# taz.de -- Kunstaktion auf Balkonen in Berlin: Körper und Antikörper | |
> „Die Balkone“ fragt im Herzen und an den Rändern des Prenzlauer Bergs | |
> nach künstlerischen Positionen in der Coronakrise. | |
Bild: Susanne Sachsses und Marc Siegels Beitrag zu „Die Balkone“ | |
Als sich am Ostersonntag David Bowie und Alfred Hitchcock in Prenzlauer | |
Berg begegneten, war das keine der vehementen Nachmittagssonne geschuldete | |
Halluzination, sondern ein Zusammentreffen des Musikers und Regisseurs über | |
dem Kopfsteinpflaster der Immanuelkirchstraße. | |
Aus einem geöffneten Balkonfenster wehte einer von [1][Bowies] bekanntesten | |
Songs, „Space Oddity“; in die Story von Major Tom, verloren und frei im | |
Weltall, mischte sich aus einem gegenüberliegendem Balkonfenster ein | |
Kindergesang, dessen Unschulds-Sound etwas unterschwellig Bedrohliches | |
transportierte: Es handelte sich um das alte Volkslied „Risseldy Rosseldy“ | |
in der Version aus einem von Hitchcocks bekanntesten Filmen, „Die Vögel“. | |
Das Lied, so war auf einem Anschlag am Erdgeschoss zu lesen, ist in der Tat | |
nicht harmlos, in der Originalversion wird eine Ehefrau geschlagen, weil | |
sie sich nicht genug um das Haus kümmert. Hitchcocks Film mit den | |
sprunghaft angreifenden Möwen, Sperlingen und Krähen hat diverse Deutungen | |
erfahren, politisch-historische vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, | |
ökologische im Sinne einer zurückschlagenden Natur wie psychologische als | |
Ausdruck familiärer Kettenreaktionen. | |
In die Immanuelkirchstraße geholt wurden „Die Vögel“ von der Fotografin | |
[2][Eva Stenram] und dem Schriftsteller [3][Tom McCarthy], zwei von circa | |
60 Beteiligten der Kunstaktion „Die Balkone“, die bis einschließlich Montag | |
im Herzen und an den Rändern Prenzlauer Bergs stattgefunden hat. | |
„[4][Die Balkone]“ fragte nach künstlerischen Positionen in der | |
Coronakrise. Hitchcocks „Vögel“ waren greifbar und waren es wieder nicht, | |
der Brückenschlag vom Film zum Virus hat sein Fundament, und Stenram und | |
McCarthy haben auf ihrer Balkonbrüstung tatsächlich eine Handvoll | |
künstliche Krähen platziert. Der eigentliche Job der Attrappen sei es, | |
andere Vögel fernzuhalten; ob die PVC-Vogelscheuchen aus dem Gartencenter | |
ihren Antikörper-Job erfüllen, sei dahingestellt. | |
Wie bestellt wirkte in diesem Rahmen der David-Bowie-Song, dabei scheint es | |
sich schlicht um die Compilation oder Playlist eines Nachbarn gehandelt zu | |
haben, weitere Hits folgten, während der Gesang von Hitchcocks Kindern | |
durch die Immanuelkirchstraße zog. | |
Einige Häuser weiter in Richtung der Kirche, die der Straße ihren Namen | |
gab, hatten die Künstler Eva Scharrer und Martin Frese in einem Hinterhof | |
Gedichtblätter drapiert: einzelne Drucke zum Mitnehmen, Texte über den | |
Lockdown, über Isolation und Alleinsein, Krankheit, Genesung, Hoffnung, | |
Überleben und einen Balkon. Nicht einfach einen, sondern „Der Balkon“ von | |
Rainer Maria Rilke, datiert vom August 1907 in Paris, wobei Rilke in der | |
Überschrift Neapel als Ort dazusetzte. | |
Sechs Strophen, die angelehnt sein könnten an „Le Balcon“ von Édouard Man… | |
aus dem 19. Jahrhundert, das Porträt von drei Personen im bürgerlichen | |
Habit auf einem herrschaftlichen Balkon mit einem Diener im dunklen | |
Hintergrund. Das Bauwerk scheint festgefügt, zwischen den Personen jedoch | |
scheinen Fliehkräfte zu wirken. In Rilkes Gedicht lehnen zwei Schwestern | |
„Einsamkeit an Einsamkeit“, während eine alte Frau auftritt, mit einer | |
müden Hand, „wie noch unbestimmbar, wie noch nicht“. | |
Diesen und die anderen Texte, unter ihnen Hermann Hesses „Im Nebel“ oder | |
Cesare Paveses „Hunger nach Einsamkeit“, hat Eva Scharrer ausgewählt, ihr | |
Nachbar Martin Frese die einzelnen Blätter mit dem Stempeldruck eines | |
Kranichs versehen, Symbol der Wachsamkeit und Klugheit, der Langlebigkeit | |
und des Glücks. | |
Im Weitergehen von Balkon zu Balkon, in Richtung Weißensee, ließ sich dann | |
in der Jablonskistraße in einem Fenstervorsprung lesen: „12.4. 2020. I got | |
up at 7.45 AM.“ Diese Mitteilung nun bezog sich auf den japanischen | |
Konzeptkünstler On Kawara, der zwischen 1968 und 1979 zwei verschiedenen | |
Personen eine Postkarte mit dem jeweiligen Datum und der Uhrzeit, zu der er | |
aufgestanden war, schickte. | |
Minimalismus und Lakonie also, so wenig und dabei so allerhand. Die | |
Organisatoren von „Die Balkone“ zitierten in ihrer Pressemitteilung einen | |
Satz aus Jean Genets Drama „Der Balkon“, einem Stück, das als makabrer | |
Revolutionsreigen gesehen werden kann. Genets Balkon ist ein Bordell, in | |
der Realgeschichte war der Balkon ein Ort, von dem aus Republiken | |
verkündet, aber auch Diktaturen deklariert worden sind. | |
Der Satz lautet: „Wenn wir uns wie die auf der anderen Seite verhalten, | |
dann sind wir die andere Seite. Anstatt die Welt zu verändern, werden wir | |
nur eine Spiegelung derer, die wir zerstören wollen, erlangen.“ Im Stück | |
sagt ihn Roger, einer der Revolutionäre, der in einer von Genets Wendungen | |
als Polizeichef auftritt. | |
13 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Reaktionen-auf-den-Tod-von-David-Bowie/!5268137/ | |
[2] http://www.evastenram.co.uk/ | |
[3] /!633388/ | |
[4] https://www.facebook.com/events/888085788283293/ | |
## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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