilm auf der Berlinale: Wagen vor der Tür | |
| > In „Namo“ leidet ein Lehrer unter der allgegenwärtigen Kontrolle. Es ist | |
| > ein beeindruckendes Statement unabhängiger Filmemacher Irans. | |
| Bild: Bakhtiyar Panjeei in „Namo“ (The Alien) von Nader Saeivar | |
| Eine Stadt im Nordwesten des Irans: der Lehrer Bakhtiyar (Bakhtiyar | |
| Panjeei) wurde hierher versetzt. Er lebt mit Kleinfamilie nebst seinem | |
| siechen Vater in einem bescheidenen Appartement. Der hagere Mann pflegt den | |
| Vater, kümmert sich zusammen mit seiner Partnerin Sevil (Sevil Shirgi) auch | |
| um die beiden kleinen Kinder. Er ist ein freundlicher, zurückhaltender | |
| Mensch. Neben seiner Anstellung in der Schule fährt er zusätzlich Taxi. In | |
| Iran kann kaum eine Familie von einem einzigen Akademikergehalt leben. | |
| In seinem zerdellten, silbergrauen Peugeot legt Bakhtiyar die alltäglichen | |
| Wege zurück. Seine Tochter im Vorschulalter surft dabei durch die | |
| verschiedenen Radioprogramme. Kurdische Musik wechselt aus dem Off mit | |
| Regierungspropaganda. Ein erfrischender Soundmix. Es gibt auch News zu den | |
| letzten großen sozialen Streiks gegen das Mullah-Regime. Draußen: | |
| Rotorengeräusche am Himmel. Der sanfte Stoiker Bakhtiyar schaut | |
| stirnrunzelnd in das milchige Blau über der Stadt. Helikopter fliegen in | |
| Formation über sie hinweg, transportieren wohl Militärgerät für die Kriege | |
| im benachbarten Irak oder Syrien. | |
| Und am Boden, was tut sich in dieser überwiegend kurdisch- und | |
| türkischsprachigen iranischen Provinzstadt? In Bakhtiyars Straße steht | |
| eines Morgens ein ziviles Fahrzeug vor dem Haus. Es fährt nicht mehr weg. | |
| Zwei unbekannte Männer beobachten – gut sichtbar – fortan das Treiben. | |
| Bakhtiyar und die Nachbarn holen weiter ihr Lavash, das dünne und täglich | |
| frisch gebackene Fladenbrot. Aber was wollen die Männer im Auto? Gehören | |
| sie zum Geheimdienst, und wegen wem sind sie da? Völlig unklar. Die | |
| Anwesenheit der beiden Männer im Auto versetzt die Anwohner in zunehmende | |
| Unruhe. | |
| Private Tribunale werden einberufen, auf dem Teppich der | |
| Nachbarschaftsmoschee sitzen die männlichen Anwohner. Sie haben den | |
| Kontaktbereichs-Islamisten eingeschaltet. Der sagt, Gebetskette in der | |
| Hand: Keine Panik, „wir leben ja nicht im Dschungel“. Und lenkt ebenfalls | |
| den Verdacht in Richtung Bakhtiyar, den kürzlich Zugezogenen. Der versteht | |
| zwar Persisch besser als Kurdisch, aber Verdacht ist nun mal Verdacht. | |
| ## Die Augen der Stellvertreter Gottes sind überall | |
| Doch auch der cholerische Elvis-Verschnitt, der Sohn des Einzelhändlers, | |
| macht keine gute Figur. Der Mann befindet sich am Rande des | |
| Nervenzusammenbruchs, sieht aus wie ein Rockstar – und ist vielleicht | |
| drogensüchtig? Auch der biedere islamische Bankangestellte wird immer | |
| nervöser. Hat er für die Ausbildung seines Sohnes in den USA unrechtmäßig | |
| Geld abgezweigt? Vorsicht, die Augen der Stellvertreter Gottes auf Erden | |
| sind überall. | |
| Nader Saeivars Debütfilm „Namo“ (The Alien) ist ein bezeichnender Beitrag | |
| für die gegenwärtige Stimmung im Iran. Offene Kritik ist filmisch kaum | |
| auszudrücken, vieles muss beiläufig, lakonisch und indirekt inszeniert | |
| werden. Iranische Filmemacher müssen sich fortwährend neue Taktiken | |
| einfallen lassen, um die staatliche Zensur zu überlisten. | |
| Ein besonderer Meister in dieser Überwindungsdisziplin ist der [1][weltweit | |
| bekannte Regisseur Jafar Panahi]. Er hat zusammen mit Regisseur Saeivar das | |
| Drehbuch für „Namo“ geschrieben. Panahi gelang es – trotz 2010 | |
| ausgesprochenem Berufsverbot und zwischenzeitlicher Haftstrafe – immer | |
| wieder heimlich Essay-Filme zu produzieren und außer Landes zu schmuggeln. | |
| Seine [2][realsatirische Doku-Fiktion „Taxi Teheran“] gewann 2015 den | |
| Goldenen Bären der Berlinale. | |
| ## Wer anständig bleibt, wird klein gemacht | |
| Nader Saeivars „Namo“ zeigt sehr eindrücklich, wie das | |
| paternalistisch-religiöse Kontrollregime das heutige Alltagsleben im Iran | |
| bestimmt und terrorisiert. Der Wagen vor der Tür führt zu Ehekrisen, | |
| vergiftet die sozialen Beziehungen. Wer versucht, anständig zu bleiben, | |
| wird klein gemacht. Als Bakhtiyar einem schummelnden Jungen in der Schule | |
| die gute Bewertung verweigert, zischt ihm dieser auf dem Schulflur eine | |
| Bedrohung ins Ohr. Auch der Rektor bedrängt ihn, ein Auge zu zudrücken. Der | |
| Vermieter kündigt ihm aus heiterem Himmel die Wohnung. | |
| Bakhtiyar politisiert nicht. Er handelt im Alltäglichen lediglich nach | |
| gewissen humanistischen Werten und Grundsätzen. Der islamischen Bürokratie | |
| sind diese gleichgültig. Beim Verhör lugt der böse Blick Khomeinis von | |
| einem Poster hinter Bergen von Aktenordnern hervor. Der Verhörbeamte | |
| parliert im väterlichen Ton, während der entnervte Bakhtiyar erklärt, dass | |
| sein dementer Vater im Sterben liegt und von diesem Kurden keine Gefahr für | |
| die Islamische Republik ausgeht. Ein Malermeister stapft durch die Szene. | |
| Er räumt die reichlich bröckligen Wände frei, nimmt das Chomeini-Plakat ab. | |
| Er sagt dem Verhörbeamten, er könne diese Wände nicht streichen, er müsse | |
| sie erst neu verputzen. Ach was, antwortet dieser, streich einfach drüber. | |
| Die Einfalt regiert. | |
| 26 Feb 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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