| # taz.de -- Doppel-Interview zu Kunstprojekt: „Es war eine Ausnahmesituation�… | |
| > Sarah Alberti und Grischa Meyer erinnern an ein Ausstellungsprojekt von | |
| > 1990. Zu sehen ist ihr Film bei der Kunstaktion „Die Balkone 2“. | |
| Bild: Giovanni Anselmo „Particolare“ in der Wohnung von Grischa Meyer | |
| An einem Abend im Jahr 1986 hatten die Künstlerin Rebecca Horn, der | |
| Dramatiker Heiner Müller und der Künstler Jannis Kounellis in der Paris Bar | |
| eine Idee: eine Ausstellung mit internationaler Kunst an öffentlichen Orten | |
| im Osten und im Westen der geteilten Stadt. Realisiert wurde sie erst 1990, | |
| nach dem Fall der Mauer. Im Rahmen [1][des Projekts „Die Balkone 2“], | |
| [2][bei dem am Wochenende auf Balkonen und in Fenstern im Prenzlauer Berg | |
| Kunst zu sehen ist,] erzählt ein Film von Sarah Alberti und Grischa Meyer | |
| vom Beitrag des Künstlers Giovanni Anselmo zu dem Projekt von damals. | |
| taz: Sarah Alberti, Sie haben zu „Die Endlichkeit der Freiheit“ geforscht. | |
| Wie kam das Projekt zustande? | |
| Sarah Alberti: Vor der Maueröffnung wurden erste Versuche, das Projekt zu | |
| realisieren, im Osten abgeblockt. Im November 1989 motivierte der Kurator | |
| Wulf Herzogenrath dann Rebecca Horn dazu, die Idee wieder aufzugreifen. Er | |
| holte Joachim Sartorius vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD und den | |
| Kunstwissenschaftler Christoph Tannert aus Ostberlin dazu. | |
| Giovanni Anselmo, Barbara Bloom, Christian Boltanski, Ilya Kabakov, Via | |
| Lewandowsky, Mario Merz, Raffael Rheinsberg, Krzysztof Wodiczko sowie | |
| Rebecca Horn und Jannis Kounellis, die als Ideengeber auch selbst | |
| teilnahmen, suchten sich je einen Ort im Osten und im Westen der Stadt und | |
| schufen überwiegend zweiteilige Kunstwerke. [3][Hans Haacke] bewahrte etwa | |
| einen Wachturm im ehemaligen Grenzstreifen vor dem Abriss und verfremdete | |
| ihn mit einem rotierenden Mercedes-Stern. Das Europa-Center war als | |
| Readymade das westliche Pendant dazu. | |
| Grischa Meyer, was war Ihre Rolle? | |
| Grischa Meyer: Ich war in den späten 80er Jahren als künstlerischer | |
| Mitarbeiter an Heiner Müllers Inszenierungen am Deutschen Theater | |
| beteiligt. Als es an die Umsetzung von „Die Endlichkeit der Freiheit“ ging, | |
| sollte ich zunächst den Katalog und Plakate gestalten. Schnell stellte sich | |
| heraus, dass ein paar Ostberliner für die Produktion gebraucht wurden, die | |
| ja größtenteils an öffentlichen Orten stattfand. Da machte ich dann auch | |
| mit. | |
| Der italienische Arte-Povera-Künstler Giovanni Anselmo war der Einzige, der | |
| seinen Beitrag nicht im öffentlichen Raum platzierte. Was zeigte er? | |
| GM: In leer geräumten Zimmern im Osten und Westen standen jeweils fünf | |
| Projektoren und warfen das italienische Wort „particolare“ in den Raum und | |
| auf die Körper der Besucher. Die Teilung der Stadt war erst seit ein paar | |
| Monaten vorbei. Es war nicht einfach, Leute zu finden, die ihre Wohnung für | |
| einen ganzen Monat zur Verfügung stellten. Da sprang ich ein. Ich war | |
| gerade in die Pasteurstraße gezogen. Im Westen nutzte Anselmo zwei Räume in | |
| der Kunstagentur Inter Art in der Potsdamer Straße, die sich auch in einer | |
| Wohnung befand. | |
| SA: Anselmo hatte die Arbeit 1972 auf der documenta 5 gezeigt und sie | |
| seitdem an unterschiedliche Orte angepasst. Gemeinsam mit Herzogenrath | |
| spazierte er im Juni 1990 zu historischen Orten in Berlin, auch zur Mauer, | |
| die gerade abgebaut wurde. Doch die politische Situation überforderte ihn. | |
| Die Platzierung in privaten Räumen war auch ein Rückzug. Dennoch lese ich | |
| sie als Kommentar zum Jahr 1990: „Particolare“ bedeutet so viel wie „ein | |
| Teil von“ oder „besondere Situation“. | |
| Eine leere Wohnung steht für Umzug, für Neubeginn. Viele Menschen begannen | |
| nach der Währungsunion, die Dingwelt der DDR zu entsorgen. Im Rahmen von | |
| „Die Balkone 2“ wollten wir in der Wohnung in der Pasteurstraße an die | |
| Arbeit erinnern. Pandemiebedingt war das nicht möglich, deshalb haben wir | |
| einen Film gemacht, der am Wochenende in einem Schaufenster in der Nähe | |
| läuft. | |
| Für die Ostberliner Kunstszene war der private Raum bis zur Wende ja der | |
| eigentliche öffentliche Raum. | |
| SA: Gerade die sogenannten nonkonformen Künstlerinnen und Künstler stellten | |
| oft in privaten Räumen aus. Auch über Politik diskutierte man am | |
| Küchentisch. Das interessierte natürlich auch die Stasi. Sie war im Sinne | |
| von „particolare“ auch „ein Teil von“. [4][Gerd Harry „Judy“ Lybke … | |
| Galerie Eigen + Art] stand bei seinen Wohnungsausstellungen immer nackt in | |
| der Tür, um sagen zu können, das sei eine private Veranstaltung. | |
| GM: Durch die Tür musste die Stasi gar nicht erst gehen, denn meistens | |
| waren schon ein oder zwei inoffizielle Mitarbeiter dabei, wenn Leute in | |
| Wohnungen ausstellten. Das erfuhr man oft erst später: Im | |
| Stasi-Unterlagen-Archiv sind diese Ausstellungen sehr gut dokumentiert. | |
| „Die Endlichkeit der Freiheit“ wurde 1990 innerhalb weniger Monaten | |
| realisiert. Wie war das möglich? | |
| GM: Es war ein sehr intensives halbes Jahr, mit vielen technischen | |
| Herausforderungen. Man brauchte riesige Kräne, Wachschutz, musste | |
| Zufahrtsstraßen absperren. Heiner Müller sagte in Anlehnung an einen Satz | |
| aus einem seiner Stücke: „Ein Fahrrad in ein Flugzeug umbauen während der | |
| Fahrt – das ist ungefähr unsere Aufgabe.“ Diese Zeit war eine besondere: | |
| Der öffentliche Raum war plötzlich ein Open Space, man konnte machen, was | |
| man wollte. Mit der Vereinigung schloss sich dieses Zeitfenster der | |
| Möglichkeiten wieder. | |
| SA: Viele, die in Ostberlin Stempel vergaben oder Genehmigungen erteilten, | |
| wussten gar nicht, ob sie nächsten Monat noch an ihrem Schreibtisch sitzen | |
| würden. Also machten sie das einfach. Es war eine Ausnahmesituation, die | |
| das Projekt extrem begünstigte. | |
| Wie war das, als die Ostberliner*innen erstmals Kontakt mit | |
| internationaler Kunst vor der eigenen Haustür hatten? | |
| GM: Zum Teil stießen die Arbeiten auf viel Unverständnis und wurden sogar | |
| beschädigt. Diese Kunstströmungen gab es ja offiziell in der DDR so nicht. | |
| Eine Formsprache, wie die von Kounellis, der einen Kohlewagen in einem | |
| Umspannwerk hin- und herfahren ließ, war für ein ostdeutsches Publikum | |
| überhaupt nicht erschließbar. Ich hatte durch meine Arbeit fürs Theater | |
| noch deutlich mehr Möglichkeiten. Im Foyer des Deutschen Theaters konnte | |
| ich für eine Inszenierung von Heiner Müllers „Der Lohndrücker“ 1987 eine | |
| Objektinstallation machen, die von heute aus gesehen so etwas wie eine | |
| Beuys-Parodie war. | |
| Grischa Meyer, Sie haben insgesamt 35 Jahre in der Wohnung in der | |
| Pasteurstraße gelebt. Der Filmdreh war das Letzte, was Sie dort gemacht | |
| haben. Was ist passiert? | |
| GM: Ich habe eine Eigenbedarfskündigung erhalten. Das hat mir gezeigt, dass | |
| jetzt hier wirklich etwas zu Ende gegangen ist. Das politisiert auch | |
| Anselmos Projekt noch einmal neu. Das Leben holt die Kunst irgendwann ein. | |
| Oder mit dem Ausstellungstitel gesprochen, den Heiner Müller formulierte: | |
| Die Freiheit ist endlich. | |
| 30 Apr 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine Weier | |
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