# taz.de -- Thomas Heise über seinen Berlinale-Film: „Der Osten ist ein Pick… | |
> Mit „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ erzählt Thomas Heise anhand von | |
> Briefen seiner bekannten Eltern eine Geschichte Deutschlands im 20. | |
> Jahrhundert. | |
Bild: Still aus Thomas Heises „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ | |
Es hätte viele Orte gegeben, an denen das Gespräch mit Thomas Heise | |
stattfinden hätte können. Orte, die in seinem neuen Film „Heimat ist ein | |
Raum aus Zeit“ (Forum) eine zentrale Rolle spielen, wie Wien, Zerbst oder | |
das Ostkreuz in Berlin. Geworden ist es ein Stück Bohème-Heimat, Ostberlin, | |
Ecke Schönhauser. Wir sprechen über seine ersten Drehs 1987 mit Heiner | |
Müller (auf VHS) und über auf 35 mm gedrehtes Material vom Abriss des | |
Palasts der Republik, das er gern zur Eröffnung des Schlosses auf dasselbe | |
projizieren würde. Sein Humor ist ernst, sein Deutschlandbild westkritisch, | |
seine Filmarchäologie legendär: Das Material zu „Heimat …“ entstammt 40 | |
privaten Aktenordnern, umspannt 100 Jahre, läuft 218 Minuten und macht das | |
„Fließen der Geschichte“ sichtbar. | |
taz: Gab es einen konkreten Ausgangspunkt für diesen Film, der vom | |
Schulaufsatz des Wilhelm Heise 1912 bis ins Jahr 2014 reicht, dem Jahr als | |
Rosemarie Heise (Thomas Heises Mutter, Anm. d. Red.) starb? | |
Thomas Heise: Vielleicht eine innere Logik, aber keinen Ausgangspunkt. Ich | |
wusste, dass ich das mache. Und zwar schon immer. Ich hatte das ganze | |
Material – Briefe, Tagebucheinträge, Notizen, Aufsätze – es lag bei mir in | |
Kisten. | |
Und ab wann haben Sie sich an die Kisten gemacht? | |
Die Idee zu dem Film gab es schon ganz früh. Das Ausgangsmaterial entstammt | |
den Aufnahmen zum „Berlin 24“-Projekt aus dem Jahr 2009. Ich hab mir damals | |
schon bewusst das Ostkreuz gesucht, gedreht, weggepackt, weggelegt – für | |
diesen Film jetzt. Dann kam mein Film-„Material“, wo wieder etwas übrig | |
blieb. Dann muss man eine Zeit abwarten. Bis das Datum wieder geht. Man ist | |
abhängig von den Fernsehsendern, die nur in der Gegenwart denken. Die leben | |
ohne Blick zurück, da gibt es nur die ZDF-History-Scheiße, anderes gibt’s | |
da nicht. | |
Der „Anlass“ war also [1][30 Jahre Wende beziehungsweise | |
Wiedervereinigung?] | |
Zumindest unbewusst. Nur Heiner Müller ist ein gesamtdeutsche Figur, der | |
Wolfgang Heise (Thomas Heises Vater, Anm. d. Red.) oder der Wilhelm Heise | |
(Thomas Heises Großvater, Anm. d. Red.) sind Übergangsfiguren. | |
Gab es die Gefahr, dass es zu privat wird? | |
Das habe ich gedacht, ob ich da was ans Tageslicht zerre, was vielleicht | |
nicht geht. Aber natürlich weiß ich ja durch diese Briefe und die Arbeit | |
mehr von meinen Eltern und Großeltern, als ich so je von ihnen erfahren | |
habe und erfahren konnte. Das ist ein anderes Kennenlernen. Mir geht es da | |
nicht viel anders als dem Zuschauer. | |
Sie lesen diese Briefe selbst vor. | |
Was wir da aufgenommen haben, entstand immer dann, wenn grad wieder ein | |
Brief dran war oder ein Stück. Das ist schnell gelesen, ohne Probe. | |
Eigentlich war geplant, eine Sprecherin zu haben. Aber nicht, weil das | |
nicht funktionierte, sondern weil es anders nicht funktionierte, haben wir | |
es gelassen. Man hört beim Lesen auch die Schnitte. Das ist ziemlich roh. | |
Diese Rohheit ist aber gut. Denn wenn das so eine Perfektion kriegt, wird | |
es langweilig, man kann es platt bügeln. Dann sieht es am Ende so aus wie | |
History-TV. | |
Was hier einzigartig ist als Versuch, die große Historie im Kleinen zu | |
erzählen, ist nicht nur die Verschränktheit der deutschen Geschichte als | |
Vorkriegs-/Nachkriegs-Geschichte/n, sondern auch, dass jede Generation von | |
ihrer ganz eigenen „Austreibung des Geistes“ durch die Systeme erzählt. | |
Immer. Die ganze Zeit! Richtig. Das schreibt der 14-jährige Wilhelm Heise | |
ja zu Beginn in seinem Schulaufsatz. Dass es genau darum geht: Die | |
Untertanen haben keine Ahnung davon, was der Hintergrund ist, was sie da | |
leben. An der Stelle, wo du anfängst dagegen zu arbeiten, egal unter | |
welchem Regime, gibt es was auf die Mütze. | |
Ist es Zufall, dass mit Andreas Goldsteins „Der Funktionär“ (über den Vat… | |
Klaus Gysi) und Ihrem Film zwei zentrale Filme „über die DDR“ gerade jetzt | |
entstehen? | |
Äußerlich mag das ein Zufall sein, aber das liegt im Moment in der Luft. | |
Das hat natürlich mit der fehlenden Aussicht zu tun. | |
Aber die Aussicht war doch schon die letzten Jahre auch nicht so richtig | |
toll. | |
Ja, aber man könnte sagen, es verdichtet sich und würgt einem die Luft ab. | |
Da fallen einem dann solche Sachen ein. Da besteht ein Bedürfnis. Es ist | |
natürlich auch so, dass diese DDR-Geschichte so erst nach der Wende | |
entdeckt wurde, als vorhandenes Problem. Das kann ja auch interessant sein, | |
nämlich wenn es Konsequenzen hat und sich etwas ändert. | |
Da glauben Sie dran? | |
Da glaub ich natürlich nicht dran. Aber es wäre eine Möglichkeit, sich da | |
dran zu hängen. | |
Ist die DDR überhaupt heute ein Thema? | |
Das ist ein Thema. Das ist genau der Punkt: Es wurde nur behauptet, es sei | |
eben gar kein Thema. Jetzt spüren wir die Ergebnisse dieser Vereinigung | |
deutlicher und merken, dass auch die Geschichte komplett verschwunden ist. | |
Wenn es um die Betrachtung von Geschichte geht, geht die linear bis zur | |
Bundesrepublik und der Osten ist daran ein Pickel. Den drückt man aus. Nur | |
der Mauerfall ist interessant. Heiner Müller beschrieb das so – im Rahmen | |
der Modernisierung müssen die unproduktiven Teile abgestoßen werden. Ein | |
bisschen erzählt der Film das auch. Da geht es um Dinge, bei denen ich | |
sicher bin, dass sich viele gar nicht vorstellen können, womit die in der | |
DDR sich so befasst haben. Allein, dass man Borges liest mit einer | |
Selbstverständlichkeit. | |
Heiner Müllers Text aus dem Jahr 1992, veröffentlicht in der Frankfurter | |
Rundschau, ist der dramaturgische Höhepunkt am Ende des Films. | |
So einen Brocken wie diesen Text kann ich ja nicht an den Anfang setzen, da | |
hört keiner mehr zu. Am Schluss ist die Aufmerksamkeit so hoch, dass man an | |
diesem wirklich schweren Text ganz dran ist. Bei dieser „Glosse zum | |
deutschen Augenblick“ muss man eigentlich fassungslos sein, dass dieser | |
Text in der Zeitung stand und offenbar nicht beachtet wurde. Ich hoffe, | |
dass das funktioniert. Man kriegt da so eine Wachheit auf einmal. Das ist | |
auch bei dem Brief zum Selbstmord von Inge Müller so, wo die Bilder über | |
den Pariser Platz gehen. Auch dass diese Bekanntschaft oder Freundschaft | |
den Tod als Voraussetzung hat. Das sind so Vorgänge, wo man sagt: | |
Entschuldigung, aber wer denkt sich das bitte schön aus? | |
War das ein Problem: Wer von den Personen bekannter und weniger bekannt | |
ist? | |
Danach ist der Film ja nicht sortiert. Der spricht nach den persönlichen | |
Zeugnissen. Über Inge Müller wird ja was erzählt, über den Brief von meiner | |
Mutter Rosemarie. Das ist ein toller Brief. Es gab Texte, die sprachlos | |
machen. Auch dieser Abschieds-Liebesbrief an meinen Vater. Im ganz Profanen | |
taucht da plötzlich etwas unglaublich Poetisches auf und man weiß gar | |
nicht, wie man damit umgehen soll. Das ist das Schöne am dokumentarischen | |
Arbeiten. Oder Christa Wolfs Karte zur Wende. | |
Es gab also nie die Versuchung, einen eigenen Off-Text zu schreiben? | |
Wenn ich selbst einen Text in einen Film hineinschreibe, dann nur, wenn es | |
unumgänglich ist. Ich habe da überhaupt kein Bedürfnis. Ich bin ja auch | |
kein Literat oder so irgendwas. | |
Jede Epoche hat – das fällt bei den Briefen auf, die sich durch das gesamte | |
20. Jahrhundert ziehen – ihre Sprache, aber auch ihre Mentalitäten. | |
Dieser Brief des Großvaters Wilhelm mit 20 an Edith, aus Tirol, wo er | |
irgendwelche Mädels kennengelernt hat auf einer Art Hüttenparty in einer | |
Skibude. Da haben die gefeiert und meinten, „Grüß mal die Schwester“ – … | |
Schnapsidee, aber sie hat Edith letzten Endes das Leben gerettet, weil sie | |
einen Kommunisten heiratete in Berlin. Das kann man sich nicht ausdenken. | |
Das Kapitel zum allmählichen Abtransport von Ediths jüdischer Familie aus | |
Wien ist eines der stärksten Kapitel der Filmgeschichte zur Schoah. | |
Es war klar, dass ich diese Briefe aus Wien nicht über Bilder der Stadt | |
legen kann. Ich hatte mir die Deportationslisten bestellt, sie wurden immer | |
mehr. Am Ende waren das viele Seiten und 22 Minuten. Dann Schwarzbild. | |
Marika Rökk. Dann die zehn Haufen in Zerbst. Wahnsinn! – Im Grunde genommen | |
steht hier das 21. Jahrhundert neben einer Kaserne aus der Nazizeit. Die | |
ist so ein Fremdkörper in der Landschaft. Das fand ich interessant, dass | |
hier Historie und Science-Fiction in eins geht. | |
9 Feb 2019 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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