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# taz.de -- Ausstellung im Metropolitan Museum: Raus aus der Depression
> Menschliches Leid und Durchhaltevermögen prägen die Werke der
> US-amerikanischen Malerin Alice Neel. In New York widmet man ihr eine
> Retrospektive.
Bild: Alice Neels „Dominikanische Jungen auf der 108. Straße“ (1955)
Auf dem Porträt ist Andy Warhol kaum wiederzuerkennen. Alice Neel hat es
1970 gemalt. Mit nacktem Oberkörper und hängenden Schultern sitzt er auf
einem nur mit ein paar Strichen angedeuteten Bett. Quer über seinem Bauch
kreuzen sich zwei grob vernähte Narben – Relikte eines 1968 auf ihn
verübten Attentats. Aus Warhols brauner Anzughose ragt ein Korsett, seine
Hände ruhen in seinem Schoß, seine Augen sind geschlossen.
Neel lässt den Betrachter hinter die Fassade der Popikone blicken. Sie
zeigt ihn in seinem schwächsten Moment. Was dem Bild zugleich eine enorme
Stärke verleiht. Eine Stärke, die von fast allen Neel-Gemälden ausgeht. In
einer Stadt wie New York, die sich gerade aus einer tiefen Coronadepression
herauswindet, trifft das einen Nerv.
Wer die Ausstellung „Alice Neel: People come first“ am Metropolitan Museum
sehen will, muss lange in der Schlange stehen. Die Ausstellung sei eine
[1][„Blockbuster-Schau, die man gesehen haben muss“], schreibt das New York
Magazine. Der Erfolg überrascht sogar Randall Griffey.
Er hat die Schau gemeinsam mit Kelly Baum kuratiert. Er habe schon mit
Beginn der Planung vor zweieinhalb Jahren geahnt, [2][dass eine
Alice-Neel-Ausstellung ein großes Publikum ansprechen] würde. Aber mit
diesem Andrang habe er nicht gerechnet, sagte er kürzlich in einem
Radiointerview.
## Mischung aus Tragik und Widerstandskraft
Den Grund für das große Interesse sieht er in Neels „besonderer Darstellung
von menschlichem Leid“. Das sei bei ihr immer mit einem „starken
Durchhaltevermögen“ verbunden. Diese Mischung aus Tragik und
Widerstandskraft mache die Ausstellung im pandemiegeplagten New York gerade
so wichtig. Und erfolgreich.
Es ist die erste große Alice-Neel-Retrospektive in New York seit zwanzig
Jahren. Zu sehen sind etwa einhundert Gemälde, Skizzen und Aquarelle, der
1900 geborenen US-Künstlerin. Entstanden sind sie zwischen 1920 und ihrem
Todesjahr 1984. Es sind Straßenszenen, Stillleben. Vor allem aber Neels
berühmte Porträts von New Yorkern aus allen Schichten.
Porträts, die wie das Bild von Warhol Leid und Stärke vereinen. Sie male
nicht gerne „normale“ Menschen, sagte Neel im Jahr 1984 einmal in einem
Fernsehinterview. Sie sei interessiert an Menschen, die „vom Leben im
Hamsterrad New York City ruiniert werden“. Viele New Yorker wissen nach
knapp anderthalb Jahren Pandemie gut, wovon sie redet.
Vor einem Jahr hat die Pandemie New York hart getroffen. Vor den
Krankenhäusern standen Kühlwagen, um die vielen Leichen lagern zu können.
Etwa eine Million Menschen haben ihren Job verloren. Die Stadt ist
traumatisiert. Erst langsam gewinnt sie mit der zunehmenden Zahl von
Geimpften wieder an Selbstbewusstsein. Es beginnt eine Phase der
Neuorientierung. Was ist New York nach der Pandemie? Was kann diese Stadt
sein? Was will sie sein? Es ist wie eine Häutung, eine Phase höchster
Fragilität und Verletzlichkeit.
## Das Leben einer Künstlerin
Alice Neel hat viele solcher Häutungen erlebt. Aufgewachsen in der
Kleinstadt Merion Square (heute Gladwyne) im Bundesstaat Pennsylvania, zog
sie mit 27 Jahren nach New York und blieb dort bis zu ihrem Lebensende.
Sie verlor ihre nicht mal ein Jahr alte Tochter an Diphtherie, erlebte
einen psychischen Zusammenbruch, nachdem ihr damaliger Mann ihr die zweite
Tochter entzogen hatte, zog zwei Söhne von zwei verschiedenen Männern
alleine groß, schlug sich mit Sozialhilfe oder Diebstahl durch – und malte
ohne Unterlass. Das Malen sei eine Obsession, der sie folgen müsse, sagte
Neel in dem nach ihr benannten Dokumentarfilm, den ihr Enkel Andrew Neel
2007 veröffentlichte.
Neel hat die Welt um sich herum und die Menschen darin als gleichberechtigt
wahrgenommen. Ihre Nachbarn in Spanish Harlem, wo sie zwanzig Jahre lang
lebte, ihre Künstlerkollegen aus dem Greenwich Village, politische
Aktivisten, Freunde, Familienmitglieder oder einfach zufällige Passanten,
die sich bereit erklärten, für sie Modell zu sitzen.
Da ist zum Beispiel das Bild „Jackie Curtis and Ritta Redd“ von 1970.
Curtis war ein Star der Untergrundszene im New York der 60er und 70er
Jahre. Neel zeigt Curtis in schwarzer Netzstrumpfhose, Bluse, schwarzem
Rock, mit lackierten Fingernägeln und roten Lippen. Sein Begleiter Redd
trägt nur einen gestreiften Pullover zur Jeans.
## Trost im Moment der Verletzlichkeit
Es könnte auf den Blick einfach ein heterosexuelles Paar sein, das sich wie
zufällig auf einer Bank sitzend präsentiert. Aber da sind auch das
jungenhafte Gesicht von Curtis, die Dominanz seiner Figur, die mimische
Angespanntheit, die dem Bild eine faszinierende Ausstrahlung geben.
Oder das Doppelporträt „Linda Nochlin and Daisy“ von 1973, auf dem die
Kunsthistorikerin und Feministin Nochlin mit ihrer damals vierjährigen
Tochter zu sehen ist. Während sich Mutter und Tochter an einer Seite eng
aneinanderschmiegen, liegen ihre jeweils freien Arme weit voneinander
entfernt in fast genau parallelem Abstand auf der Sofalehne ausgestreckt.
Was dem Bild eine widersprüchliche Spannung verleiht und von einem
komplizierten Mutter-Tochter-Verhältnis erzählt. Nochlin sagte viele Jahre
nach der Entstehung, Neel habe „eine existenzielle Angst eingefangen, die
alle Leute aus der Stadt auf die eine oder andere Weise haben“.
Im Jahr 1972 malte Neel ihre langjährige Haushälterin Carmen mit ihrem
kranken Baby Judy, das kurze Zeit später starb. Aus Carmens leicht
geöffnetem Kleid hängt eine Brust. Das sichtbar ausgemergelte Baby blickt
seine Mutter an. Carmens Körper ist dem Kind zugewandt, ihr Blick ist nach
vorn gerichtet. Ihre zusammengepressten Lippen deuten ein leichtes Lächeln
an.
Neel war da und bereit zu malen, was ist. Ohne Angst vor dem Urteil ihrer
Subjekte oder der Öffentlichkeit. Auch das kann neue Kraft geben. Für viele
New Yorker, denen vor einem Jahr der Boden unter den Füßen weggezogen
wurde, die über Jahre gelernt haben, zäh zu sein, sich durchzuboxen in
dieser oft gnadenlosen Stadt, scheint dieser Gedanke Trost zu spenden in
diesem Moment der Verletzlichkeit.
9 May 2021
## LINKS
[1] https://www.metmuseum.org/gallery-guide/alice-neel
[2] /Alice-Neel-Ausstellung-in-Hamburg/!5454723
## AUTOREN
Verena Harzer
## TAGS
Moderne Kunst
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