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# taz.de -- Komplizierte Familiengeschichte: Historische Schränke rücken
> In dem Roman „Eine Handvoll Dollarscheine“ erzählt Esther Dischereit eine
> komplizierte jüdisch-christliche, deutsch-amerikanische
> Familiengeschichte.
Bild: Ehemaliger Flughafen Tegel, einer der vielen Schauplätze dieses Romans
Je weniger Familie man zu haben glaubt, desto umfangreicher ist sie am
Ende. Es treten neben den Gespenstern der Toten vermisste Onkel und Tanten
auf, die es nach Südamerika geschafft haben, aber von dort auch solche, die
man noch gar nicht kannte. Und eben der Großvater in den USA, der seinen
Briefen nach Deutschland immer genau einen Dollar beilegt, was den „Haufen
Dollarscheine“ ergibt, nach dem [1][Esther Dischereit] ihren Roman benennt.
Das Häuschen mit den Rosen, das die Großeltern in Philadelphia mit den
Wiedergutmachungsleistungen erworben haben, vermacht der Großvater seiner
christlichen Haushaltshilfe, die er in zweiter Ehe geheiratet hat. Die
Enkelin erinnert sich, dass sie ihren Sohn nicht mitnehmen durfte, wenn sie
ihn besuchte. Der Großvater wohnte in einem weißen Viertel.
Gerade hat sie das Flugzeug nach Rom bestiegen. Ihr Sohn und ihre Schwester
haben sie nach Tegel begleitet. Sie sitzen noch im Limbus der
Flughafenlounge, essen Erdnüsse, knabbern Schokoladenkekse und trinken
Segafredo-Kaffee. Und wenn sie in dieser VIP-Vorhölle den Besuch der
Romreisenden in Gedanken noch einmal Revue passieren lassen, folgen wir den
Erzählstimmen der „Tante“ und des „Neffen“, wie sie auf je eigenen Abw…
die komplexen Familienverhältnisse zu rekonstruieren und zu imaginieren
versuchen – seit dem Zeitpunkt, an dem sie durch die nationalsozialistische
Machtergreifung lebensgefährlich kompliziert wurden.
Wie Scott Fitzgerald es einmal formulierte, ist Nachdenken fürchterlich
anstrengend, als würde man schwere Schränke rücken. Und ob sie dann schon
an der richtigen Stelle stehen? Mit ihrer den Familienverhältnissen
entsprechenden, also nicht minder komplexen Kunst der Erzählung fordert
Esther Dischereit uns auf, mitzurücken, bis wir die handelnden Personen und
all die Orte – um nur Berlin, Rom, Oxnard, Chicago, Managua oder Heppenheim
zu nennen – richtig sortiert haben.
Zwar gibt sie uns mit einer anonymen, kommentierenden Stimme am Anfang und
am Ende des Romans Hilfestellung. Allerdings ihr sehr deutscher Ton
naseweiser, abgeklärter Distanziertheit trifft uns und schlägt uns peinlich
aufs Gemüt. Wir sind eines anderen Tons bedürftig, der Trauer und
Melancholie, des Witzes und des Sarkasmus in den Stimmen der „Tante“ und
des „Neffen“, die uns sofort in den Bann ziehen.
## Die fortgesetzte Ungeheuerlichkeit
Der naseweise Kommentar kennt nur das zynische Eingeständnis: „Sie wissen
genauso gut wie ich, dass andere Menschen auch sterben, wenn auch nicht an
Hitler. Manche sind an Hitler genesen, stehen auf mit Hitler, essen Hitler
und legen sich mit Hitler zu Bett: Im Häuschen ihrer Großeltern, als sie
noch in Berlin waren, beispielsweise.“ Genau diese Ungeheuerlichkeit setzt
sich nach dem Krieg in den Erfahrungen der Nachkommen von
Holocaust-Überlebenden fort: in der verweigerten Anerkennung von
Zwangsarbeit und dem verweigerten Zugang zu einem Bankdepot, für das die
seit 1942 ausstehenden Depotgebühren noch zu zahlen sind.
Sie setzt sich fort im Rechtsstreit um das Wiedergutmachungserbe des
Vaters. Seine zweite, arische Frau brachte einen Sohn mit in die Ehe, der
dann mit ihrer Hilfe die überlebende jüdische Tochter aus der ersten Ehe
des Vaters um dieses Erbe betrogen hat.
Diese Ungeheuerlichkeit setzt sich fort in der Unmöglichkeit, die Gebeine
der Mutter, die 1942 mit der Tochter in den Untergrund ging und dort mit
ihr überlebte, auf einem jüdischen Friedhof in Berlin umzubetten, wie es
die „Tante“ versucht hat. Sie muss aber erst einmal die Gebeine finden, da
das Grab der Mutter und ihres dritten katholischen Ehemanns undokumentiert
aufgelassen wurde.
Doch auch der „Neffe“ scheitert, als er seine Mutter, die Romreisende, nach
ihrem Tod durch Brustkrebs in einem noch existierenden Familiengrab
väterlicherseits in Berlin-Weißensee bestatten möchte. Er könne es für
20.000 Euro zurückkaufen, denn es gehöre der Familie nicht mehr, wo doch
die Mutter kein Gemeindemitglied ist, erklärt der russischstämmige Rabbi
dem „Neffen“, der verstört meint, er habe doch „von Enteignung immer nur
auf arischer Seite gehört“.
Dabei möchte der „Neffe“, dessen Vater der namentlich genannte
US-amerikanische schwarze Künstler und Bürgerrechtsaktivist Harold Bradley
ist, sein Judentum in ganz strenger Form leben. Seinem Wunsch, Mitglied der
Lubawitscher zu werden, steht jedoch der fehlende Nachweis jüdischer
Vorfahren bis 1800 entgegen.
## Eine engagierte Freidenkerin
Seine „Tante“ ist da wenig hilfreich, bleibt sie doch „uneinsichtig, was
das Interesse an jüdischer Reinrassigkeit betrifft“ – als politisch in den
1970er Jahren sozialisierte und weiterhin politisch engagierte
Freidenkerin. Ein Porträt der Autorin, deren außergewöhnliches Vermögen,
politische, [2][poetologisch-literarische und feministische Argumente
sowohl parallel wie kontrovers zu führen, in Gedichtbänden wie „Als mir
mein Golem öffnete“], in Erzählungen, Essays wie „Mit Eichmann an der
Börse. In jüdischen und anderen Angelegenheiten“, in Theaterstücken und
Ausstellungen und nicht zuletzt in ihrer Klage über die [3][Mordopfer des
NSU „Blumen für Otello“] schon lange begeistert.
Mit ihrer Geschichte als Kinder überlebender Mütter gehen die beiden also
ganz unterschiedlich um. Dabei treffen sie auf die Idiotie und die
paternalistische Heuchelei einer Gesellschaft, die sich zugutehält, noch
immer ihre Vergangenheit zu bewältigen, und sich gar nicht genug über
Antisemitismus ereifern kann, bei weitgehender Ahnungslosigkeit, wie und
wo er sich – auch bei ihnen – zeigt.
Sie treffen dabei aber auch auf eine jüdische Gemeinde und jüdische
Gesellschaft, die meint, in der Illegalität überlebt zu haben, gut und
schön, was tatsächlich interessiert, ist doch wirkliche Jüdischkeit. Es
waren eben „die deutschen Überlebenden und ihre Kinder für die in
Deutschland gestrandeten und Importierten so unwahrscheinlich wie für die
Nicht-Juden, sodass ihre bloße Existenz einen Makel darstellte, den sie
schwerlich loswerden konnten, und eigentlich zweifelten sie selbst daran,
dass sie Juden waren“, resümiert die „Tante“ ihre Erfahrung.
18 Jul 2025
## LINKS
[1] /Deutsche-Bahn-und-NS-Widerstand/!6096164
[2] /Zur-Lyrik-von-Esther-Dischereit/!5668189
[3] /Die-Geste-der-Trauer-ist-stolz-und-zaertlich/!328572&s=Esther+Dischere…
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
## TAGS
Roman
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Kunst im öffentlichen Raum
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