# taz.de -- Briefe von Sarah Kirsch und Christa Wolf: Zeugnisse des Auseinander… | |
> Der Briefwechsel der großen DDR-Schriftstellerinnen Sarah Kirsch und | |
> Christa Wolf zeigt: Politisches und Privates zu trennen, ist unmöglich. | |
Bild: Christa Wolf (links) und Sarah Kirsch bei einem Treffen 1985 in Hamburg | |
„So viel also. Auweia!“ Dies sind die letzten Worte an das Ehepaar Christa | |
und Gerhard Wolf. Es ist der Sommer 1992 und Sarah Kirsch versucht nach | |
dreißig Jahren Freundschaft, in einem Brief zusammenzuhalten, wenigstens | |
geradezurücken, was durch die Politik, durch das Leben erst ins Beben, dann | |
ins Wanken und zuletzt ins Rutschen geraten ist. | |
[1][Sarah Kirsch] ist zu diesem Zeitpunkt 54 Jahre alt, seit sechzehn | |
Jahren schon lebt sie im Westen. Und sie ist immer noch damit beschäftigt, | |
die Politik aus den Fasern des Privaten herauszufummeln. Was ihr, nebenbei, | |
nicht gelingt. Es geht in dem Brief an Gerhard Wolf – natürlich – um die | |
Stasi, also um die Erinnerung und die Deutungshoheit über gelebtes Leben. | |
Dieser Brief an die Wolfs ist der letzte – es folgt Schweigen bis in den | |
Tod. [2][Christa Wolf] stirbt Ende 2011 in Berlin; Sarah Kirsch eineinhalb | |
Jahre später in Schleswig-Holstein. Gründe für die Trennung der beiden | |
Frauen hätte es auch zuvor zur Genüge gegeben: die unterschiedlichen | |
Lebensentwürfe, die Temperamente, die verschiedenen literarischen Sujets, | |
Kirschs Ausreise im Jahr 1977. | |
Aber an ihr Ende wird die beiden Freundinnen die Politik bringen: der Fall | |
der Mauer samt deutscher Wiedervereinigung inklusive Deutungsschlacht um | |
das postsozialistische Kulturerbe. | |
Editiert und bei Suhrkamp veröffentlicht hat die 172 Briefe die | |
Vizedirektorin des Archivs der Akademie der Künste, Sabine Wolf, nebenbei | |
bemerkt nicht verwandt mit Christa und Gerhard Wolf. Der Titel „Wir haben | |
uns wirklich an allerhand gewöhnt“ zitiert einen Brief von Sarah Kirsch von | |
1974, in dem sie auf die fehlende Reisefreiheit Bezug nimmt. | |
## Ideologische Übergriffigkeit | |
Drei Jahre später wird sie die DDR verlassen. Man kann gar nicht anders, | |
als an raue Zeiten wie diese zu denken, wenn sich heute wieder die Gräben | |
auftun zwischen Künstlern, Intellektuellen samt medialer und akademischer | |
Unterfütterung. Es ist fast beruhigend, zu verstehen, dass das Politische | |
schon seit jeher nicht auszuklammern ist aus dem Schaffen Einzelner und den | |
Beziehungen untereinander. | |
Christa Wolf und Sarah Kirsch lernen einander in den Sechzigerjahren | |
kennen. Wolfs Ehemann Gerhard ist Lektor, er fördert junge Talente – und | |
Sarah Kirsch ist eines davon, ein besonders großes. Damals ist es ein | |
einziges kräftezehrendes Hickhack zwischen den DDR-Kulturfunktionären und | |
seinen KünstlerInnen. | |
In den Briefen, die damals zwischen Kleinmachnow bei Berlin und Halle an | |
der Saale, zwischen „den Kirschen“ und „den Wölfen“ wechseln, geht es … | |
zu oft um irgendwelche Konferenzen, Tagungen, Intrigen und SED-Plena. Die | |
ideologische Übergriffigkeit des Staates DDR auf seine Künstler sollte | |
jedeR im Hinterkopf haben, der meint, es sei da irgendwie möglich gewesen, | |
kreativ unter dem Radar zu fliegen. | |
Dabei sind sie, die Kriegskinder, einfach nur wild auf Leben. Sarah Kirsch | |
trennt sich von ihrem Mann Rainer, geht nach Berlin, liebt einen anderen | |
Mann, bekommt ein Kind von ihm, trennt sich erneut. Sie ist chaotisch und | |
witzig und irre begabt. Die Briefe aus diesen Jahren drehen sich stark um | |
Privates, Familiäres; es geht um Kinder und Enkel und Liebhaber, um | |
Gedichte und Feste auf dem Lande. | |
Derweil wird Christa Wolf immer stärker Teil des etablierten | |
Kulturbetriebs; sie setzt sich mit den Ideologen auseinander. Sie wächst | |
daran, durchaus auch künstlerisch, aber es zerstört sie auch. Sie erkrankt | |
an Depressionen, aber sie bleibt eisern dran an den Auseinandersetzungen. | |
## Randvoll mit Trauer | |
Als 1976 die maximal verunsicherte DDR-Führung den Sänger Wolf Biermann | |
ausbürgert, protestieren die Wolfs und Sarah Kirsch dagegen. Im Jahr 1977 | |
reist Sarah Kirsch aus, Christa Wolf bleibt zurück im Osten und reibt sich | |
am Kulturbetrieb und dessen mitunter eine Zumutung darstellenden | |
Vertretern. | |
Sarah Kirsch bereist endlich die Welt. Sie wird PEN-Mitglied, Stipendiatin | |
der Villa Massimo, sie kommt an. In ihrer zweiten Heimat Tielenhemme in | |
Niedersachsen wird sie zur passionierten Gärtnerin – in ihren Briefen an | |
Christa Wolf überbrückt sie mit Abhandlungen über Salat und Bäume die | |
wachsende politisch-ideologische Ost-West-Kluft zwischen sich und Wolf. | |
Über den Reaktorunfall in Tschernobyl schreibt sie nach Berlin: „Ich war | |
und bin über jenes Ereignis eigentlich randvoller Trauer, der Schmelz des | |
Planeten ist endgültig weck aber dennoch oder gerade liebe ich ihn sehr | |
alle Lieben sind Waisenkinder dagegen, die Liebe zu den Männern war ja ein | |
Klacks!“ | |
## Angespanntes Schweigen | |
Christa Wolf reibt sich derweil auf ihre ernste Weise an den Zuständen. In | |
den Achtzigern erscheint von ihr das hochpolitische Buch über die Seherin | |
„Kassandra“. Die DDR blutet künstlerisch aus, ihr laufen die Menschen | |
davon. Die Wolfs können reisen, sie tun es, sie arbeiten. | |
Sie ist auch eine stille Helferin der Wartenden, Zagenden. Und Kirsch | |
versteht zunehmend weniger, was ihre Freundin da noch kämpft im Osten. | |
Dann, gleich nach dem Fall der Mauer, greifen Zeit und FAZ die ostdeutsche | |
Großdichterin Wolf an, es geht um die Frage nach der Legitimation von Kunst | |
im repressiven Staat. | |
Christa Wolf steht unter politischem und künstlerischem | |
Rechtfertigungsdruck. Zwischen ihr und Kirsch herrscht angespanntes | |
Schweigen. Kurz vor Weihnachten 1990 schreibt sie den letzten Brief an die | |
nicht nur räumlich fern gewordene Freundin. | |
„Ich hätte mich in diesem langen Sommer über ein Wort von dir gefreut. Ich | |
möchte nicht, daß wir vielleicht durch ein Mißverständnis noch mehr | |
auseinandergetrieben werden.“ Sofort und ganz kurz fällt die Antwort vom | |
Lande aus. „Vielleicht kannste die Politik auch mal wieder dahin rücken wo | |
sie hingehört, diesz wünsche ich dir doch sehr von Herzen, sonst ist es | |
kaum möglich zu schreiben.“ | |
Tatsächlich wird es unmöglich. Diesem Prozess beizuwohnen, macht die | |
Lektüre dieses Briefwechsels zu einem literarischen Ereignis von ganz | |
besonderer Traurigkeit. | |
9 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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