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# taz.de -- Prozess gegen Harvey Weinstein beginnt: Keine Witze mehr
> Im Oktober 2017 wurden Vorwürfe gegen Harvey Weinstein öffentlich, er
> habe sexualisierte Gewalt ausgeübt. Es war der Start der #MeToo-Bewegung.
Bild: Harvey Weinstein verlässt das Gericht im Dezember 2019 in New York
Am Montag wird es voll im obersten Gericht des Staates New York in Downtown
Manhattan. Nicht nur mehr als 150 Journalist*innen aus aller Welt haben
sich angemeldet, auch viele Betroffene sexualisierter Gewalt wollen kommen,
wenn der Prozess gegen den ehemaligen Filmproduzenten Harvey Weinstein
beginnt.
Über 80 Frauen, unter ihnen prominente Schauspielerinnen wie Angelina Jolie
oder Gwyneth Paltrow, bezichtigen Weinstein des Missbrauchs, der
Belästigung oder der Vergewaltigung. Doch vor Gericht muss er sich zunächst
nur in zwei Fällen verantworten: Mimi Haleyi, eine ehemalige
Produktionsassistentin der Weinstein Company, beschuldigt ihn, sie 2006 zum
Oralverkehr gezwungen zu haben. Und eine Frau, die bisher anonym bleiben
möchte, wirft ihm vor, sie 2013 in einem Hotelzimmer vergewaltigt zu haben.
Kein Gesicht ist so sehr mit der #MeToo-Bewegung verbunden wie das von
Harvey Weinstein. Die öffentlichen Vorwürfe gegen ihn im Herbst 2017 lösten
eine weltweite Debatte aus. Sein Fall ist nun der erste dieser
Größenordnung, der vor Gericht kommt (der Prozess gegen Fernsehstar Bill
Cosby begann vor #MeToo).
Doch bei diesem lang erwarteten Termin geht es um mehr als um den
Urteilsspruch über einen Mann. Millionen von Betroffenen sexualisierter
Gewalt werden Genugtuung aus dem Urteil ziehen oder Entsetzen. Denn Harvey
Weinstein steht für ein System von Machtmissbrauch und der Prozess gegen
ihn für einen Wendepunkt der #MeToo-Bewegung.
## Hollywood wusste Bescheid
Weinstein als Bild eines schmierigen, mächtigen und gewalttätigen Mannes
war in Hollywood schon lange vor 2017 bekannt. Immer wieder fiel im
Zusammenhang mit seinem Namen das verharmlosende Stichwort
„Besetzungscouch“.
Verschiedene Schauspielerinnen deuteten einen solchen Machtmissbrauch in
Interviews an, in Comedyshows und TV-Serien wurde auf Weinsteins Taten
angespielt. Der Komiker Seth MacFarlane sagte als Gastgeber der
Oscar-Verleihung 2013 zu fünf nominierten Frauen: „Glückwunsch, ihr fünf
Ladys müsst nicht länger so tun, als würdet ihr Harvey Weinstein attraktiv
finden.“
Folgen hatten das Wissen um Weinsteins Verhalten lange keine. [1][Bis im
Oktober 2017 zwei Artikel in der New York Times ] und [2][im New Yorker
erschienen.] Darin kamen über ein Dutzend Frauen zu Wort, die Weinstein
sexuelle Belästigung, Missbrauch und Vergewaltigung über drei Jahrzehnte
hinweg vorwarfen.
Eine von ihnen war die Schauspielerin Ashley Judd, die mit Klarnamen und
Foto ihre Erfahrungen mit Weinstein öffentlich teilte. Es ging darum, wie
Weinstein seine Macht und Stellung missbrauchte, um Frauen zu sexuellen
Handlungen zu zwingen. Weinstein stritt alles ab und sagte, er habe nie
nichteinvernehmlichen Sex gehabt.
## Scham und Schweigen
Vorher hatten sich die Betroffenen nicht getraut, mit ihren Vorwürfen zur
Polizei oder an die Öffentlichkeit zu gehen. Viele fürchteten um ihre
Karrieren, empfanden Scham über das, was ihnen angetan wurde. Weinstein war
mächtig – er konnte entscheiden, ob eine junge Frau Karriere im Film machen
würde oder nicht. Seine Stellung und sein Reichtum erlaubten ihm, ein
perfides System aufzubauen, in dem seine sexuellen Gewalttaten nicht an die
Öffentlichkeit drangen. Er arbeitete mit Knebelverträgen und
Schweigegeldern – die er sogar als Firmenausgaben verbuchen konnte.
All das legt die BBC-Doku „Untouchable – The Rise and Fall of Harvey
Weinstein“ dar. Die Recherchen des Journalisten Ronan Farrow machten das
Bild dieses Systems noch klarer. Farrow veröffentlichte im November 2017
[3][einen Artikel im New Yorker darüber, wie Weinstein private
Sicherheitsagenturen engagierte], um die Vorwürfe gegen ihn verschwinden zu
lassen. Im Oktober 2019 [4][reicht die Schauspielerin Rose McGowan in Los
Angeles Klage gegen Weinstein ein]. Er soll mit illegalen Mitteln versucht
haben, sie und andere zum Schweigen zu bringen, bevor sie ihre Vorwürfe
öffentlich gemacht hatten.
Der Oktober 2017 jedoch beendete das System Weinstein. Er wurde aus seiner
Firma, der „Weinstein Company“ („The Kings Speech“, „Pulp Fiction“,
„Shakespeare in Love“) entlassen, aus der Academy of Motion Picture Arts
and Sciences, aus dem ehrwürdigen Verein, der die Oscars verleiht,
ausgeschlossen, seine Frau verließ ihn.
Nachdem die Polizei in Los Angeles, London und New York Ermittlungen gegen
Weinstein aufgenommen hatte, wurde er im Mai 2018 in New York festgenommen.
Unter strengen Auflagen (er erhielt eine elektronische Fußfessel und musste
seinen Pass abgeben) und einer Kaution in Höhe von einer Million Dollar kam
Weinstein einen Tag später wieder frei. Lange Zeit war seitdem nichts von
ihm zu hören, bis er dann im Dezember der New York Post ein Interview gab,
in dem er sich als Pionier der Frauenförderung bezeichnet.
## Ein übergriffiges Muster
Der Prozess, der nun am Montag in New York beginnt, wurde erst mehrere Male
verschoben. Einmal, weil Weinstein sein komplettes Verteidigerteam
wechselte, dann wurde im September die Anklage um zwei Punkte erweitert –
eine Strategie der Staatsanwaltschaft, damit der Fall der Schauspielerin
Annabella Sciorra („The Sopranos“) mit in den Prozess aufgenommen werden
konnte. Sciorra wirft Weinstein vor, sie 1993 vergewaltigt zu haben. Obwohl
ihr Fall verjährt ist, erhofft sich die Anklage von ihren Aussagen den
ausreichenden Beweis, dass Weinsteins Verhalten einem übergriffigen Muster
folgt.
Zwischenzeitlich gab es auch immer wieder Gerüchte, dass der Prozess sich
erneut verschieben würde. Denn zu einer Kautionsanhörung im Dezember war
der 67-jährige Angeklagte mit Gehhilfen erschienen. Seine Anwältin erklärte
das mit einer Rückenverletzung, die sich Weinstein bei einem Autounfall im
August zugezogen haben soll.
Doch nicht nur Weinsteins Gesundheitszustand drohte den Prozessbeginn zu
gefährden. Die Staatsanwaltschaft von New York sah weiterhin große
Fluchtgefahr. So führte Staatsanwältin Joan Illuzzi-Orbon im Dezember vor
Gericht aus, dass in den vergangenen Monaten wiederholt kein Signal von
Weinsteins elektronischer Fußfessel empfangen worden sei. Deswegen wurde
seine Kaution auf fünf Millionen Dollar angehoben.
Für Weinstein scheint nun aber ein guter Zeitpunkt für den Prozess zu sein.
[5][Denn erst Ende letzten Monats hat er einen Deal mit 30
Schauspielerinnen und ehemaligen Mitarbeiterinnen geschlossen]. Mit einer
Entschädigungszahlung von insgesamt 25 Millionen Dollar werden damit fast
alle Zivilklagen wegen sexuellen Fehlverhaltens gegen Weinstein und seine
Firma aufgehoben.
## Vorteil Weinstein
Für die betroffenen Frauen ist der Deal zwar kein echter Gewinn, keine von
ihnen erhält mehr als 500.000 Dollar Entschädigung – doch da manche Fälle
nicht strafrechtlich relevant und viele andere schon verjährt sind, war es
für viele Betroffene die einzige Möglichkeit, eine Form der Genugtuung zu
erhalten.
Weinsteins Seite des Deals war: Er musste weder Schuld eingestehen noch
einen einzigen Cent aus eigener Tasche zahlen. Die
Versicherungsunternehmen, die die bankrotte Filmproduktionsfirma Weinstein
Company vertreten, werden wohl die Zahlungen übernehmen. Bei dieser
Einigung handelt es sich um eine zivil- und nicht um eine strafrechtliche
Auseinandersetzung, deswegen ist der Prozess im Januar auch nicht direkt
von dem Deal betroffen. Doch dass Weinstein im Zuge des Deals keine Schuld
eingestehen musste, kann für ihn nun vor der Jury des Strafprozesses von
Vorteil sein.
Gerade deswegen blickt wohl auch ein Großteil der betroffenen Frauen mit
großer Erwartung auf den beginnenden Strafprozess. Ungefähr acht Wochen
soll er laut dem Gericht in New York dauern – zwei Wochen für die Auswahl
der 12 Jurymitglieder, die restlichen sechs für Aussagen von Zeug*innen.
Der Ausgang ist ungewiss, obwohl die Beweislast erdrückend scheinen mag.
Abhängig vom Prozessausgang erwarten Weinstein bis zu 25 Jahre oder sogar
lebenslängliche Haft. Bei einem Schuldspruch kann Weinstein – der auf
„unschuldig“ plädieren will – in Berufung gehen.
Der Prozess gegen Harvey Weinstein ist für die zwei mutmaßlich Betroffenen
eine Chance, Gerechtigkeit zu erfahren – und auch für die 30 Frauen, die
einen Deal mit Weinstein abgeschlossen haben. Ein Schuldspruch Weinsteins
kann ein Anreiz für Betroffene sein, ihre Geschichten zu erzählen, Täter
anzuzeigen und vor Gericht auszusagen.
[6][Die #MeToo-Bewegung hat in den letzten zwei Jahren ein Umdenken in
unser patriarchalen Gesellschaft angestoßen]. Ein Umdenken, das auf vielen
Ebenen noch sehr viel Zeit benötigt, hin zu einer gewaltfreien und
gleichberechtigten Gesellschaft. Es wäre zu wünschen, dass ein einzelnes
Gerichtsurteil – wie es nun auch ausfallen mag – nicht über die
Berechtigung dieser Bewegung bestimmt. Doch der Prozess gegen Harvey
Weinstein hat eine solch große Symbolkraft, als erstes und bislang einziges
strafrechtliches Verfahren nach #MeToo, dass er in jedem Fall beeinflussen
wird, wie sich der Kampf gegen Machtmissbrauch entwickeln wird.
6 Jan 2020
## LINKS
[1] https://www.nytimes.com/2017/10/05/us/harvey-weinstein-harassment-allegatio…
[2] https://www.newyorker.com/news/news-desk/from-aggressive-overtures-to-sexua…
[3] https://www.newyorker.com/news/news-desk/harvey-weinsteins-army-of-spies
[4] /!5635947
[5] /!5649431
[6] /!5627998
## AUTOREN
Carolina Schwarz
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