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# taz.de -- Berlinale „Mr. Jones“: Es gibt nur eine Wahrheit
> Agnieszka Hollands „Mr. Jones“ thematisiert den Großen Hunger in der
> Sowjetukraine 1932/33 und wirft ein Licht auf die Machtbesessenen im
> Hintergrund.
Bild: Stößt auf ein großes Politverbrechen: „Mr. Jones“ von Agnieszka Ho…
Schweine stecken ihre Rüssel in den Sumpf. Ein junger Mann klopft
„Vierbeiner gut, Zweibeiner schlecht“ in die Schreibmaschine: George
Orwell, in dessen „Farm der Tiere“ das Blöken der Schafe bekanntlich jede
Kritik überschallte. Die Politparabel des 20. Jahrhunderts war – das gilt
als relativ gesichert – inspiriert vom investigativen Journalismus des
Gareth Jones (1905–1935), der in Agnieszka Hollands Geschichtsdrama „Mr.
Jones“ die erste Geige spielt und als Figur den gesamten Film trägt.
In den frühen 1930er Jahren machte sich dieser noch junge Jones, wie der
einstige Premierminister David Lloyd George Waliser (und deshalb auch sein
Protegé), einen Namen: Er führt mit Hitler ein Interview und weiß, dass mit
den Nazis nicht zu spaßen ist. Großbritannien müsse sich, so führt er
vehement vor Lloyd Georges Liberalen aus, einen Alliierten suchen – Stalin.
Der Ältestenrat erklärt ihn für kommunistisch-verrückt und setzt seine
Appeasement-Politik fort. Blök, blök.
Jones reist auf Eigeninitiative in die UdSSR, wo er Stalin interviewen
will. Gelingt ihm zwar nicht, aber er lässt – trotz aller Gefahr, die ihm
in der vororchestrierten Sowjet-Wirklichkeit zwischen Abhöraktionen und
Medienkontrolle droht – von seinen Recherchen nicht ab und stößt in der
Ukraine auf eines der größten Politverbrechen der sowjetischen Geschichte:
das bewusste Aushungern der Millionenbevölkerung in den Jahren 1932–33. Als
er berichten will, stellt sich ihm die Front eines amerikanisch-russischen
Medien-Politik-Konglomerats entgegen, angeführt vom Holodomor-Leugner Nr.
1, Walter Duranty. Wer sich hier nicht an Trump, Putin & Co erinnert fühlt,
hat den Punkt des Films verpasst.
Hosenscheißerei der großen Politik
Für wie unmoralisch Polens vorderste Regisseurin Holland die
Hosenscheißerei der großen Politik angesichts der Totalitarismen – hüben
wie drüben – hält, macht sie an kleinen Details deutlich. Sie weiß zwar
sicher um Lloyd Georges legendär-empörendes späteres Berchtesgaden-Treffen
mit Hitler Bescheid – denn ihre Geschichtsrecherche liegt auf einem ähnlich
hohen Level wie jene Éric Vuillards, des aktuell interessantesten
Politautors. Aber ihre Erzählung braucht das alles nicht. Kein Hitler,
später auch kein Stalin und kein Roosevelt (dessen Anerkennung der UdSSR im
Hungerjahr 1933 mit dem weltweit organisierten „famine denial“ verbunden
ist).
Denn es geht hier, wie bei Vuillard, um die Sichtbarmachung der aus
Machtbesessenheit ängstlich agierenden Spieler im Hintergrund. Holland mag
selbst zum europäischen Intellektuellen-Ältestenrat gehören, aber ihr Herz
schlägt (wie schon in ihrem Film „Pokot“) für diejenigen, die das
Establishment-Männer-Kartell dieser Welt zerschlagen wollen. Dafür stehen
Jones und Orwell. Wegschauen selbst ist ein Verbrechen.
Agnieszka Holland erfindet das Kino nicht neu. Und auch der Holodomor ist
kein neues Thema – besonders im ukrainischen Nationbuilding-Kino. Dennoch
ist dieser Film wichtig und in seiner formalen wie politischen
Schnörkellosigkeit ein solider Beitrag zu einem Wettbewerb, der ja das
Politische im Privaten thematisieren will, dabei aber bisher nur dänische
Weichspülliebe, mongolische Eier-Ödnis und mazedonischen Satire-Irrsinn
gezeigt hat.
11 Feb 2019
## AUTOREN
Barbara Wurm
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