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# taz.de -- Prozess gegen Harvey Weinstein: Kurz vor der Wahrheit
> Nach den Schlussplädoyers ist der inhaltliche Teil des Prozesses vorbei,
> nun muss die Jury entscheiden. Welcher Erzählung wird sie glauben?
Bild: Die Gehhilfe von Weinstein war auch ein Thema im Prozess
Berlin taz | Jetzt heißt es: abwarten. Die Staatsanwaltschaft und
Verteidigung können nun nichts mehr tun. Sämtliche Beweismittel wurden
eingereicht, alle Zeug:innen haben ausgesagt, die Schlussplädoyers wurden
gehalten. Frühestens ab Dienstag wird sich die Jury zusammensetzen, um zu
entscheiden: Ist [1][Harvey Weinstein] schuldig oder nicht?
[2][Der Prozess, der die letzten sechs Wochen] am obersten Gericht von New
York stattgefunden hat, zog internationales Interesse auf sich.
Journalist:innen berichteten, wie sie stundenlang vor dem Gerichtsgebäude
warteten, um einen Platz zu ergattern; vor dem Gebäude demonstrierten
Aktivist:innen, die mediale Berichterstattung war nicht nur in den USA
enorm.
Denn kein Gesicht ist so sehr mit der MeToo-Bewegung verbunden wie das von
Harvey Weinstein. Seit der Berichterstattung von Jodi Kantor und Megan
Twohey [3][am 5. Oktober 2017 in der New York Times] steht Weinstein für
ein System von Machtmissbrauch. Deswegen geht es in diesem Prozess auch
nicht nur um den Urteilsspruch über einen einzelnen Mann, sondern auch um
die Frage, wie sehr mutmaßlich Betroffene dem Rechtssystem vertrauen können
– und wie es überhaupt mit MeToo weitergeht.
In den letzten zwei Jahren haben mehr als 90 Frauen Vorwürfe gegen
Weinstein erhoben. Doch viele der mutmaßlichen Taten sind nach New Yorker
Recht verjährt oder haben in anderen Staaten stattgefunden, [4][Dutzende
Frauen haben sich außergerichtlich mit Weinstein geeinigt]. Deswegen werden
seit dem 6. Januar nur zwei Fälle vor Gericht verhandelt. Miriam Haleyi,
eine ehemalige Produktionsassistentin der Weinstein Company, wirft dem
Filmmogul vor, sie 2006 in seinem New Yorker Apartment zum Oralverkehr
gezwungen zu haben.
## Verhalten eines Raubtieres
Die Schauspielerin Jessica Mann beschuldigt Weinstein, sie 2013 in einem
Hotelzimmer vergewaltigt zu haben. Weinstein weist die Vorwürfe zurück und
spricht in beiden Fällen von einvernehmlichen sexuellen Handlungen. Bei
einer Verurteilung droht ihm lebenslange Haft als Höchststrafe. Weinstein
plädiert auf nicht schuldig und kann im Falle eines Schuldspruchs in
Berufung gehen.
Schon bevor der inhaltliche Teil des Prozesses startete, kam es zu
Streitigkeiten zwischen den Kläger:innen und Weinsteins Verteidiger:innen.
Es ging um die ohnehin schon schwierige Juryauswahl – ein Großteil der
Kandidat:innen wurde wegen Befangenheit ausgeschlossen. Bei der Auswahl der
Geschworenen warf die Staatsanwältin und Chefanklägerin Joan Illuzzi-Orbon
der Verteidigung vor, systematisch jüngere weiße Frauen ausschließen zu
wollen, obwohl ein Großteil der mutmaßlich Betroffenen Weinsteins junge
weiße Frauen sind. Nach 11 Tagen war die Jury dann doch komplett.
Schlussendlich besteht sie nun aus sieben Männern und fünf Frauen sowie
drei Ersatzgeschworenen.
Neben den zwei Hauptzeugen, Haleyi und Mann, kamen noch vier weitere
mutmaßlich Betroffene im Gericht zu Wort. Mit diesen Aussagen will die
Staatsanwaltschaft Weinstein ein jahrzehntelanges Verhaltensmuster
nachweisen. Nämlich das eines Raubtieres. So lautet auch die Anklage:
Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und „predatory sexual assault“, das man
im Deutschen als „raubtierhafte sexuelle Übergriffe“ übersetzen kann.
[5][Auch die Schauspielerin Annabella Sciorra], bekannt aus der Serie
„Sopranos“, erschien vor Gericht, sie gilt als wichtigste Belastungszeugin.
Vor Gericht erzählte sie detailliert, wie Weinstein sie Anfang der 90er in
ihrer Wohnung überwältigt und vergewaltigt habe – der Vorfall ist verjährt.
„Ich habe ihn geschlagen und getreten, ich habe versucht, ihn von mir
wegzubekommen“, sagte sie zu den Geschworenen. Doch sie habe keinen Erfolg
gehabt.
Diesen Beschreibungen der betroffenen Frauen musste die Verteidigung etwas
Starkes entgegensetzen. Dafür hatte Weinstein sich eine Expertin gesucht:
Donna Rotunno. Die 44-Jährige hat sich auf das Thema der sexualisierten
Gewalt spezialisiert – und ist unter dem Spitzname „Bulldogge“ für ihre
harten Kreuzverhöre bekannt.
Ihre Verteidigungslinie ist: Der Sex zwischen Weinstein und den Zeug:innen
hat stattgefunden, war aber einvernehmlich. Das versuchte sie mit E-Mails
nachzuweisen, die die Zeug:innen geschrieben haben, oder mit
Kalendereinträgen, in denen um eingetragene Treffen mit Weinstein Herzchen
gemalt sind. Sie fragte Sciorra, wie sie drei Jahre nach der mutmaßlichen
Vergewaltigung noch einmal einen Film mit ihm drehen konnte, oder zeigte
einen Videoausschnitt der „Late Show“ von David Letterman aus dem Jahr
1997. Darin erzählt Sciorra, es mache ihr Spaß, der Öffentlichkeit
ausgedachte Geschichten zu erzählen.
Jessica Mann dagegen lässt sie eine E-Mail vorlesen, aus dem Jahr 2014 –
also ein Jahr nach der mutmaßlichen Vergewaltigung. In dieser bezeichnet
sie Weinstein als eine Vaterfigur für sich. Das Verhör durch Rotunno
brachte Mann zum Weinen und schließlich zum Hyperventilieren. Der
Prozesstag wurde abgebrochen.
## Die Hassfigur von #MeToo
Rotunno hat in ihrer bisherigen Karriere alle Fälle, in denen es um
Sexualverbrechen ging, gewonnen – bis auf einen. Mit ihrem Auftreten und
ihren Aussagen ist sie für die MeToo-Bewegung zur Hassfigur geworden. Sie
findet, MeToo sei zu weit gegangen, man solle nicht allen Betroffenen
glauben.
[6][Und dann ist da noch der New-York-Times-Podcast „The Daily“], in dem
Rutonno kürzlich zu Gast war und der Anfang Februar veröffentlicht wurde.
Dort wurde sie nach einem halbstündigen Interview mit Megan Twohey gefragt,
ob sie jemals selbst Opfer eines sexuellen Übergriffes geworden sei.
Rutonno antwortet: Nein, weil sie sich nie in eine potenzielle
Opfersituation gebracht habe. „Ich habe vom College-Alter an immer
Entscheidungen getroffen, bei denen ich nie zu viel getrunken habe. Ich bin
nie mit jemandem nach Hause gegangen, den ich nicht kannte. Ich habe mich
nie in eine verletzliche Situation gebracht.“
Rotunno hält Weinstein für unschuldig und hat vor Gericht das Ziel, die
Zeug:innen als unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Darauf war die
Staatsanwaltschaft vorbereitet und hat Barbara Ziv in den Zeugenstand
berufen, eine forensische Psychiaterin, die auch schon im Prozess von Bill
Cosby aussagte.
Als Expertin für sexuell hervorgerufene Traumata erklärte sie der Jury,
dass es ein normales Verhalten von Betroffenen sei, keine Anzeigen zu
erstatten, niemandem davon zu erzählen oder weiterhin Kontakt mit dem Täter
zu haben. Das soll erklären, warum sowohl Haleyi als auch Mann
freundschaftlichen Kontakt und einvernehmlichen Sex mit Weinstein hatten,
nachdem es zu den Übergriffen gekommen sein soll.
## Alles nur Show?
Fünf Wochen hat der Prozess gedauert, dann tauchte Weinstein am Freitag
vorerst zum letzten Mal mit seinem klapprigen Rollator im Gerichtsgebäude
in Downtown Manhattan auf. Eine Gehhilfe, die im Prozess zum Politikum
wurde. Diese benötigte er wegen einer angeblichen Rückenverletzung, die er
sich im vergangenen Sommer zugezogen haben soll. Der Rollator mit zwei
gelben Tennisbällen als Radersatz sah auf jedem Foto und Video so aus, als
würde er gleich auseinanderfallen. Später im Prozess hatte Weinstein dann
einen neuen, aber kaum weniger wackeligen Rollator. Alles nur Show, eine
Mitleidstaktik, schrieben viele Medien. Richter James Burke warnte die
Anwälte davor, die Gehhilfe in den Schlussplädoyers zu erwähnen.
Der Rollator spielte dann in den abschließenden Plädoyers von Rotunno und
Illuzzi-Orbon keine Rolle. Stattdessen richtete sich Rotunno am vergangenen
Donnerstag mit der Forderung an die Jury, sie solle sich bei ihrer
Entscheidung nicht auf die negative Berichterstattung gegen Weinstein oder
auf die MeToo-Bewegung konzentrieren, sondern auf die Beweise. Dabei
verstärkte sie noch mal ihre Strategie der vergangenen Wochen, die
Zeuginnen als Lügnerinnen dastehen zu lassen.
Illuzzi-Orbon setzte dem in ihrem Schlussplädoyer entgegen, dass Weinstein
von Anfang an ein System erschaffen habe, mit dem er die Betroffene
kontrollieren könnte. Sie schloss nach drei Stunden mit den Worten: Die
Frauen „kamen, um gehört zu werden. Sie opferten ihre Würde, ihre
Privatsphäre und ihren Frieden für die Aussicht, dass sie eine Stimme haben
und dass ihre Stimme genug sei für Gerechtigkeit“. Damit war erst mal alles
gesagt.
Vorhersehen zu wollen, wie der Prozess endet, also ob Harvey Weinstein eine
Haftstrafe antreten muss oder nicht, ist kaum möglich. Denn wie fast immer,
wenn es um Fälle der sexualisierten Gewalt geht, fehlen zwei wichtige Dinge
im Prozess. Vergewaltigung und Missbrauch finden häufig in geschlossenen
Räumen zwischen zwei Personen statt, direkte Zeug*innen gibt es also
selten. Zudem fehlen physische Beweise.
Im Fall von Weinstein kommt hinzu, dass die Fälle einige Zeit zurückliegen.
Die Jury muss also jetzt entscheiden, ob die Erzählung von Verteidigerin
Rotunno oder die von Chefanklägerin Illuzzi-Orbon sie mehr überzeugt hat.
18 Feb 2020
## LINKS
[1] /Harvey-Weinstein-vor-Gericht/!5654234
[2] /Prozess-gegen-Harvey-Weinstein-beginnt/!5650224
[3] https://www.nytimes.com/2017/10/05/us/harvey-weinstein-harassment-allegatio…
[4] /MeToo-in-den-USA/!5649431
[5] /MeToo-Prozess-in-New-York/!5658991
[6] https://www.nytimes.com/2020/02/14/podcasts/daily-newsletter-weinstein-tria…
## AUTOREN
Carolina Schwarz
## TAGS
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