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# taz.de -- Kanadischer Film im Berlinale-Forum: Gläsern wirkt ihre Haut
> Deragh Campell beim Erröten zuschauen: In „Anne at 13,000 ft“ liest der
> kanadische Regisseur Kazik Radwanski alles aus den Gesichtern.
Bild: Deragh Campbell als Anne im Wechselbad der Gefühle
Es kommt ein Moment, an dem kann Anne (Deragh Campbell) nicht mehr.
Psychisch und physisch erschöpft, hockt sie in einem Kreis von Kindern und
ist gezwungen, den Schein der wachen Erzieherin zu wahren. Als sie sich in
eine Kammer zurückzieht, den Kopf gegen ein paar mit Spielsachen befüllte
Plastikbehälter gelehnt, ist der Punkt des Zusammenbruchs in greifbarer
Nähe.
Der kanadische Regisseur Kazik Radwanski hat Anne in seinem Film „Anne at
13,000 ft“, der im Forum der Berlinale zu sehen ist, bis hierhin begleitet.
Sein Blick ist kein sadistischer gewesen und auch kein übermäßig
dramatischer. Was Radwanski getan hat, ist so einfach wie unüblich: Er hat
jegliche Distanz überwunden. Und zwar ganz buchstäblich. Die Bildgestaltung
Nikolay Michaylovs, mit dem Radwanski bereits zuvor kollaborierte, ist die
einer permanenten Großaufnahme.
Dabei geschehen zwei Dinge: Die Umgebung löst sich auf, sodass man die
Orientierung verliert. Und es sind kleinste Veränderungen von den
Gesichtern abzulesen. Bei Anne passiert das im Sekundentakt – Kazik
Radwanksi beschreibt die 27-Jährige im Wechselbad der Gefühle.
Dass es die Schauspielerin Deragh Campbell ist, mit der er nach eigener
Aussage seine bislang „ambitionierteste Arbeit“ realisieren würde, ist
kein Zufall. Seit 2013 stand sie unter seiner Beobachtung, als sich beide
erstmals beim Toronto International Film Festival trafen. 2013 war auch das
Jahr, in dem Campbell in der Rolle der Taryn in Matthew Porterfields „I
Used to Be Darker“ für Aufsehen sorgte. Wie der ganze Film, der von einer
Familie in Baltimore handelt, zu der sich die jugendliche Ausreißerin Taryn
verirrt. Zur Musik Kim Taylors wird dort in Ruhe verhandelt, in welchem
Verhältnis alle zueinander stehen.
## Das Glück über den Wolken
[1][Seitdem ist Campbell in oftmals in eher kleinen Produktionen
aufgeblitzt]. Nathan Silver machte sie zu Lucy im auf Video gefilmten
„Stinking Heaven“ (2015). Hier führte sie ein eher tristes Dasein in einem
Haus, in dem sich eine Gruppe Personen am „sober living“ versuchte und
Kombucha in der Badewanne braute. In [2][Julian Radlmaiers „Selbstkritik
eines bürgerlichen Hundes“] (2017) war sie die Camille.
Und nun Anne. Anne, die ihr Glück über den Wolken sucht. Erstmals, als
Freundin und Kollegin Sarah ihren Junggesellinnenabschied mit einer Runde
Skydiving begeht. Ein freudiges Glucksen entfährt Anne da, und man fragt
sich, ob es vielleicht dieses so außergewöhnliche wie freundliche Geräusch
war, dass dieses im Grunde unspektakuläre Leben so destabilisierte.
Ohnehin sind es die unscheinbaren Ereignisse, für die sich Kazik Radwanski,
der zu den Hauptakteuren der New Canadian Film Movement zählt,
interessiert. In „Cutaway“, einem Kurzfilm von 2014, erzählte er eine
Tragödie einzig über die gefilmten Hände. Sie tippten Nachrichten in ein
Telefon, verrichteten Bauarbeiten, waren verletzt und hielten eine
Stofffigur.
Radwanskis Ansatz ist nicht neu, Robert Bresson konnte auf ähnliche Art
vermitteln. Dennoch faszinieren Radwanskis ästhetische Entscheidungen. In
„Anne at 13,000 ft“ ist es die für Deragh Campbells Gesicht. Wie gläsern
wirkt ihre Haut, errötet schnell und gewährt wenig Schutz vor der
Außenwelt.
## Toronto auf die filmografische Landkarte bringen
Von dort kommt Matt, gespielt von Matt Johnson („Operation Avalanche“),
selbst geachteter Protagonist der Filmszene Torontos, den Anne auf der
Hochzeit Sarahs kennenlernt. Ein solide wirkender Typ, der die Lage für die
Kindergärtnerin aber nicht wirklich besser macht. Auch er ein waschechter
Torontoer.
Ohnehin nimmt die Stadt bei Radwanski eine prominente Stellung ein. Denn
nicht zuletzt ist sie es, am nordwestlichen Ufer des Ontariosees gelegen,
die er seit geraumer Zeit wieder auf die filmografische Landkarte bringt.
„Ich erzähle gern Geschichten, die mit dem wahren Toronto zu tun haben“,
sagt er. „Ich weiß nicht ganz genau, was sie sind, aber ich weiß sicher,
was sie nicht sind. Ich möchte keine großen Geschichten auf diese Stadt
stülpen.“ Eine große Geschichte ist „Anne at 13,000 ft“ auch nicht. Eine
sehr eindringlich und großartig erzählte aber allemal.
21 Feb 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Carolin Weidner
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