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# taz.de -- Berlinale „Born in Evin“: Die Rettung des iranischen Films
> Maryam Zarees Werk berichtet von den Nachwirkungen der Iranischen
> Revolution im Exil und ist ein Highlight aus der Perspektive Deutsches
> Kino.
Bild: Nein, wir haben nichts verdreht: Maryam Zaree fällt zu Beginn ihres Film…
Maryam Zaree ist tatsächlich eine Außerirdische. In der Eingangssequenz
ihres Dokumentarfilms „Born In Evin“ landet sie mit Fallschirm in der
(wahrscheinlich kalifornischen) Wüste. 35 Jahre zuvor wurde Maryam Zaree im
Teheraner Evin-Gefängnis geboren, bildlich gesprochen mit Fall- oder
Schutzschirm, der Mutter und Tochter überleben ließ. Denn die 1980er Jahre
waren die brutalste Phase in der Geschichte der Machtergreifung der
Islamisten im Iran.
Die Mullahs ließen Zehntausende vermutete oder wirkliche Regimegegner
einsperren, foltern und hinrichten. Auch Maryams Eltern fanden sich unter
jenen wieder, die in die Gefängnisse verschleppt wurden. Was die heute in
Berlin lebende erfolgreiche deutschiranische Schauspielerin immer wusste.
Nicht aber, dass sie selbst im Evin-Gefängnis zur Welt kam. Dies erfuhr sie
erst viel später als Erwachsene und per Zufall im Gespräch mit einer Tante.
Und es ließ sie seither nicht mehr los.
Die ersten Einstellungen ihres Dokumentarfilms „Born in Evin“ eröffnen nun
gleich allegorisch diesen ganzen Kosmos: eine Kinderzeichnung von einer auf
dem Kopf stehenden Figur; aus heiterem Himmel die Ankunft einer trotzig und
surreal wirkenden jungen und behelmten Frau mit Fallschirm auf sandigen
Terrain – atmosphärisch unterlegt mit dem Sound eines melancholischen
Singer-Songwriter-Stücks aus der popkulturellen Gegenwart.
Zaree vereint die Perspektive ihrer Eltern mit der ihren aus der Jetztzeit.
Mit der Montage historischer Aufnahmen aus der Revolutionsphase von 1978/79
aus dem Iran illustriert sie den damaligen Aufbruch und spricht dazu quasi
als Intro ein, was ihr ihre Eltern und andere laizistische Iraner*innen
berichteten: Die Triebkräfte der Revolte resultierten in den 1970er Jahren
aus einer Mischung von Marx und Beatles. Die sich ab 1979 ausbreitende
Herrschaft der Islamisten hatten die städtischen Intellektuellen hingegen
zumeist nicht für möglich gehalten.
Die Mutter floh ins Exil, der Vater blieb in Haft
Maryam Zaree hat sich erst im Laufe der Recherchen zu ihrem Film
entschlossen, in der Geschichte selbst vor die Kamera zu treten. Als
öffentliche Figur symbolisch die Deckung zu verlassen, um „Dinge zu
verstehen und zu erfahren, über der wir in der Familie nicht reden“. Ihre
Mutter konnte 1985 mit ihr als Zweijähriger aus dem Iran in die
Bundesrepublik fliehen. Maryams Vater blieb über die 1980er Jahre weiter
inhaftiert. In Frankfurt am Main fingen Mutter und Tochter ohne ihn neu an.
Ihre Mutter Nargess ist eine Persönlichkeit mit großer Ausstrahlung, wurde
in Frankfurt zu einer prominenten Psychotherapeutin und
Kommunalpolitikerin. Doch das ist nicht Thema des Films.
Immer wieder versucht Maryam, vor der Kamera ihrer Mutter Nargess
unmittelbare Äußerungen über die Umstände der Geburt und die Zeit im
Evin-Gefängnis zu entlocken. Ihre ansonsten so souveräne Mutter kann nicht
antworten. Man braucht kein Trauma- und Gewaltforscher zu sein, um sie zu
verstehen. Es ist allerdings eine beachtliche Leistung, wie Maryam Zaree
dies in „Born in Evin“ dokumentiert, um sich an die schmerzlichen
Wahrheiten filmisch und so offen heranzutasten.
Ausgebildet wurde Zaree an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg. 2010
hat sie bereits in einem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag reüssiert. Sie ist
Grimme-Preisträgerin, bekannt aus dem Berliner „Tatort“ oder der Serie „4
Blocks“. In der spielt sie als arabisch vorgestellte Khalila die weibliche
Hauptrolle an der Seite von Gangsterboss Toni Hamady in einem etwas arg
exotischen und gefährlichen Berlin-Neukölln.
Einen kleinen Kommentar, warum sie – ein Kind der internationalen Linken
und Gegnerin des Islamismus – immer wieder ins weite Genre rückständig
vorgestellter Islam-Migrationen gerät, kann sie sich auch in „Born in Evin“
nicht verkneifen. Ihre Renitenz sowie ihr offenkundiges Gespür für eine
angemessene Ästhetik verleihen ihrem Film über die bloße Thematik hinaus
einen starken leidenschaftlichen Charakter.
Für „Born in Evin“ begab sich Maryam Zaree auf eine Reise um die halbe
Welt. Die Zuschauer*innen begleiten sie bei den Versuchen, andere
Exiliraner*innen zum Sprechen zu bringen, die und deren Kinder ein
ähnliches Schicksal haben. Im Hintergrund iranische psychedelische Popmusik
von Kourosh Yaghmaei aus den 1970er Jahren. Kaum vorstellbar heute, wo die
Entwicklung damals stand, die die Mullahs so brutal kappten.
Zaree begibt sich zu Treffen der iranischen Exilorganisationen in Italien,
Frankreich oder der Bundesrepublik. Sie trifft dabei auf lebenslustige,
sich farbenfroh kleidende iranische Feministinnen, die sich wie ihre Mutter
trotz der traumatischen Erfahrungen eine große Herzlichkeit und Wärme
bewahrt haben. Sie begegnen Maryams Interesse voller Solidarität, doch wie
ihre Mutter wollen nur die wenigsten retrospektiv (und höchst ungern vor
laufender Kamera) über die Dinge sprechen, die sie im Gefängnis erlebt
haben.
Manchmal ist sie nahe daran, Kinder, die wie sie in Haft geboren wurden, in
Großbritannien, Frankreich, Deutschland oder den USA aufzustöbern. Doch bis
auf eine Ausnahme machen diese meistens im letzten Moment einen Rückzieher.
Aus ähnlichen Gründen wie wahrscheinlich auch ihre Mutter. Es geht
individuell um Schutz und Selbstschutz vor vielleicht allzu schlechten
Erinnerungen. Die emotionale Intensität dieser Recherche wird von der
exzellenten Kamera Siri Klugs mit dem richtigen Maß an Nähe und Distanz
fest gehalten. Und Zaree gelingt es als Regisseurin wie Darstellerin ihrer
selbst, an die Grenze dessen zu gehen, was sich filmisch ausloten und
abbilden lässt. Es scheint keineswegs zu intim, sich und die
Öffentlichkeit 2019 mit den Schicksalen anderer Biografien zu
konfrontieren, die sich von der westeuropäischen Nach-1945er-Norm doch
stark unterscheiden und die doch unter uns anwesend sind.
Alte Erinnerungsstücke
Maryam befragt für den Film auch ihren Vater Kasra, von dem sie gewaltsam
getrennt wurde und der erst viel später seinen Weg ins Exil fand. Gemeinsam
sichten die beiden alte Erinnerungsstücke, etwa Filmbotschaften, die sie
aufnahmen und sich zwischen Europa und dem Mittleren Osten zusandten. In
solchen Begegnungen kommt die Außerirdische zu sich selbst und wird wieder
zu dem Kind, das sie einst war und niemals mehr sein kann.
In den letzten Jahren war das iranische Kino regelmäßiger Gast auf den
Berliner Filmfestspielen und viel geehrt im Wettbewerb vertreten. Die 69.
Berlinale muss dieses Mal ohne die ganz großen iranischen Namen auskommen.
Die Zensur der Mullahs lässt kaum mehr etwas zu. Nur wenige Filmkünstler
wie Jafar Panahi spielen dem Regime trotz Berufsverbot weiterhin Streich um
Streich. Sein zuletzt heimlich gedrehter und außer Landes geschaffter Film
„Drei Gesichter“ lief zum Jahreswechsel in den internationalen Kinos.
Maryam Zarees „Born in Evin“ ist nun mehr als ein Platzhalter: Es ist der
wichtigste Beitrag über den Iran auf der diesjährigen Berlinale. Und er
stammt von einer Deutschen aus Berlin.
10 Feb 2019
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
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