| # taz.de -- Thriller „Red Rooms“ von Pascal Plante: Im tiefen Morast des Da… | |
| > Im Drama „Red Rooms“ entwickelt die Protagonistin eine Obsession für | |
| > einen brutalen Sexualmörder. Der Film entzieht sich aber einer gängigen | |
| > Logik. | |
| Bild: Tief versunken im Internet, Protagonistin Anne-Kelly | |
| Im Palais de Justice in Montreal wird über das Böse gerichtet. Dort findet | |
| der erste Prozesstag gegen Ludovic Chevalier statt. Der „Dämon von | |
| Rosemont“, wie ihn die örtlichen Medien bezeichnen, wird beschuldigt, drei | |
| Mädchen bestialisch ermordet zu haben. Zu den weiteren Anklagepunkten | |
| gehören Entführung, Freiheitsberaubung, sexueller Übergriff mit | |
| Körperverletzung, Leichenschändung sowie Produktion und Vertrieb obszönen | |
| Materials. | |
| Denn die Morde wurden live im Darkweb gestreamt und sind – zumindest im | |
| Film – der erstmalige Beweis für die sogenannten „Red Rooms“, Websites, … | |
| denen in einem Livestream Menschen ermordet, gefoltert oder sexuell | |
| missbraucht werden. | |
| In dem kleinen, völlig in Weiß gehaltenen Verhandlungssaal des Gerichts | |
| sitzt Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos) eingesperrt in einem Glaskubus. Der | |
| Blick des hageren Mannes mit Halbglatze ist starr nach vorne gerichtet, die | |
| Beine sind überschlagen. So wie er dort sitzt, wirkt er geradezu armselig. | |
| Doch aus seinem regungslosen Gesicht spricht zugleich eine grauenhafte | |
| Gleichgültigkeit. | |
| [1][Die Kamera von Vincent Biron] wandert nahezu in einer einzigen | |
| Einstellung durch den Raum und beobachtet das Geschehen. Wie | |
| Staatsanwaltschaft und Verteidigung ihre ersten Plädoyers halten und ihre | |
| Appelle an die Geschworenen richten. Immer wieder nähert sich die Kamera | |
| behutsam den Beteiligten und nimmt sie in den Fokus, ehe sie weiterwandert. | |
| Der kanadische Regisseur Pascal Plante inszeniert die ersten zwanzig | |
| Minuten seines Films „Red Rooms“, der letztes Jahr auf dem tschechischen | |
| Karlovy Vary International Film Festival Uraufführung feierte, als | |
| intensives und wuchtiges Gerichtsdrama, wie man es selten im Kino zu sehen | |
| bekommt. Nur um dem Publikum sogleich ein Schnippchen zu schlagen. | |
| Denn im Zentrum des Films steht weder der Prozess noch der Angeklagte. Am | |
| Ende der Szene richtet sich der Blick langsam auf Kelly-Anne, die in den | |
| hinteren Zuschauerreihen sitzt und fasziniert auf den Angeklagten hinter | |
| dem dicken Sicherheitsglas starrt. | |
| ## Fotomodell und kaltblütige Online-Zockerin | |
| Wie wir im weiteren Verlauf erfahren, ist Kelly-Anne ein gefragtes | |
| Fotomodel und wohnt in einem mondänen Hochhaus-Apartment in Downton | |
| Montreal mit Panoramablick über die Stadt. Das große Geld macht sie mit | |
| Online-Poker. | |
| Abends, wenn sie sich von ihrer selbst entwickelten Sprach-KI E-Mails | |
| vorlesen lässt oder auf einen ihrer beiden Computer-Monitore [2][die | |
| Bitcoin-Kurse checkt,] pfeift der Wind gespenstisch an der breiten | |
| Fensterfront entlang. Trotz ihrer luxuriösen Wohnung schläft sie nachts in | |
| dicker Winterkleidung auf der Straße – für den Thrill. So auch vor dem | |
| ersten Prozesstag im Fall Chevalier. | |
| „Red Rooms“ ist ein eindringlicher Film, der in seiner dramaturgischen | |
| Finesse konsequent jegliche Fallen vermeidet, in die konventionelle | |
| Thriller allzu gerne treten. Der angeklagte Mörder wird über die gesamte | |
| Spielzeit nicht ein Wort sagen. Ebenso wenig sind die auf Video | |
| festgehaltenen Taten zu sehen – zumindest nicht für das Kinopublikum. Das | |
| unsägliche Grauen, von dem hier erzählt wird, macht sich einzig im Kopf | |
| breit. Trotz seines Verzichts auf explizite Gewaltdarstellung ist der Film | |
| nichts für schwache Nerven. | |
| Angesichts der Fülle an Filmen und Serien, die sich dem Thema Serienmörder | |
| widmen, wirkt „Red Rooms“ ungemein erfrischend. Vor allem | |
| True-Crime-Formate wie „Ted Bundy: Selbstporträt eines Serienmörders“ oder | |
| „Dahmer – Monster: [3][Die Geschichte von Jeffrey Dahmer“] erleben einen | |
| wahren Boom. | |
| Serienmörder sind längst zu einer Art popkulturellem Phänomen geworden. | |
| „Red Rooms“ entzieht sich in gewisser Weise dieser Logik, wendet er doch | |
| den Blick eben jenen Menschen wie Kelly-Anne zu, die von der | |
| Abscheulichkeit der Mörder so sehr angezogen werden. | |
| Auch die weiteren Prozesstage verbringt sie auf ihrem Patz im Gericht. Dort | |
| lernt sie Clémentine (Laurie Babin) kennen. Im Gegensatz zu Kelly-Anne ist | |
| sie ein wahrhaftiger Groupie von Chevalier und von dessen Unschuld | |
| felsenfest überzeugt, für die sie trotz erdrückender Beweislage noch die | |
| haarsträubendsten Erklärungen herbeifantasiert. | |
| So sei die Gerichtsverhandlung nur eine große Show und die beiden | |
| Snuff-Videos (jenes vom dritten Mord ist nicht auffindbar) seien nichts als | |
| fake. Aus Mitleid bietet Kelly-Anne der mittellosen Clémentine, die für die | |
| Prozesstage aus einer Provinzstadt nach Montreal gereist ist, Obhut an, | |
| wodurch zwischen den ungleichen Frauen langsam so etwas wie Freundschaft | |
| entsteht. | |
| ## Pascal Plante verzichtet auf jegliche Psychologisierung | |
| So wie Kelly-Anne von Chevalier in den Bann gezogen wird, ist man als | |
| Zuschauer*in von ihrem Wesen fasziniert. Was hat es mit ihrer Obsession | |
| für Ludovic Chevalier auf sich? Sucht sie einen Nervenkitzel, der ihr das | |
| Gefühl gibt, lebendig zu sein? Pascal Plante verzichtet auf jegliche | |
| Psychologisierung. Kelly-Anne ist unnahbar, kühl und rational. Beim | |
| Pokerspielen sucht sie emotionale Spieler und lässt sie langsam ausbluten, | |
| wie sie einmal erklärt. Ist es diese Indifferenz und Erbarmungslosigkeit, | |
| die sie selbst in kleinem Maßstab anwendet und bei Chevalier so sehr | |
| fasziniert? | |
| Während der affektgetriebenen Clémentine die Gewalt, mit der sie sich | |
| letztlich konfrontiert sieht, zu viel wird und sie eine Kehrtwende | |
| vollzieht, begibt sich Kelly-Anne in eine Abwärtsspirale, aus der sie nicht | |
| mehr rauskommt. Eine andere Option als „All in“ zu gehen, scheint es nicht | |
| mehr zu geben. Dabei hat sie auch schon längst die Grenze zur Illegalität | |
| überschritten. | |
| Wenn ihre haselnussbraunen Augen vom grellen Licht der Monitore im | |
| schummrigen Abendblau der Wohnung angeleuchtet werden und sie sich mit | |
| wenigen Klicks in dubiosen Hacker-Datenbanken Zugang zum Elternhaus einer | |
| der Ermordeten verschafft, entsteht eine ungeheure Sogwirkung. Die | |
| kanadische Schauspielerin Juliette Gariépy spielt Kelly-Anne mit einer | |
| großen, aber kraftvollen Zurückhaltung. | |
| Es reicht der fokussierte Blick ihrer großen Augen vor dem Bildschirm, um | |
| voller Rätsel zu sprechen. Kelly-Anne bewegt sich dabei zielgerichtet durch | |
| die Untiefen des Darkweb. Im Gegensatz zum Gericht ist das der Ort | |
| maximaler Rechtsfreiheit. Ein Ort, an dem sich der freie Markt von Angebot | |
| und Nachfrage jeglicher Kontrolle entzieht. So sollen die Mordopfer der | |
| Nachfrage entsprechend ausgesucht worden sein: jung, blond, blauäugig. | |
| Zur schaurigen Atmosphäre des Films trägt auch die Musik von Dominique | |
| Plante (der Bruder des Regisseurs) bei, die zwischen getragenen | |
| Cembalo-Einsätzen, verzerrten E-Gitarren und opulenten Orchesterausbrüchen | |
| changiert. Jene Szene, in der im Gerichtssaal Kelly-Anne von Chevalier | |
| gleich einem Erweckungserlebnis angeblickt wird und sich die mit choralen | |
| Gesängen angereicherte Untergangsmusik mit den übersteuerten Todesschreien | |
| der ermordeten Mädchen vermengt, ist das finstere Fanal in diesem | |
| unheilvollen Film. Die Szene geht unter die Haut. | |
| So abgründig und beklemmend Pascal Plante „Red Rooms“ auch angelegt hat, | |
| gegen Ende des knapp zweistündigen Films schlägt er doch noch sanfte Töne | |
| der Hoffnung an, die einen kleinen Sonnenstrahl im ansonsten düster | |
| verhangenen Himmel erhaschen lassen. Man möchte sich nur nicht vorstellen, | |
| dass jenes Grauen, von dem hier erzählt wird, tatsächlich irgendwo im | |
| tiefen Morast des Darkweb feilgeboten wird. | |
| 7 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Obermeier | |
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