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# taz.de -- Christian Boltanskis „The Missing House“: Ein Kunstwerk über d…
> Mit „The Missing House“ erinnerte der Künstler Christian Boltanski 1990
> an die früheren Bewohner eines Berliner Mietshauses. Nun ist das
> Fassadenkunstwerk restauriert.
Bild: Zwei Industriekletterer bei der Montage der restaurierten Fassadenarbeit …
Wenige Gegenden Berlins haben sich nach dem Mauerfall so rasant und
umfassend gewandelt wie die Spandauer Vorstadt. Aktuell ist dem Viertel in
Mitte einer der höchsten Bodenrichtwerte der Stadt zugewiesen.
Ein komplett anderes Straßenbild fand Christian Boltanski 1990 dort vor.
Als er damals an [1][der kulturpolitisch außergewöhnlichen, in Ost- wie
Westberlin stattfindenden Ausstellung „Die Endlichkeit der Freiheit“
teilnahm] – die Mauer war schon gefallen, noch aber bestand die DDR –,
suchte der französische Künstler nach dem geeigneten Ort für eine
Installation im öffentlichen Raum. Unterstützt von zwei Ortskundigen
entdeckte er in der Großen Hamburger Straße 15–16 im ehemaligen Ostteil der
Stadt zwischen den bröckelnden Fassaden zweier Wohnhäuser eine asphaltierte
Brache, die eine Lücke markierte. Verbunden mit aufwendigen
Archivrecherchen von Christiane Büchner und Andreas Fischer realisierte
Boltanski (1944–2021) an dieser Stelle „The Missing House“.
Angebracht an den benachbarten Brandmauern, verweisen 24 schlichte Tafeln
mit wenigen Eckdaten auf die Biografien der ehemaligen Bewohner des im
Februar 1945 bei einem Bombenangriff zerstörten Wohnhauses: „1930–1945, G.
Jacobi, Kaufmann“; „1933–1942, H. Budzislawski, Geflügelhändlerin“;
„1934–1945, L. Miteau, Verwalterin“; „1930–1942, J. Schnapp, Beamter�…
„1941–1945, H. Hörchner, Feldwebel“. Bewusst weit gefasst erinnert
Boltanskis Werk damit an die historische Enteignung und Deportation der
jüdischen Mieter genauso wie an mögliche Zeugenschaft und Bereicherung.
In einem Gespräch mit der Kunsthistorikerin Doris von Drateln erläuterte
der Künstler 1990: „Was mich interessiert, ist das Gute und das Schlechte
in uns. Von einem Moment zum nächsten kann der Nachbar den Nachbar
umbringen. Das ist doch das Unglaubliche, der Schock an den Naziverbrechen,
dass das möglich war in Mitteleuropa, in einem hochzivilisierten Land des
20. Jahrhunderts.“
## Dahinter befand sich der älteste jüdische Friedhof Berlins
Unmittelbar gegenüber dem Grundstück in der Großen Hamburger Straße
befindet sich heute, durch einen hohen Sicherheitszaun geschützt, das
Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn. Ab 1942 diente die ehemals jüdische
Knabenschule mit dem jüdischen Altersheim nebenan den Nationalsozialisten
als Sammellager zur Deportation der Berliner Juden. In der DDR wurde das
Schulhaus als Berufsschule genutzt. Das Gebäude des Altersheims, hinter dem
sich der älteste jüdische Friedhof Berlins befand, war ebenfalls Anfang
1945 zerstört worden.
Als „The Missing House“ von Christian Boltanski 1990 entstand, erinnerte
wenig an die vor Ort verübten NS-Verbrechen, auch wenn Spuren des Kriegs
immer noch allgegenwärtig waren. Nach dem Ausstellungsende von „Die
Endlichkeit der Freiheit“ verblieb „The Missing House“ als einziges
Kunstwerk auf Initiative der damaligen Mieter im öffentlichen Raum
bestehen.
Wie vielerorts in Ostberlin wurden auch die Wohnhäuser 15 und 16 in der
Großen Hamburger Straße im Laufe der 1990er Jahre an ihre vormaligen
Besitzer rückübertragen und saniert. Als die heutige Münchner Eigentümerin
2023 eine Wärmedämmung der Brandmauern plante, stellte sich sogleich die
konservatorische Frage. Das Kunstwerk ist seit 2021 als Mahnmal in die
Denkmalliste eingetragen. Wieder war es der Initiative einer Mieterin zu
verdanken, dass unter Vermittlung [2][der Kunsthistorikerin und taz-Autorin
Sarah Alberti] der Kontakt zum Hamburger Bahnhof gelang.
Durch eine Schenkung Annette Messagers, der französischen Künstlerin und
Witwe Boltanskis, geht „The Missing House“ nun an den Hamburger Bahnhof.
Die nach 35 Jahren stark verwitterten Originaltafeln verbleiben im Museum.
Anlässlich des 80. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai werden die Schilder
derzeit an den beiden Brandmauern durch restaurierte Repliken ersetzt und
wieder dauerhaft für Passanten in Berlin sichtbar.
## Der Vater überlebt den Holocaust im Versteck
Boltanskis jüdischer Vater Étienne überlebte in einem Versteck ihrer
Pariser Wohnung die Besatzung der deutschen Wehrmacht. Die
Familiengeschichte des Künstlers diente als Vorlage zu dem Roman „La cache“
und dessen gleichnamiger Verfilmung, [3][die 2025 im Wettbewerb der
Berlinale] zu sehen war.
Christian Boltanski verstand seine Kunst nicht als eine, [4][die den
Holocaust zum Thema] hat, „sondern die sich erklärt, weil es den Holocaust
gegeben hat. Es ist eine Kunst danach.“ Exemplarisch zeigt das „The Missing
House“. Seit nun 35 Jahren regt das Kunstwerk an der Hausfassade in Berlin
Mitte auch auf einer allgemeingültigeren Ebene zu überraschend aktuellen
Fragen an.
5 May 2025
## LINKS
[1] /Doppel-Interview-zu-Kunstprojekt/!5763469
[2] /Doppel-Interview-zu-Kunstprojekt/!5763469
[3] /Abschluss-der-75-Berlinale/!6068358
[4] /Fueller-Kinder-von-Anne-Frank/!6081873
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
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