# taz.de -- „Nimbus“ von Marion Poschmann: Die Sanftheit der Schneeflocken | |
> Sie reiste in die Mongolei, nach Sibirien und Japan. Marion Poschmann hat | |
> ihre Erfahrungen vielfältig in ihre Gedichte einfließen lassen. | |
Bild: Poschmann schreibt selbst aus der „Scham einer Seele aus Schnee“ | |
[1][Marion Poschmann] zählt zu denjenigen Repräsentanten der gegenwärtigen | |
deutschsprachigen Lyrik, die sich am konsequentesten innerhalb einer weit | |
ausgreifenden Suchbewegung befinden. Vor einiger Zeit hielt sie im Rahmen | |
einer Reihe der Universität Wien zum Thema des Verhältnisses von Dichtung | |
und Spiritualität einen Vortrag mit dem Titel „Figuren des | |
Unaussprechlichen“. | |
Nun hat sie einen Gedichtband vorgelegt, in dem sie ihre Reise durch | |
[2][die Mongolei], nach Sibirien und Japan zum Anlass nimmt, ihre | |
Suchbewegung näher zu bestimmen und Antworten auf ihre Fragen zu finden. | |
Zunächst: Lyrik erfüllt hier einmal mehr ihre wunderbare Aufgabe, | |
Seismografin der Epoche zu sein. Was ist mit einer Wirklichkeit los, die | |
voller Tetra Pak und anderem Plastikmüll steckt, in der Unheimliches | |
geschieht, die Nationen nach Erdöl jagen, der Waldbestand weltweit | |
schrumpft und man sich morgens wundern kann, dass die Glasflasche mit Milch | |
wie gewohnt vor der Tür steht, als wäre doch alles Gewohnte nicht längst | |
schon bedroht. | |
Die Dichterin weiß ein Hilfsmittel: die Metapher des Schnees. Sie meint | |
sowohl die Natur als auch das eigene Ich als etwas überaus Leichtes und | |
Kostbares zugleich. | |
## Rückbesinnung auf elementare Natur | |
„Bald campierte ich mit meinem Federbett / in den kälteren Nächten am | |
Straßenrand, um / der erschütternden Sanftheit der Flocken / ein Polster zu | |
sein“. Poschmann fühlt Verwandtschaft mit dem Verletzlichen und schreibt | |
selbst aus der „Scham einer Seele aus Schnee“. Es gibt sogar die | |
„Zungenrede des Schnees“, als könne diese Rückbesinnung auf elementare | |
Natur ein Vorbild werden am Ende für pfingstlich beflügelte poetische Rede. | |
Eine Sequenz von Gedichten widmet sich der Expedition, die der schwäbische | |
Forscher Johann Georg Gmelin (1709–1755) durch Sibirien unternahm, um die | |
dortige Natur in seinen Aufzeichnungen möglichst vollständig zu erfassen. | |
Was seinen Zweck in der Erschließung von Bodenschätzen und Handelsschätzen | |
haben sollte, wird in den Augen der Dichterin jedoch zum Desaster, und der | |
arme Forschungsreisende muss eine radikale Infragestellung der im Abendland | |
für sicher geglaubten Denkwelt erfahren. „Sein Ich fiel nicht mehr mit ihm | |
selbst zusammen, / er hatte maßlos weiten Raum entdeckt“. | |
Die Lyrikerin selbst sucht eine Weite, von der sich eine erstarrte | |
Ich-Identität in Frage stellen lässt, und hat dennoch zugleich Ich-Findung | |
wieder zum Ziel. Das macht die Lektüre spannend. Ihr lyrisches Ich | |
inszeniert gleichsam auf den Spuren von Edgar Allan Poe eine | |
Malstrom-Erfahrung, in der die Begegnung mit dem tosenden, grollenden Meer | |
in ein Innen führen soll, das wohl selbst jenseits alles Bekannten liegen | |
muss. | |
Wenn sie durch Sibirien reist, geht es ihr ebenfalls um Ich-Findung und die | |
Freisetzung der eigenen inneren Bewegung. „Sich ganz in den Schwung dieser | |
Gipfelkette zurückziehen“. | |
## Ode an die chinesische Seladon-Keramik | |
Der Band trägt ein Motto von Klopstock, und auch die Arbeit an der Sprache | |
ist hier höchst umsichtig und gleichsam schweifend geworden. Das reicht von | |
nüchterner Prosa hin zu Reim und hohem Ton, Formverzicht und Formsuche. | |
„Rettung des Weltklimas aus / dem Geist der deutschen Ode – / haben wir uns | |
da nicht etwas / viel vorgenommen?“ Neues Vertrauen in Dichtung ist es | |
immerhin. | |
Besonders anschaulich sind die Oden an die graugrüne chinesische | |
[3][Seladon-Keramik] geraten. „Ein zaubrisches Grau, das ins / Unbestimmte | |
zu kippen beginnt, / sobald man sich nähert“. Poschmann sucht keine banale | |
Abschilderung mehr, sondern dasjenige, was sich der Darstellung entzieht. | |
Einmal notiert sie: „Weit hinten erscheint eine Ferne, / so nah sie auch | |
sein mag“. Es handelt sich um eine fast wörtliche Übernahme von Walter | |
Benjamins Definition der Aura, mit der der Philosoph in Zeiten, in dem ihm | |
der Historische Materialismus politisch geboten schien, dennoch die Idee | |
einer Entrücktheit festhalten wollte, die etwas Ursprüngliches verbürgen | |
und Einspruch gegen eine Gesellschaft entseelter Massenproduktion erheben | |
sollte. | |
[4][Marion Poschmann] weiß um diesen Auftrag und sucht im Zenbuddhismus in | |
die Schule zu gehen und neue Achtsamkeit zu erlernen. „Glätte der | |
Teeschalen, pechschwarze Blüten in alten / Brokatbeuteln, frisch entfaltet | |
wie am ersten Tag“. Gibt es noch einmal Spiritualität, wird sie allein aus | |
genauem Hinschauen entstehen. | |
14 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Eberhard Geisler | |
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