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# taz.de -- Berlinale – Interview mit Florian Kunert: „Beide haben ihre Hei…
> „Fortschritt im Tal der Ahnungslosen“: Florian Kunert bringt syrische
> Asylbewerber mit ehemaligen DDR-Bürgern zusammen.
Bild: Florian Kunert am Rande der Berlinale
Syrische Asylbewerber landen in der Sächsischen Schweiz, zu Zeiten der DDR
ein „Tal der Ahnungslosen“ ohne Empfang von Westfernsehen, und werden im
ehemaligen Wohnheim des Kombinats Fortschritt Landmaschinen untergebracht.
Der in der Sächsischen Schweiz geborene Filmemacher Florian Kunert nutzt
diese zufällige Konstellation für einen experimentellen Dokumentarfilm, in
dem er die DDR-Vergangenheit mit ungewohnten Mitteln aufarbeitet.
taz: Herr Kunert, Ihr Film handelt, vereinfacht gesagt, von syrischen
Asylbewerbern im ehemaligen „Tal der Ahnungslosen“. Wie wurde das Thema für
Sie ein Filmstoff?
Florian Kunert: Der Auslöser war für mich, als die Pegida-Demonstrationen
2015 losgingen. Ich hatte mich gefragt, warum es diese heftige emotionale
Reaktion gibt. Und dann hatte ich das Asylbewerberheim in meiner
Heimatstadt besucht. Das war im ehemaligen Kombinat Fortschritt, in den
einstigen Wohnstätten.
In Neustadt in Sachsen.
Ich kannte den Ort schon, als ich ein Kind war, hatte aber sehr wenig
Wissen über ihn. Ich wusste, da gab es irgendwas mit „Fortschritt“. Die
Hälfte meiner Familie hat dort gearbeitet, aber es wurde sehr wenig
erzählt. Und dann haben die Asylbewerber mir Fragen gestellt, was das für
ein Ort ist. Das Gebäude sah aus, als sei es im Krieg zerstört worden, es
war alles schon ruinös. Es hat sie auch an ihre Heimat erinnert. Dann habe
ich gemerkt: Ich muss mal recherchieren, damit ich auch Antworten habe. Und
gleichzeitig habe ich an diesen unterschiedlichen Perspektiven auf diesen
Ort gemerkt, dass hier eine Chance liegt, etwas im Film zu erzählen.
„Fortschritt“ ist sozusagen der Schnittpunkt.
Sie wurden 1989 in der DDR geboren. Aufgewachsen sind Sie im vereinten
Deutschland. War die DDR für Sie schon gar nicht mehr so präsent?
Doch, aber ich habe mich halt gefragt, warum und in welcher Form. Die
Recherche zu dem Film war für mich sehr erkenntnisreich, weil ich viele
prägende Emotionen plötzlich verstehen und zuordnen konnte. Denn dieser
generationsübergreifende Prozess, wie Erinnerungen an die nächste
Generation weitergegeben werden, der findet zwar die ganze Zeit statt. Aber
wenn man nicht selbst die Erfahrung gemacht hat, in der DDR gelebt zu
haben, dann weiß man gar nicht, wohin damit. Das ist ein bisschen das
Schicksal dieser Generation, die um 89 geboren ist.
Im Film überlagern sich zwei Arten von Verlust: Die syrischen Protagonisten
mussten aus ihrem Land fliehen, die älteren Bewohner der Sächsischen
Schweiz verloren ihre bisherige „Heimat“, als die DDR der Bundesrepublik
beitrat. Hatten Sie diese beiden Ebenen von Anfang an als Dialog geplant?
Ehrlich gesagt, war das etwas, das sich im Herstellungsprozess des Films
ergeben hat. Am Anfang standen diese unterschiedlichen Sichtweisen auf die
Vergangenheit, vor allem weil die Syrer plötzlich ihre andere
Konditionierung mit in diese Gegend gebracht hatten.
Man erfährt zugleich, dass die DDR wirtschaftliche Beziehungen zu Syrien
unterhielt.
Dadurch, dass zudem eine Beziehung zwischen Syrien und der DDR bestand und
es „Fortschritt“ (d. h. deren Landmaschinen, Anm. d. Red.) auch in Syrien
gab, fiel mir auf: Da verzahnt sich die DDR mit der Arabischen Republik
Syrien von damals auf eine Art und Weise, sodass das Archivmaterial aus der
Zeit heute eine ganz andere Bedeutung bekommt. Das habe ich dann als
Narrative für den Film verwendet.
Etwa alte Werbefilme für das Kombinat Fortschritt.
Oder die „Aktuelle Kamera“, die den Staatsbesuch von Hafis al-Assad in der
DDR zeigt. Erich Honecker war auch in Syrien zu Besuch. Das ist ganz
krasses Material, wenn man sich das heute anschaut. Das hat ja jetzt eine
ganz andere Bedeutung als vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Und die macht der
Film sich narrativ zunutze. Ohne direkt den Heimatverlust von Syrien und
der DDR zu vergleichen. Der Film stellt beides nebeneinander und verzahnt
es auf eine Art und Weise, sodass man darüber nachzudenken beginnt:
Irgendwie haben die ja beide ihre Heimat verloren. Was heißt denn das? Für
mich war die Idee, zu sagen: Hey, die DDR-Bürger haben irgendwie auch eine
Migration ohne Bewegung hinter sich und mussten sich integrieren, in einem
neuen Land zurechtfinden, orientieren.
Ein komischer Aspekt des Films ist, dass Sie die Syrer an DDR-Reenactments
teilnehmen lassen. Sie bekommen Staatsbürgerkunde oder werden in Uniformen
gesteckt. Wie haben die Beteiligten diese Form der „Aneignung“ erlebt?
Es war für alle eine Überraschung, als sie zum Set kamen. Ich hatte sie
zwar vorbereitet, aber niemand konnte genau wissen, was passiert, weil es
ein Experiment war. Die ehemaligen DDR-Bürger haben natürlich eine ganz
andere Reaktion auf diese Dinge gehabt, weil sie das kannten, es hat
bestimmte Erinnerungen hervorgerufen und damit eine gewisse Sprache. Das
war Sinn und Zweck dieser Reinszenierung: ein Setting zu schaffen, in dem
es für die Darsteller schwierig wird, verfestigte, althergebrachte
Narrative zu erzählen.
Welche genau?
Wenn man einen ehemaligen DDR-Bürger fragt, wie es damals war, dann kommt
ein Satz, den hat er tausendmal gesagt. Und das ist ziemlich langweilig.
Wie kann man da Mittel im Film finden, um seine anderen archivierten
Erinnerungen anzuzapfen? Das passiert einfach durch diese Situation, die
wir geschaffen haben.
Und wie sah es bei den Syrern aus?
Für die syrischen Darsteller war es eine Chance, die Vergangenheit oder das
Spezielle dieses Orts, an den sie verpflanzt wurden, zu begreifen – tiefer
zu begreifen als in diesem Orientierungskurs, den sie als Asylbewerber
machen müssen. Da lernen sie ja auch über die NS-Zeit und die DDR. Dass an
diesem Ort etwas anders ist als im Rest der Bundesrepublik, merken sie im
Dialog mit ihren Freunden, die im Westen oder außerhalb Sachsens gelandet
sind.
Wo sind die syrischen Darsteller heute?
Traurigerweise sind alle weggezogen. Der Hassan (ein Darsteller, Anm. d.
Red.) hat bei der Premiere auch klipp und klar gesagt: Wir haben aus dieser
Zeit ganz viele Freunde und tolle Erinnerungen, aber wir haben auch ganz
viele richtig hässliche Erfahrungen gemacht.
Das Thema Rassismus kommt im Film eher am Rand vor.
Ich mache ja eine ganz konkrete Erinnerungsarbeit. Dafür brauchte ich eine
gewisse Bereitschaft der Darsteller. Wenn ich etwa mit Pegidisten
gearbeitet hätte, die ich auch in der Recherche interviewt habe, dann wäre
ich wohl auf wenig Bereitschaft und verhärtete Ansichten gestoßen. Diese
Offenheit, sich so einer Erinnerungsarbeit hinzugeben, wie es die
Darsteller gemacht haben, wäre nicht dagewesen. Der Film hingegen
konzentriert sich auf eine ganz spezielle Gruppe von Menschen und einen
speziellen Aspekt der DDR, den ich so noch nicht repräsentiert gesehen
habe.
Gab es ablehnende Reaktionen?
Ich glaube, dass niemand so richtig verstanden hat, was ich eigentlich
wollte. Die meisten haben wohl geglaubt: Der Florian macht jetzt so einen
Historienfilm über „Fortschritt“. Deswegen war es interessant, dass wir ein
Screening vor der Premiere in Neustadt hatten, um es den Neustädter
Darstellern zu zeigen. Der Kinosaal war voll. Nach dem Film wurde
detailliert diskutiert über die einzelnen Szenen. Man musste danach darüber
reden. Und das war genau, was ich mir gewünscht hatte: diesen Diskurs
wiederaufleben zu lassen und neue Blickwinkel einzubringen. Auch nach der
Premiere hat man gesehen: Manche müssen sofort ihre Meinung raushauen.
Irgendwas macht der Film, und es freut mich, dass das funktioniert. Wir
haben anderthalb Jahre daran herumgeschnitten, um so etwas möglich zu
machen.
Haben Sie bei der Arbeit am Film viel über die Lage in Syrien gesprochen?
Ja, auf jeden Fall.
Es ist aber einfach nicht Thema des Films.
Nein, und das wird oft missverstanden. Weil viele Zuschauer die Syrer im
Film als Protagonisten suchen. Die finden sie aber nicht. Die Asylbewerber
haben uns viel über ihre Flucht erzählt. Das ist aber ein ganz anderer
Film. Die Syrer waren in dem Sinn keine Protagonisten, sie sind
Co-Researcher gewesen. Ich sehe sie mehr auf meiner Seite hinter der
Kamera, die dabei geholfen haben, die Erinnerungsarbeit mit den ehemaligen
DDR-Bürgern zum Laufen zu bringen. Der Fokus des Films ist ganz klar diese
deutsche Vergangenheit. Wenn man hingegen einmal anfängt, von den syrischen
Geflüchteten zu erzählen, interessiert sich niemand mehr für die DDR –
einfach, weil das viel krassere Schicksale sind.
15 Feb 2019
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
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