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# taz.de -- So waren die 10er-Jahre: Glorioser Schlussstrich
> Die 10er-Jahre gehen zu Ende. Wissen Sie noch, wie alles anfing? Hier
> kommt der beste Jahrzehntrückblick, seit es Jahrzehntrückblicke gibt.
Bild: Berlin: Menschen feiern Silvester, als ob es kein Morgen gäbe. Gibt's ja…
Die 2010er Jahre waren ein großer Spaß. Jammerschade, dass sie nun schon
enden, da es gerade erst am schönsten wurde. Würdigen wir doch dieses echte
Klassejahrzehnt wenigstens zum Abschluss mit einem kleinen Überblick über
die Geschehnisse in Deutschland und der Welt.
Die Auswahl der Ereignisse richtet sich nicht nach deren Tragweite. Bewusst
werden hier unbedeutende, aber zeittypische Döneken [1][wie der
Klimawandel] neben Jahrtausendevents wie [2][die Heirat von Prinz William
mit Kate Dingsbums] im Jahr 2011 gestellt. Im Wechsel Information und
Unterhaltung – es ist das Sendung-mit-der-Maus-Prinzip.
Doch beginnen wir chronologisch. Im Dezember 2010 löste die
Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi [3][den
arabischen Frühling] aus. Proteste gegen Willkür, Armut und eine korrupte
politische Kaste sprangen auf die gesamte arabische Welt über, beseitigten
Regime, ließen Hoffnungen keimen, und mündeten am Ende fast überall doch
wieder in neue Regime und alte Hoffnungslosigkeit. Ein früher Bogenschluss
sei hier gestattet, denn das Jahrzehnt, das mit dem arabischen Frühling
begann, geht nun offenbar mit einem [4][lateinamerikanischen Winter zu
Ende.]
Und auch in Deutschland ging es rund. 2011 erfolgte die
[5][Selbstenttarnung des NSU] durch die Suizide der NS-Uwes und die
Verhaftung Beate Zschäpes. Erst dadurch wusste man auf einmal, was man doch
nie wissen wollte: dass ein rechtsextremes Terrornetzwerk über Jahre
hinweg, von den Behörden schon mehr unterstützt denn nur wohlwollend
begleitet, morden konnte.
Tiefkühllasagne mit Pferdefleisch
Bis dahin war man selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Morde an
türkischstämmigen Kleinunternehmern nur etwas mit deren mafiösen
Strukturen, Gammeldöner, Schutzgeld, Rotlicht und sonstigem Ficki-Ficki zu
tun haben konnten. Derart ansteckend war dieses untrennbar mit der Kultur
der Musels verhaftete Fehlverhalten, dass kollateral sogar ein Grieche und
eine Thüringerin mit in den Strudel jener ärgerlichen Sache gesaugt wurden.
Der Prozess begann erst 2013 und dauerte bis 2018. So lange zog sich das
Verschleiern von Fakten, zufällige Sterben von Zeugen, Vereiteln von
Ermittlungen, Behindern von Untersuchungsausschüssen und Schreddern von
Akten durch den Verfassungsschutz hin. Als Zschäpe zu einer lebenslangen
Freiheitsstrafe verurteilt wurde, war [6][der gloriose Schlussstrich] unter
die kompletteste kriminalistische Aufarbeitung auf deutschem Boden seit der
lückenlosen Entnazifizierung in der Nachkriegszeit gezogen.
Nun aber endlich zu etwas wirklich Wichtigem: 2013 war auch das Jahr
[7][des europäischen Pferdefleischskandals]: Im Rindfleisch tauchte
unversehens Pferdefleisch auf. Erst dachte man logischerweise, die Rinder
hätten halt Pferde gegessen, mit denen sie die Weide teilten. Das kann
passieren. Man kennt das vom Stierkampf, dass so eine Kuh auch mal ein
Pferd aufschlitzt. Auf einmal aber enthielt die Tiefkühllasagne hundert
Prozent Pferdefleisch. Die Leute staunten: So viel Pferd kann eine Kuh ja
praktisch gar nicht essen.
So what, möchte man denken: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß;
andere Tiere geben auch schöne Schnitzel; wer heutzutage Fleisch isst, muss
sowieso mit allem rechnen. Doch eine Hauptsorge war, das Fleisch könne von
unkontrollierten Sportpferden stammen. Der Genuss hätte dann ähnliche
Folgen wie der Verzehr eines gedopten Radrennprofis (ersatzweise ginge auch
Zuchtlachs): Ebenso gut könnte sich der Konsument auf dem
Bayer-Werksgelände kopfüber in den Kessel mit dem Zaubertrank stürzen.
Besorgte Bürger und #MeToo
Etwa zur gleichen Zeit legte der deutsche [8][Papst Benedikt XVI].,
womöglich bedröhnt vom Pferdefleischgenuss, überraschend sein Amt nieder,
ohne wie in seinem Job üblich, zuvor zu sterben. Seitdem schwebt die
Schande Gottes über unserem Land. [9][Der Gewinn des WM-Titels 2014] konnte
das kaum kompensieren, umso weniger noch, da der unterlegene Finalgegner
Argentinien mal eben lässig seinen eigenen Papst ins Schneckenrennen um die
lamste Petersplatz-Performance schickte: Franziskus gilt als äußerst
gemäßigt, da er wie jeder gute Papst natürlich Schwule hasst, aber dennoch
dazu aufrief, sie nicht ständig zu verkloppen.
Nicht zuletzt in Folge des gescheiterten arabischen Frühlings kam es um
2015 herum zur [10][sogenannten Flüchtlingskrise]. Die Leute flohen aus
ganz Afrika, dem Irak, Afghanistan und besonders aus Syrien, Opfer des
eskalierenden [11][Bürgerkriegs um den Autokraten Assad], der lieber ein
totes Volk ritt als aus dem Sattel zu steigen. [12][Der erstarkende IS]
sorgte noch für zusätzlichen Druck auf dem Kessel. In der Folge kam es so
auch in Europa vermehrt zu Anschlägen. In Deutschland kostete der Wahnsinn
jährlich hundertfünfzigtausend Menschenleben. Allein durch Rauchen, Alkohol
und Autounfälle; außerdem kamen ein paar Einheimische durch Flüchtlinge zu
Tode. Dagegen sowie gegen den Anblick Fremder, die im Wald an deutschen
Bushaltestellen herumlungerten, gingen nun wieder massenhaft Bürger auf die
Straße, und [13][äußerten ihre gelinde Besorgnis].
Hinter dem großen Leid der Überfremdeten wäre [14][#MeToo beinahe
untergegangen]. Unter diesem Hashtag mahnten 2017 Millionen Frauen im Zuge
der Weinstein-Affäre ihren Wunsch nach halbwegs humanoidem Anstehverhalten
vor der Fleischtheke der Geschlechter an. Die deutschen Männer hielten sich
zunächst bedeckt. Zum Glück betraf es sie ja nicht. Von diesem einen Typen
abgesehen, den eh schon immer alle doof gefunden hatten, hielten sie die
deutsche Mutti, das deutsche Mädel traditionell in Ehren wie einen
wertvollen Schatz mit goldenen Zöpfen. Schien dieser Schatz von Ausländern
bedroht, warfen sie sich im Nachklapp wie Löwenpapis hinter die dankbaren
Frauen.
Zwei weitere Themen haben das Jahrzehnt geprägt: die internationalen
[15][Erfolge des Rechtspopulismus] und der Klimawandel. Verstärkt durch die
in den Zehnerjahren explodierende Digitalisierung der Gesellschaft
überhitzte sich das Diskussions- analog zum Weltklima. Selbst die in
Deutschland oft unter Drittweltniveau liegende Netzlogistik vermochte das
nicht zu verhindern.
## Deutschland, ein prokrastinierender Dauerkiffer
An letzterer soll in den kommenden Jahrzehnten ohnehin gearbeitet werden –
so ist es immerhin angedacht. Ebenfalls vielleicht so ein bisschen
angedacht sind: Tempolimit, Öko-Wende, Ermittlungen gegen rechte
Terrornetzwerke. Wäre Deutschland eine Person, wäre sie ein leicht
depressiver, unheimlich langsamer, in einem fort leerdrehend von
irgendwelchen Plänen salbadender, prokrastinierender Dauerkiffer. Harmlos,
nicht völlig unsympathisch, aber auch ein wenig lebensuntauglich. Der
Deutsche ist kein Panther.
Zurück zum Rechtspopulismus. Alles, was speziell die westliche Welt seit
dem Zweiten Weltkrieg an zivilgesellschaftlichen Errungenschaften mühsam
und unter Rückschlägen aufgebaut hat, reißt sie allein in den letzten paar
Jahren mit dem Arsch komplett wieder ein. In ehemals fortschrittlichen
Ländern werden offensichtliche Vollidioten zu Regierungschefs gewählt und
mit ihnen ihre regressiven Programme aus der Buddelkiste. Der böse Clown
(Trump), der lustige Lügenkasper (Johnson) und der Sultan Hanswurst
(Erdogan), um nur die Spitzen dieses Narrenheeres der halbstarken
Schwanzvergleicher und verantwortungslosen Verrückten zu nennen. Aus jedem
zweiten Fernsehbild grinst uns heute der Joker entgegen. Batman ist tot.
Natürlich gab es die Idioten schon immer. Nero, Hitler, Idi Amin – die
Namen sind sonder Zahl. Dennoch hätte der bürgerliche Träumer gehofft, ein
Politikstil des erhobenen Sandschäufelchens wäre ein Auslaufmodell,
zumindest innerhalb gefestigter demokratischer Strukturen. Doch das ist ein
Irrtum. „Gefestigt“ ergibt als Begriff nur im Backhandwerk Sinn, und die
Menschen waren schon immer Arschlöcher. Sie haben es nur nicht so
raushängen lassen.
Mit dem Siegeszug der sozialen Netzwerke liegt unser wahres Wesen nun offen
auf dem Tisch. Es wirkt absurd, dass sich Leute, die jenen Honks aus dem
Neander Valley freiwillig das Zepter in die infantilen Pfoten drücken, in
ihrem ach so würdevollen Erwachsenending hinterfragt fühlen, nur weil ihnen
eine [16][Sechzehnjährige] die Leviten liest. Das tut sie schließlich zu
Recht.
Wettgewinne für den Teufel
Womit wir nun endlich beim Klima wären. Tja, das Klima ist schlecht.
Eigentlich gibt es nicht viel mehr dazu zu sagen, höchstens dies: Wenn wir
nicht [17][mindestens das 2-Grad-Ziel] aus dem Paris Agreement 2015
erreichen, und zwar pronto, werden wir alle sterben – den meisten Tierarten
haben wir ja bereits einen letzten Gruß hinterhergewinkt.
Hohe Wetten laufen darauf, ob die Zivilisation wegen der Verteilungskämpfe
in Folge des Klimawandels implodiert, oder weil sich schon vorher alle
wegen des Internets massakrieren. Die Wettgewinne wird wohl nur noch der
Teufel einstreichen. Davon kann er sich allerdings nicht mal ne Limo
kaufen. Allein bleibt er in der Gesellschaft einer Bombastilliarde
Kakerlaken in der leeren Festung Europa zurück. Doch das werden wir
frühestens in den 2020ern erleben; es bleibt also spannend.
31 Dec 2019
## LINKS
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[16] /Klimaproteste-in-China/!5645416
[17] /Pariser-Abkommen-zum-Klimaschutz/!5351163
## AUTOREN
Uli Hannemann
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