# taz.de -- Zur Lyrik von Esther Dischereit: Einen Flügelschlag weiter | |
> Wo sich Gesagtes und Ungesagtes die Plätze teilen: Eine Begegnung mit der | |
> Berliner Dichterin Esther Dischereit und ihren wachen, klugen Gedichten. | |
Bild: Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin – 6 Millionen … | |
Meine Großmutter war 20 Jahre alt, als sie Hitler wählte, und sie war 91, | |
als sie starb und sich immer noch nicht entschließen konnte, auch nur eine | |
einzige Träne um sechs Millionen ermordete Juden zu weinen. Sie blieb hart | |
und selbstgerecht bis zum Schluss, und jedes Gespräch über die Schoah | |
machte sie nervös. Sie könne keinen Juden heiraten, hat sie mir mal gesagt. | |
Auch keinen Schwarzen. Außer einem Deutschen wäre für sie höchstens ein | |
Schwede in Frage gekommen. Auf den entsprechenden Vorwurf, eine Antisemitin | |
und Rassistin zu sein, hat sie empört reagiert. Auf keinen Fall sei sie | |
das. Sie würde die Nazis verachten. | |
Je länger meine Großmutter tot ist, desto unheimlicher werden mir ihre | |
Sätze, desto monströser die Lebenslüge der „anständigen Deutschen“. Es … | |
keinen gemeinsamen Alltag mehr, kein Rommé, nichts, was nach meinen | |
gescheiterten Versuchen einer Auseinandersetzung („Entschuldige dich bei | |
deiner Großmutter, sofort!“), wieder zum „normalen Ablauf“ überleiten | |
könnte. Fast täglich muss ich, trotz Corona, im Moment an sie denken. | |
Daran, dass sie panische Angst vor Zugluft hatte. Vor dem Wind, der ihre | |
Ruhe störte. | |
„Manchmal segelt ein einzelnes Blatt / zu Boden von Luftschlieren gefangen | |
/ und wieder freigegeben“. | |
Als ich der Sprache [1][Esther Dischereits und auch der Dichterin] selbst | |
begegnet bin, war meine Großmutter bereits tot. Dieser Umstand war für mich | |
eine Erleichterung. Ich müsste meine Großmutter gewissermaßen nicht mehr | |
mitbringen, könnte ihr „Mitläufertum“ im Präteritum erwähnen. Die Zumut… | |
die es für eine Jüdin sein muss, sich mit den Nachfahren der Täter an einen | |
Tisch zu setzen, kam mir wegen der nicht mitgebrachten Großmutter etwas | |
kleiner vor. | |
„Ihr habt mich getaucht / in diese immerwährende Schwärze / ihr habt die | |
Jüdin und das Mädchen / in euren Wänden aufgehängt / an meinen schwarzen | |
Haaren euer Glied gerieben / nach dem Mord besteigt ihr eure Opfer / wie | |
ihr sie liebt / die Toten“. | |
## In Zeiten rechtsextremer Gewalt | |
Es ist ein früher Freitagabend, als mir Esther Dischereit ihr neues Buch | |
zeigt. Sie bringt es mit in ein kleines Berliner Café und ich verstaue es | |
in meiner Tasche wie etwas, das ich lieber allein betrachten will. In den | |
nächsten Tagen fange ich an zu lesen, in Thüringen wählt Björn Höcke den | |
Ministerpräsidenten. In [2][Hanau erschießt ein rechtsextremer Rassist und | |
Verschwörungstheoretiker] neun Menschen, anschließend seine Mutter und sich | |
selbst – „wie ihr sie liebt / die Toten“. | |
Das Gedicht „Deutsches Lied“ hat Esther Dischereit 1996, mitten in einem | |
Jahrzehnt rechtsextremer Gewalt in Deutschland erstmals publiziert, es | |
findet sich jetzt – die Zeit ist abermals oder immer noch eine der | |
rechtsextremen Gewalt in Deutschland – in ihrem neuen Buch, einer | |
zweisprachigen Auswahl ihrer Lyrik wieder. | |
Aktueller könnte die Veröffentlichung nicht sein, wobei es eine gewisse | |
Ironie hat, dass dieses Buch nicht in Deutschland, sondern im englischen | |
Verlagshaus Arc Publications erscheint. Viele Jahre schon gilt die | |
Lyrikerin und Erzählerin Esther Dischereit als eine der interessantesten | |
zeitgenössischen Stimmen. In den USA und England wird sie aufmerksam | |
rezipiert und hier durch den vielfach ausgezeichneten Iain Galbraith | |
übersetzt. „Sometimes a Single Leaf“ ist der Titel des Gedichtbandes. | |
Originaltext und Übersetzung stehen nebeneinander. Die Lektüre kann | |
wandern, hin und her laufen oder vor einem Gedicht stehen bleiben, solange | |
sie will. | |
„Die Möwen schrien und / rannten auf den Mauern / verließen das Land / mit | |
einem Flügelschlag“. So wie die Möwen kann auch die Lyrik Esther | |
Dischereits mit einem Flügelschlag die Orte wechseln. Die Dinge verwandeln | |
sich, Subjekt und Objekt, schreibt Iain Galbraith in einem brillanten | |
Vorwort, tauschen die Rollen, und das Ich kann sich niemals sicher sein. | |
Ein unablässiges Hören und Zuhören treibt es an, eine Spannung, in der sich | |
das Gesagte und das Ungesagte die Plätze teilen. | |
## Als von Schuld niemand wissen wollte | |
Esther Dischereit ist 1952 in Heppenheim an der Bergstraße in Hessen | |
geboren. Ihre Mutter und ihre ältere Schwester haben, sich von Versteck zu | |
Versteck flüchtend, als eine der ganz wenigen den Holocaust in Deutschland | |
überlebt. Die Mutter starb früh, und die Schwester begann erst nach und | |
nach über ihre Erfahrungen zu sprechen. Ein Mittel zum Suizid hatte die | |
Familie lange nach dem Krieg noch bei sich zu Haus. In einer Gesellschaft, | |
in der die Täter ungestraft davonkommen und niemand von Schuld etwas wissen | |
will, schien es vernünftiger so. | |
„Was stehst du Baum / und siehst / in die Felder / die Bäche und Flüsse / | |
Mensch und Tier / die Luft steht steif gefroren / über deinen Ästen und / | |
weist mir Wege / von welchen / die da gewesen waren“. | |
Der Abgrund liegt vor der letzten Zeile: ein unmöglicher Sprung von der | |
Gegenwart ins Plusquamperfekt, in eine Vergangenheit also, die schon in der | |
Vergangenheit vergangen ist. Es ist das Zeitmaß der schweigenden Mehrheit, | |
eines der Verdrängung und Kälte, in der das Ich die Kraft zur Begegnung | |
aufbringen und die Spuren der Ermordeten suchen muss. Vor der Mitte, auf | |
die man sich in Deutschland seltsam optimistisch beruft, wird es sich dabei | |
besser hüten. | |
„Ich gehe und lasse meine Splitter liegen“. Das wäre so eine Sekunde, in | |
der Abstand gelingt und das Ich, für eine wunderbar schwebende Zeile, sich | |
selbst und die unheilbare Verletzung zurücklässt. | |
„Der Mond / tauchte / durch deine geschlossenen Augen / ich weiß nicht wie | |
du heißt / als die Nacht in deinen Armen lag / nahm ich die Küsse mit“. | |
Immer wieder trifft man in diesen Gedichten auf die Schönheit. Die Wärme, | |
die Küsse – auch sie gehören zu diesem Ich, das zu wach, zu klug ist, um | |
sich zu verschließen. Es hat Mut, dieses Ich, und im offenen Raum seiner | |
Sprache darf der Einsamkeit widersprochen, die Trauer empfunden werden. | |
Aufgewachsen auf der Seite der Täter, muss ich beim Lesen auch daran | |
denken. | |
Wie starr die Sprache meiner Großmutter war, wie stanzenhaft und unfähig, | |
sich der Wahrheit zu nähern. Sie wäre aus diesen Gedichten panisch | |
herausgerannt, hätte die Orientierung verloren. Und sie liebte es doch so | |
zu wissen, wo oben und unten, wo die Mitte ist. Genau dort, in der Mitte, | |
dort, wo die eigenen Selbstbilder nur selten bezweifelt werden, hat sie, | |
nach dem Krieg eine treue Wählerin der CDU, sich verortet. Ich höre ihr | |
Schweigen, und ich lese diese Gedichte Esther Dischereits, über die die | |
Schriftstellerin Preti Taneja gesagt hat, dass wir sie nicht dringender | |
brauchen könnten als gerade jetzt. | |
19 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Essay-Flucht-und-Gewalt-in-Deutschland/!5608267 | |
[2] /Nach-rassistischem-Anschlag-in-Hanau/!5665545 | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Wagner | |
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Josef S | |
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