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# taz.de -- Berlinale drei Jahre nach #metoo: Im falschen Film
> Auf der Berlinale laufen zwei „Dau“-Filme. Frauen werfen dem Regisseur
> vor, seine Macht missbraucht zu haben. Er wird aber als Genie gefeiert.
Im Jahr 2011 fährt ein Reporter für das Magazin GQ in die ukrainische Stadt
Charkiw. Dort besucht er ein Filmset oder das, was aus einem Filmset
geworden ist: eine Parallelwelt, in der Menschen seit Jahren leben und
Berufen nachgehen. Bevor er diese Welt betreten darf, bekommt er ein
Kostüm, einen neuen Haarschnitt und Make-up. Worte wie „Kostüm“ und
„Make-up“ sind von da an aber verboten, genau wie „Dreharbeiten“ oder
„Szene“ – die Welt, in die der Reporter eintaucht, soll so echt erscheinen
wie möglich. Der Reporter hält sich an die Sprachregelung. In seinem Text
beschreibt er, wie er sich auch an die anderen Regeln des Ortes halten
wird. Ohne es zu bemerken, wird er Teil des Spiels, Teil der Welt eines
„Wahnsinnigen, der das Filmteam zwingt, Kleidung aus der Stalinzeit zu
tragen, Essen aus der Stalinzeit zu essen und mit Geld aus der Stalinzeit
bezahlt zu werden“.
Dieser „Wahnsinnige“ ist der Regisseur des Films: Ilja Chrschanowski. 2005
begann er an seinem gigantischen Projekt namens „Dau“ zu arbeiten. Damals
war er, der in eine russische Künstlerfamilie geboren wurde, 29 Jahre alt
und hatte erst einen Film gemacht. Trotzdem bekam er die Förderung, unter
anderem vom Medienboard Berlin-Brandenburg und von Arte.
Am 26. Februar feiern zwei Dau-Filme Premiere auf der Berlinale, „DAU.
Natasha“ läuft im Wettbewerb, „DAU. Degeneratsia“ in der Kategorie
Berlinale Special. Roter Teppich, Blitzlicht, ganz große Kunst. Dass vor
allem Frauen dem Regisseur Ilja Chrschanowski Machtmissbrauch und
übergriffiges Verhalten vorwerfen, wurde hierzulande bislang kaum
diskutiert. Wie kann das sein, drei Jahre nach #Metoo? Die Schauspielerin
Hanna Schygulla wollte nicht mehr Teil des Projekts sein, nachdem sie eine
Szene gesehen hatte, in der eine Frau brutal verhört wird. Eine Casterin,
die in Berlin für Dau arbeitete, wurde vom Regisseur über ihr
Sexualverhalten befragt. Ist die Zeit männlicher Regisseure, die alles
dürfen, doch nicht vorbei?
Die Ursprungsidee von Chrschanowski war es, die Biografie des sowjetischen
Physiknobelpreisträgers Lew Landau zu verfilmen. Aber Chrschanowski kam
bald davon ab. Er wollte keinen konventionellen Film machen, er wollte
keine Schauspieler, sondern echtes Leben zeigen: echten Schmerz, echte
Liebe, echten Sex. Und echte Gewalt – darf Kunst das? Und wo sind die
Grenzen?
Chrschanowski ließ auf 12.000 Quadratmetern eine sowjetische Stadt
errichten, in der drei Jahre lang Menschen lebten. Alles war minutiös
nachgebaut: Die Leute lebten in Gemeinschaftswohnungen, die Möbel
entsprachen der Zeit ebenso wie kleinste Details. Steckdosen, Unterhosen,
Damenbinden, sogar der Klang der Klospülung wurde angepasst. Aus einem Film
über den Physiker Landau wurde Dau – ein Projekt, von dem niemand wusste,
wohin es führen würde. Nicht einmal der Regisseur.
Die Bewohner der Stadt gingen einer Arbeit nach, es gab eine eigene
Zeitung, die über politische Ereignisse der Zeit, in der gerade gespielt
wurde, berichtete und über Ereignisse aus der Dau-Stadt. Tausende
Laiendarsteller lebten in Chrschanowskis Welt, wochen-, monate- oder
jahrelang. Köche spielten Köche, Wissenschaftler waren Wissenschaftler,
Prostituierte waren Prostituierte, und Nazis waren Nazis. Ziel war es, so
nahe am Menschen und seinen Abgründen zu sein wie möglich. 400
Wissenschaftler und Künstler aus aller Welt waren an dem Projekt beteiligt:
unter anderem der Physiknobelpreisträger David Gross, die
Performance-Künstlerin Marina Abramović, der Regisseur Romeo Castellucci,
Robert Del Naja von der Band Massive Attack und der Musiker Brian Eno.
Die deutsche Kameralegende Jürgen Jürges drehte drei Jahre lang. Das
Ergebnis: 700 Stunden Material, aufgenommen an 180 Tagen – das heißt: Oft
wurde gar nicht gefilmt, Chrschanowski ließ das Leben in seiner Stadt teils
ein halbes Jahr lang einfach laufen. Die Bewohner sollten sich kennenlernen
und Beziehungen aufbauen. Die Idee war: Wenn du zwei Jahre lang dieselbe
Toilette putzt, wird es gefilmt anders aussehen, als wenn du es zum ersten
Mal machst. Wenn du mit jemandem schläfst, den du wirklich begehrst, wird
es anders aussehen als gespielt.
Chrschanowski sagt im Interview mit der taz: „Die Sache mit der Realität
und der Fiktion ist sehr kompliziert. Auf der einen Seite ist alles bei dem
Projekt Realität, es sind echte Menschen und echte Gefühle. Auf der anderen
Seite ist alles Fiktion, weil es ein Filmset ist, es gibt Kameras, Make-up,
Technik. In dieser Welt bist du du, aber irgendwie auch nicht, du
experimentierst, und alles kann passieren.“ Weltweit ließen sich viele für
dieses Projekt begeistern. Gegen echtes Putzen und echten Sex gibt es wenig
einzuwenden. Nur: Wie ist es mit echtem Machtmissbrauch?
Chrschanowskis Projekt Dau sollte schon 2018 nach Berlin kommen. Der
Regisseur wollte einen Teil der Mauer wieder aufbauen und eine kleine,
zeitversetzte Welt errichten, in der Besucher ein Gefühl für ein
totalitaristisches Regime bekommen. Berlins Bürgermeister Michael Müller
fand die Idee „spannend“, Kulturstaatsministerin Monika Grütters sagte, Dau
könne ein „Weltereignis“ werden. Lars Eidinger, Iris Berben, Tom Schilling
und viel weitere Prominenz unterschrieben einen offenen Brief, der Dau
unterstützte. Tom Tykwer sagte in einem Interview: „Ich bin wirklich selten
in meinem Leben von etwas so begeistert gewesen.“ Tykwer hatte in Paris
eine Installation von Dau besucht. Denn dorthin war das Projekt gezogen,
nachdem es in Berlin wenige Tage vor dem geplanten Start abgesagt wurde –
aus Sicherheitsgründen. Von Paris zog es weiter nach London.
Carlo Chatrian, der neue künstlerische Direktor der Berlinale, holt Dau nun
doch nach Berlin. In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur sagte er,
dass er von den Dau-Filmen „unglaublich begeistert“ war, dann „große
Bedenken“ hatte und auch „ein wenig Angst vor diesen wuchtigen
Bilderwelten“. Man sehe den Filmen an, dass Chrschanowski „an die Grenzen
gegangen ist. Er hatte unfassbar viel Geld zur Verfügung. Keiner weiß,
woher das eigentlich kommt, und vielleicht wollen wir das gar nicht
wissen.“ Dass keiner weiß, woher das Geld kommt, stimmt so nicht. Der
Tagesspiegel berichtete schon im August 2018 darüber, kurz darauf die
Süddeutsche Zeitung: Auch der Regisseur spricht offen darüber, dass das
Geld für Dau von einem Oligarchen namens Sergei Adonjew stammt. Der ist auf
undurchsichtige Art und Weise reich geworden. Nachdem die öffentlichen
Förderungen für Dau aufgebraucht waren, flossen private Gelder, und sie
waren scheinbar endlos.
Was genau in Chrschanowskis Welt passiert ist, in seinem stalinistischen
Städtchen und auch bei den Vorbereitungen zum Mauerbau in Berlin, wurde in
russischsprachigen Medien viel diskutiert. Auch in Frankreich gab es eine
Debatte über die Hintergründe des Films. Mehrere Menschen, vor allem
Frauen, werfen Chrschanowski vor, eine Art Kult getrieben zu haben, er soll
die Rolle des Regisseurs für die eines Diktators aufgegeben haben.
Was Carlo Chatrian von der Berlinale sagt, stimmt: Chrschanowski ist „an
die Grenzen gegangen“. Und er hat sie überschritten. Wieder feiert die Welt
ein männliches Genie, einen Exzentriker, die absolute Freiheit der Kunst.
Jürgen Jürges sagte in einem Interview mit der Berliner Zeitung: „Was mich
mit am meisten fasziniert hat, war die von Ilja ausgehende Obsession durch
das Projekt und seine Rigorosität. Und sein Charisma. Es wurden keine
Kompromisse gemacht.“
„Ilja ist besessen von Sex und Gewalt“, sagt S., eine junge Frau, die in
Berlin für Dau gearbeitet hat. Wie alle an dem Projekt Beteiligten hat sie
eine Schweigeerklärung unterschrieben und kann ihren Namen nicht
preisgeben. Der Redaktion ist er bekannt. Bei einem Treffen in einem
Berliner Café erzählt sie von ihren Erlebnissen. S. war Streetcasterin, sie
sollte Menschen finden, die die parallele Welt in Berlin bewohnen würden.
Als sie anfing, für Dau zu arbeiten, musste sie sich zusammen mit den
anderen Streetcastern Dau-Material aus der Ukraine ansehen, „9 Filme an
zwei Abenden“. Nach dieser Einführung in die Dau-Welt zogen die
Streetcaster los. S. berichtet: „Das Ganze basiert darauf, dass anfangs
niemandem klar ist, was man tun soll. Alles ist offen, aber es gibt große
Erwartungen: Du sollst besonders sein, dich öffnen, verletzlich sein. Das
Motto war: Wie weit kannst du gehen?“
S. ging in Bars und später in soziale Zentren, um Menschen zu finden, die
Erfahrungen mit dem Tod, mit Suizid oder psychischen Krankheiten hatten
„oder irgendeine Nähe zu etwas Traumatischem“. Das war die Energie, die
Chrschanowski wollte. Nach etwa einem Monat hatte S. das Gefühl, etwas
Falsches zu tun. „Wir waren so was wie Therapeuten von Fremden, wir
gewannen ihr Vertrauen, ihre Geschichten und wussten aber nicht, wohin
wir diese Leute treiben.“ Manche machten den Job für Geld, S. fand ihn
anfangs interessant. Außerdem war da dieses Versprechen, Teil von etwas
Besonderem zu sein, auch wenn man gar nicht wusste, was genau das war.
S. sagt, dass sie nach etwa einem Monat bei Dau ein Einzelgespräch mit
Chrschanowski hatte. Sie trafen sich in der Dau-Kantine in der Nähe der
Volksbühne, dort war alles schon nachgebaut im sowjetischen Stil. „Das
Gespräch war sehr unangenehm. Er sitzt da und raucht und schaut dich von
oben bis unten an. Dann stellt er plötzlich sehr persönliche Fragen, zum
Beispiel: Ich sehe, dass du vielleicht schon mal Sex mit Frauen hattest.
Stimmt das?“
S. sagt, für Männer war Chrschanowski einfach ein toller, erfolgreicher
Typ. Ihnen seien diese Fragen zum Thema Sex nicht gestellt worden. „Sie
haben diese Energie natürlich auch nicht gespürt, wenn du da reinkommst und
der Typ sitzt so Harvey-Weinstein-mäßig da.“ Alle Frauen, die dort
gearbeitet hätten, seien „konventionell schön“ gewesen. S. glaubt, sie
wurden nach Sexyness ausgewählt. „Ilja spielt sehr mit den Rollen des
starken Manns und der sensiblen Frau. Und du bist extra sensibilisiert,
weil du ständig nach innen gehen musst und dich hinterfragen: Mache ich das
richtig? Er nutzt das aus. Er ist immer etwas flirty. Ich bin Feministin,
aber es war schwer, sein Spiel nicht mitzuspielen.“
Chrschanowski bestreitet nicht, seinen Mitarbeiterinnen sehr persönliche
Fragen auch zum Thema Sex gestellt zu haben – „weil es bei Dau um
Existenzielles geht. Du musst bereit sein, dich in diese Zone zu begeben –
oder eben nicht. Das ist kein normaler Film, unser Material ist das Leben.
Und das musst du verstehen, wenn du mitmachen willst“, sagt er.
„Bei so gottähnlichen Figuren ist es so, dass man ihnen nahe sein will, was
beweisen will und sie gleichzeitig hasst“, beschreibt S. ihr Verhältnis zu
Chrschanowski zum damaligen Zeitpunkt. Sie war hineingerutscht in das, was
sie „Kult“ nennt. „Jeder wollte, dass Ilja ihn mag. Jeder wollte zeigen,
dass er besonders ist. Ich weiß, das ist schwer nachvollziehbar. Es fühlt
sich an wie eine andere Welt, alles ist so surreal, und irgendwann bist du
da drin. Du bist klein, aber Teil von etwas Großem – wie in der
Sowjetunion. Ilja ist psychologisch klug, er kann Knöpfe drücken.“ S. steht
Wasser in den Augen, während sie erzählt.
Drei Monate nachdem S. angefangen hat, für Dau zu arbeiten, findet eine
Party statt. Mit russischem Essen und viel Wodka. „Alle waren total
betrunken“, sagt S. „Am Morgen danach wurden fast alle gekündigt, die mit
mir angefangen haben, auch ich. Einfach so.“ S. beschreibt diese Taktik von
Chrschanowski, wie sie mehrfach auch in russischen Medien beschrieben
wird: Menschen werden in Wellen angestellt und ohne Begründung wieder
rausgeschmissen. „Wer nach der Kündigung zu ihm kam und sagte: ‚Dieses
Projekt ist mir wirklich wichtig, es ist Teil meines Lebens‘, der durfte
vielleicht bleiben“, sagt S.
S. erlebte all das als verwirrenden Sog, in dem sie die Kontrolle verlor.
Bis sie das Projekt verließ. „Es hat mich destabilisiert. Ich hatte danach
krasse Angstzustände und konnte ein paar Wochen lang nicht so viel machen,
ich habe viel geweint.“ Jetzt sei sie froh, darüber zu erzählen. Es sei
gut, wenn Menschen davon erführen, „obwohl mir bewusst ist, wie schwer es
ist, das zu erklären, weil es wirklich Gehirnwäsche ist“. Zu den Dau-Filmen
auf der Berlinale wird S. nicht gehen.
S. sagt, dass in dem Filmmaterial, das sie zu Beginn ihrer Arbeit für Dau
gesehen hat, eine Vergewaltigung vorkam. Eine andere Mitarbeiterin habe
deswegen gekündigt. „Es ist bei dem Projekt immer die Frage, ob es
dokumentarisch ist oder nicht. In der Szene, die ich gesehen habe, war
wirklich nicht klar, ob die Frau das wollte oder nicht. Das war auch meine
Erfahrung bei dem Projekt: Es ist sehr schwer, Nein zu sagen und zu
verstehen, wo für dich die Grenze liegt.“ S. glaubt, Chrschanowski gehe zu
weit. „Ich habe ihn gefragt: Warum ist das ganze Ding so riesig geworden?
Und er sagte: Es ist einfach so passiert. Dann konnte ich nicht aufhören.“
Das unabhängige russische Kulturmagazin Colta veröffentlichte 2010 eine
Reihe von Interviews mit Menschen, die am Set in Charkiw gearbeitet haben.
Sie erzählen von einem Mann, der irgendwann seinen Film aus dem Blick
verloren hat und vor allem eines wollte: weitermachen. Geld war ja da, und
in der Ukraine war ohnehin alles günstig.
Auf colta.ru liest man von 16-Stunden-Tagen, Jobs, die angeboten und sofort
wieder entzogen wurden, willkürlichen Beförderungen, von schlechter
Bezahlung, die es mal gab, mal nicht, von einem generellen Chaos und einem
Chef, der absolute Ergebenheit forderte. In anderen russischsprachigen
Medien ist die Rede von etwas, was Sklaverei ähnelt, auch von „Kult“ und
„Sekte“.
Eine Produktionsassistentin, deren Name mit V. abgekürzt ist, erzählt auf
colta.ru: „Es scheint mir, dass es völlig romantische Ideen von diesen
Dreharbeiten gibt. Dieses Projekt ist das Spiel einer Person – Ilja. [...]
Das ist ein Projekt, bei dem man nicht schläft, nicht isst und nicht
bezahlt wird. Nur wer sich sehr schuldig fühlt, kann das lange ertragen.“
Die Produktionsassistentin berichtet außerdem, dass Chrschanowski es
ausgenutzt habe, dass in der Gegend um Charkiw große Armut herrscht. Die
Stadt musste sich nach Chrschanowski erholen – „wie nach einem Krieg“,
erzählt V. Sie beschreibt die Welt, die dort entstanden war, als „sehr
negativ“.
In der zu Beginn dieses Texts erwähnten Reportage in der amerikanischen GQ
sagt ein ehemaliger Mitarbeiter von Dau dem Reporter: „Hier zu arbeiten
ist, wie der Typ zu sein, der getötet und gegessen werden will und dann den
Irren findet, der ihn tötet und isst.“ Der GQ-Reporter berichtet von Yulia,
einem „typischen Fall“. Einer schlanken, schönen Frau, die für ein
Vorstellungsgespräch in Charkiw war, sie hatte sich für einen der
„scheinbar endlosen“ Posten der Regieassistentinnen beworben. Was genau der
Job war, war unklar.
## Nackt auf einem Stuhl
Yulia wartete laut GQ sechs Stunden, dann kam Chrschanowski. Yulia sagte:
„Ich habe den ganzen Tag auf Sie gewartet“ – und Chrschanowski: „Ich ha…
mein ganzes Leben auf dich gewartet.“ Ein Gespräch über Kunst folgte, dann
sollte Yulia dem Jahr 1952 entsprechend angezogen werden. Die Frisur allein
dauerte zwei Stunden. Danach sprachen Chrschanowski und Yulia weitere zwei
Stunden, bis drei Uhr nachts, privat. Es ging schnell um Sex. Chrschanowski
fragte, wann Yulias erstes Mal war, ob sie einen Fremden in einer Bar
ansprechen und mit ihm Sex haben könne, obwohl sie nur seinen Namen kennt.
Hat sie Freundinnen, die Prostituierte sind?
Yulia sagte dem GQ-Reporter: „An dem Punkt hatte ich zwei Nächte nicht
geschlafen, ich wollte nur, dass es vorbei ist.“ Als Yulia Chrschanowski am
nächsten Morgen sah, habe sie unkontrolliert zu zittern begonnen. Kurz
darauf ließ ein Assistent sie wissen: „Du und Ilja, ihr habt sehr
unterschiedliche Perspektiven auf das Leben.“ Yulia musste nach Hause
fahren. Der GQ-Reporter ist sich sicher, dass es viele Dutzende Yulias
gegeben hat. „Manche waren einen Tag da, andere einen Monat. Manche hatten
Spaß, andere posttraumatische Belastungsstörungen.“
In den Dau-Filmen geht es um menschliche Abgründe, tiefe Gefühle und
Exzesse. Die Berlinale kündigt „DAU. Natasha“ an als „eine
provokativ-grenzüberschreitende Erzählung über den Kampf um Macht und
Liebe, als Analyse des Totalitarismus“, als „radikales Kino zwischen
Fiktion und Realität“.
Die Hauptfigur Natasha wird in einer Szene von einem KGB-Mann verhört, sie
sitzt nackt auf einem Stuhl und wird gezwungen, eine Flasche in ihre Vagina
einzuführen – „eine „unsanfte“ Erfahrung“, heißt es dazu im
Berlinale-Ankündigertext, „für Natasha (und für uns)“.
Der Mann, der Natasha verhört, war wirklich ein hohes Tier beim KGB, er hat
in Lagern in Sibirien gearbeitet und ein Gefängnis in Charkiw geleitet. Die
Frage ist, wo zwischen Realität und Fiktion sich diese Szene abgespielt
hat. Beantworten kann das nur Natasha Berezhnaya, die die Hauptrolle
„spielt“.
Die taz konnte bislang nicht mit ihr sprechen. In einem Interview, das in
der Pressemappe zum Film abgedruckt ist, antwortet sie auf die Frage, ob
sie während ihrer Zeit bei „Dau“ eine Rolle gespielt habe: „95 Prozent d…
Zeit war das ich. Nach dem Filmen musste ich nicht in mein echtes Ich
wechseln. Manchmal war es beängstigend, manchmal schmerzhaft, manchmal hat
es Spaß gemacht und manchmal war es böse.“
Chrschanowski weist jegliche Gewaltvorwürfe zurück, sagt aber auch:
„Emotional ist Natasha in dieser Szene ehrlich, die Emotionen sind
Realität, aber physisch ist das keine Realität. Sie weiß, dass ihr nicht
wirklich etwas passieren kann.“ Kameramann Jürgen Jürges beschreibt die
Szene in einem Interview der Pressemappe so: „Natürlich ist das keine
angenehme Szene, aber wir konnten sehen, dass Azhippo [der Folterer;
Anmerkung der Redaktion] sein Handwerk komplett verstand, wie er das Verhör
führte war böse, fand ich. Eine sehr schwierige Szene, fand ich. Und
Natasha, die so unter seinem Einfluss stand, sozusagen... sie hat nie ihre
Würde verloren.“
Auch wenn man davon ausgehen will, dass Natasha Berezhnaya, eine Frau die
am Markt von Charkiw gecastet wurde, die Szene „spielte“, stellt sich die
Frage: Ist es in Ordnung, eine Frau, die in ihrem Leben nichts mit Film zu
tun hatte und schon einige Zeit in einer Parallelwelt verbracht hat, einem
professionellen KGB-Folterer entgegenzusetzen? War Natasha Berezhnaya in
diesem Moment psychisch und emotional in der Lage, eine freie Entscheidung
zu treffen?
Chrschanowski zeigt Gewalt im Namen der Kunst. Vielleicht hätte er die
Beteiligten schützen müssen, auch vor dem eigenen Kontrollverlust.
Als Hanna Schygulla den Film in Paris sah, verließ sie bei der Szene mit
der Flasche den Raum. Laut Le Monde hatte Schygulla das Dau-Projekt vorher
interessant gefunden. Nach der Szene wollte sie Natasha aber, anders als
bereits vereinbart, nicht mehr synchronisieren. „Ich wollte nicht sehen,
wie diese Frau, Natasha, vom KGB gequält wird“, sagte Schygulla zu Le
Monde. Auch eine andere französische Schauspielerin habe den Anblick von
Natasha bei dem Verhör nicht ertragen können und die Zusammenarbeit
verweigert. „Das kann ich nicht zulassen. Diese Frau leidet wirklich!!“,
soll sie geschrien haben. Chrschanowski habe geantwortet: „Scheiß drauf,
sie ist nur eine Prostituierte, die ich in einem BDSM-Bordell gefunden
habe.“
Chrschanowski wird auch vorgeworfen, Projektteilnehmer manipuliert zu
haben, Sex miteinander zu haben. In den Interviews mit der
Produktionsassistentin und anderen auf colta.ru wird das erwähnt.
Im Film beginnt Natasha eine Affäre mit einem Ausländer – deshalb wird sie
später vom KGB verhört. Der Ausländer ist der französische Astrologe Luc
Bigé. Bigé sagte gegenüber Le Monde: „Als ich Natasha kennenlernte, fühlte
ich mich zu ihr hingezogen, wir hatten viel Freizeit, und eines Tages
betranken wir uns, und ich hatte Sex mit ihr. Am nächsten Tag wachte ich
völlig krank auf und erinnerte mich an nichts. Da wurde mir klar, dass ich
absichtlich betrunken gemacht worden war.“ So sei Ilja vorgegangen. „Es gab
kein Drehbuch, aber einen Plan. Alles war gesteuert. Aber ich bereue es
nicht. Der Film ist anstößig, aber mich persönlich hat er von Komplexen
befreit.“
Ein anderer Vorfall macht deutlich, dass es Chrschanowski irgendwann
weniger um Realität als um Provokation ging. Die letzten Szenen, die in
Charkiw 2011 gedreht wurden, waren: eine große Party am Institut des
Physikers Landau. Junge Männer kommen, töten die Wissenschaftler,
schlachten ein Schwein und zerstören das Institut.
Das Schlachten des Schweins ist echt. Die jungen Männer werden gespielt von
echten Neonazis, unter ihnen der Russe Maxim Martsinkewitsch; er war
Anführer der rechtsextremen Kampfgruppe „Format 18“ und der homophoben
Gruppe „Occupy Pedophilia“. Martsinkewitsch sitzt gerade wieder wegen
Extremismus im Gefängnis. Laut Le Monde sollen er und seine Freunde den
homosexuellen Assistenten von Marina Abramović geschlagen und gedemütigt
haben. Der Regisseur bestreitet das.
In einem Interview, das auf YouTube zu sehen ist, erzählt Chrschanowski,
warum diese jungen Männer Neonazis sein mussten. Anfangs hatte er dafür
junge Wissenschaftler vorgesehen, es sollte eine Art Generationswechsel
sein, die Jungen werfen die Alten gewaltsam aus dem Institut. Chrschanowski
hat also echte junge Wissenschaftler gecastet. „Aber sie hatten keine
Energie“, sagt er. Er ersetzte sie durch brutale Nazis.
Carlo Chatrian, der Direktor der Berlinale, findet am Freitag Zeit für ein
Statement. Bezüglich der Gewaltvorwürfe schreibt er: „Diese Vorwürfe kenne
ich nicht. Wir haben die Produktion darauf angesprochen, aus deren Sicht
ist dies nicht passiert.“
22 Feb 2020
## AUTOREN
Viktoria Morasch
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Lesestück Recherche und Reportage
Machtmissbrauch
Ukraine
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Schwerpunkt #metoo
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