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# taz.de -- Gesammelte Briefe von Paul Celan: Die Chance liegt im Halbdunkel
> In seinen Briefen zeichnet der Dichter Paul Celan ein Bild vom
> Kulturleben der jungen BRD. Nun sind sie in einem neuen Band erschienen.
Bild: Paul Celan (rechts) und seine Frau Gisèle Celan-Lestrange
Ob Briefe an seine Ehefrau Gisèle de Lestrange, die verehrte Kollegin Nelly
Sachs oder die [1][zeitweilige Geliebte Ingeborg Bachmann]: Vom
umfangreichen Briefwechsel [2][Paul Celans] ist bereits vieles ediert. Aber
soeben ist eine Auswahl von 691 Briefen erschienen, von denen immerhin 330
Stücke bislang unveröffentlicht sind. Die bekannte Celan-Forscherin Barbara
Wiedemann hat die Auswahl getroffen und die Texte akribisch kommentiert.
Es ist ein Lesebuch geworden, das auf ergreifende Weise dokumentiert, wie
ein Dichter, dessen Eltern im Holocaust umkamen, den Folgen der Barbarei
selbst zum Opfer fiel und trotzdem noch einmal Verse hat schreiben können,
die zum Besten dieses unseligen Jahrhunderts zählen. Sie sollten viele
Leser finden.
Celan, geboren in Czernowitz, zeichnet in seiner Korrespondenz ein
detailliertes Bild des kulturellen Lebens in der Bundesrepublik der 50er
und 60er Jahre, das noch von einer desaströsen Verwirrung der Gedanken und
Begriffe geprägt ist. In den Medien hatte mancher Unterschlupf gefunden,
der noch vor Kurzem den Nationalsozialisten das Wort geredet hatte, und der
Dichter versucht verzweifelt, ein reines Echo zu finden.
Max Bense etwa, der Philosoph, der naturwissenschaftliche Rationalität und
Ästhetik miteinander verbinden wollte, Gegner der Nazis, aber Atheist wie
diese war, störte eine Lesung Celans in Stuttgart, indem er seinen
Studenten gegenüber die vorgetragenen Gedichte lautstark als misslungen
bezeichnete. In diesen Zusammenhang gehört auch die Verleumdung durch
Claire Goll, die vielerorts verbreitete, Celan habe Gedichte ihres
verstorbenen Ehemanns Iwan schändlich plagiiert, wofür der Beschuldigte
seinen Briefpartnern gegenüber wieder und wieder Gegenbeweise antrat.
Celan war hypersensibel, und was er wahrnahm, musste ihn in den
Verfolgungswahn treiben.
Die Dokumente sprechen von großer Einsamkeit und dem Bedürfnis nach
Austausch. Celan wusste, dass er die anderen brauchte, um Anerkennung und
Anregung zu empfangen. Der ebenfalls aus der Bukowina stammende
Schriftsteller Alfred Margul-Sperber hatte 1946 Gedichte Celans an den
Schweizer Kritiker Max Rychner geschickt, der von diesen dann einige
veröffentlichte. Der Dichter ist Rychner aber nicht nur für den Abdruck
dankbar: Durch seinen Einsatz bei Margul-Sperner hat er zum Entstehen des
Gedichts „Nachts, wenn das Pendel“ und überhaupt zu Celans Weiterschreiben
beigetragen.
## Aufschlussreich fürs Verständnis der Gedichte
Den betreffenden Brief hat er nicht abgesandt: „Und dieses Gedicht selbst:
wäre es je entstanden, wenn Sie damals nicht jenen Brief an Alfred Sperber
geschrieben hätten? Bestimmt nicht. Und ich? Ich wäre wohl längst schon
dort, wo Gedichte nicht mehr zum Möglichen gehören, wo es keinerlei
Sprechen und Sagen mehr gibt.“ Durch den Hinweis Margul-Sperbers war Celan
auch sehr früh – 1946 – auf Henri Michaux aufmerksam geworden, dessen Texte
er sehr bewundern und in Auswahl übersetzen sollte.
Für das Verständnis der Gedichte bietet der Band auch viel
Aufschlussreiches. Besonders deutlich wird Celan seinem Freund Paul
Schallück gegenüber, der dem katholischen Milieu verpflichtet war. Er
schreibt: „… wir, gezeichnet von einem Geschehen, das uns gerade jenen Halt
genommen hat, dessen wir bedürften, um über sein Woher und Wohin
nachzusinnen – dieses Halbdunkel ist unser aller ‚Licht‘, Süchtige sind …
alle … die Chance einer Genesung liegt dort, wo die Konturen sich wieder im
Dunkeln verlieren.“
Er ist sich bewusst, dass der Holocaust ihm jede theologische Sicherheit
genommen hat, um das Unfassliche zu deuten. Dennoch klammert er sich an die
Idee eines Halbdunkels, in dem Dichtung noch Raum lassen soll für
Undenkbares und Unaussprechliches. In diesem Sinn bezeichnet er sich selbst
auch einmal als „ein Schwellenwesen, halb von gestern, halb von heute“ oder
spricht vom „liminaren Charakter“ des Dichterischen, dem
„Nie-zur-Ruhe-Kommenden des Poetischen“ und vom „Unendlichkeitsanspruch“
von Aussagen in diesem Bereich.
## Die Ratlosigkeit zum Ausdruck bringen
Sich selbst zu positionieren, hieß für Celan, an etwas festhalten zu
wollen, das die Geschichte gerade restlos zerschlagen zu haben schien – die
Möglichkeit, gleichzeitig Jude und Dichter deutscher Zunge zu sein. Er
wendet sich 1955 an den Franzosen René Char, dessen Werke er übersetzt, um
seine Ratlosigkeit zum Ausdruck zu bringen: darüber, dass sowohl der
Tübinger Turm, in dem Hölderlin seine letzten Jahrzehnte verbrachte, als
auch Auschwitz zur deutschen Vergangenheit gehören, dass in dem Moment, in
dem er Tübingen besucht, sowohl der Turm noch steht als auch der braune
Ungeist noch immer untergründig rumort: „Inmitten sich zunehmend
verdüsternder Dinge dieser Turm, auch er ist deutsch …“.
In politischer Hinsicht äußert er sich vorsichtig, nennt aber mehrfach mit
Sympathie Gustav Landauer, den deutsch-jüdischen Schriftsteller,
Theoretiker und Aktivisten eines anarchistischen Sozialismus, der mit dem
Philosophen und Bibelübersetzer Martin Buber befreundet und wie dieser an
Traditionen der Mystik interessiert war. Einem Brief an den Romancier und
Übersetzer Reinhard Federmann, der ebenfalls jüdische Wurzeln hatte, fügt
Celan die Einladung zu einem gemeinsamen Hühnchen-Essen bei, das in seiner
Pariser Wohnung stattfinden sollte. Scheinbar beiläufig setzt er hinzu:
„wir werden schon noch Schabbes machen“. Wie sein Freitod in der Seine
zeigt, den er 1970 wählen sollte, hat Celan diese Zuversicht selbst nicht
mehr gehabt. Für uns Heutige hat er dennoch einen Kassiber hinterlassen.
Celans Vertraute Hannelore Scholz, deren Identität lange ungeklärt war,
hatte der Dichter als Studentin während seiner Unterrichtstätigkeit an der
Sorbonne in Paris kennengelernt. Am Ende eines seiner Briefe bittet er sie
unvermittelt um einen Gefallen: „Bitte schreibe nicht mit roter Tinte!“
Celan erklärt seine Bitte nicht, und doch ist sie beredt. Da meldet sich
noch einmal die Angst, irgendein Beckmesser könnte sich zum Richter
aufschwingen, mit dem Rotstift korrigierend und streichend in seine Verse
fahren – und er selbst als Jude, Mensch und deutscher Dichter ausgelöscht
werden.
12 Jan 2020
## LINKS
[1] /Briefwechsel-zwischen-Celan-und-Bachmann/!5177328
[2] /Paul-Celan/!t5625593
## AUTOREN
Eberhard Geisler
## TAGS
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