# taz.de -- „Surrealism Beyond Borders“ in New York: Eine sehr spezielle We… | |
> Die Schau „Surrealism Beyond Borders“ im New Yorker Metropolitan Museum | |
> of Art zeigt die Breite der Strömung. Klassiker braucht sie dazu kaum. | |
Bild: Eine Besucherin der Ausstellung „Surrealism Beyond Borders“ | |
Auf den Fotografien der kolumbianischen Künstler Cecilia Porras und Enrique | |
Grau im [1][New Yorker Metropolitan Museum] sind traumhafte Szenen zu | |
sehen: Der Kopf einer schlafenden Frau in einem Treibholzhaufen. Ein im | |
Wind flatterndes Tuch, das sich über die hochgereckte Hand einer Person | |
legt. Zwei von einem weißen Bettlaken verhüllte Gestalten vor einem | |
pyramidenartigen Gebäude. Die Fotografien sind postkartengroß und nicht | |
gerahmt. | |
Als sie in den 50er Jahren entstanden, litt Kolumbien unter einer | |
Militärdiktatur. Für das Spiel mit träumerischem Begehren und | |
Geschlechteridentitäten gab es keinen Platz. Jahrelang verschwanden die | |
Fotografien in einem privaten Fotoalbum. Jetzt kann sie in der Ausstellung | |
„Surrealism Beyond Borders“ am Metropolitan Museum zum ersten Mal ein | |
großes Publikum sehen. Neben vielen anderen bisher unbekannten | |
surrealistischen Werken. | |
Wer in dieser Ausstellung nach den Klassikern des Surrealismus von | |
Magritte, Dalí oder Ernst sucht, ist hier am falschen Ort. Von ihnen findet | |
sich nur jeweils ein Werk. Die Fülle der von den Ausstellungsmachern | |
zusammengetragenen Arbeiten ist gerade deswegen beeindruckend. Die Gemälde, | |
Fotos, Filme, Magazine und Briefe aus über 45 Ländern in der Zeitspanne von | |
1920 bis in die 1980er Jahre hinein füllen 14 Galerien des Metropolitan | |
Museums. Ihre Herkunftsländer spannen ein Netzwerk von Osteuropa über die | |
Karibik, Asien, Afrika, Australien, Nord- und Südamerika. | |
Entstanden ist die surrealistische Kunstbewegung im Paris der 20er Jahre. | |
Ihre Begründer wollten nichts weniger als die Welt neu erfinden. | |
Alltägliche Gegebenheiten und rationale Denksysteme bis hin zur Sprache | |
wurden radikal hinterfragt. Das Traumhafte und das Unbewusste war die | |
Währung dieser neuen Weltordnung. Schmelzende Uhren, geheimnisvolle | |
Vogelwesen und gesichtslose Männer wurden zu ihrem visuellen | |
Erkennungszeichen. | |
Die Ausstellung „Surrealism Beyond Borders“ zeigt, dass die neue | |
Kunstbewegung weit über diese Epoche hinausreichte. Schnell haben Künstler | |
in der ganzen Welt das avantgardistische Potenzial der surrealistischen | |
Ideen erkannt, aufgegriffen und weiterentwickelt. Der Surrealismus, sagt | |
Max Hollein, der Direktor des Metropolitan Museum, in seiner | |
Ausstellungseinführung, sei der einzige „-ismus“ der Kunstgeschichte, der | |
sich „wirklich global ausbreitete“. | |
## Europa verschwindet fast am äußersten linken Rand | |
Sie hätten sich von einer „sehr speziellen Weltkarte inspirieren lassen“, | |
sagt die Met-Kuratorin Stephanie D’Alessandro, die gemeinsam mit ihrem | |
Kollegen Matthew Gale von der Tate Modern in London die Ausstellung | |
organisiert hat. Dorthin wird die Schau im Februar nächsten Jahres | |
umziehen. | |
Die gezeichnete Karte wurde unter dem Titel „Die Welt zur Zeit der | |
Surrealisten“ in den späten 20er Jahren in einer belgischen Zeitschrift | |
abgedruckt. Europa verschwindet fast am äußersten linken Rand der Karte, | |
während der Pazifik das Zentrum einnimmt. Es sei eine „Verschiebung von | |
Machtsystemen“, sagt D’Alessandro, und „eine Provokation, den Surrealismus | |
neu zu denken“. | |
Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie gleichwertig die Ausstellung | |
verschiedene surrealistische Strömungen, Künstlerpersönlichkeiten und | |
-kollektive nebeneinander präsentiert. Es gibt typische Themenfelder wie | |
„Jenseits des Verstands“, „Automatismus“ oder „Das Werk der Träume�… | |
sehen sind dort so bekannte Werke wie [2][Magrittes] aus einem Kamin | |
fahrende Dampflock in „Die durchbohrte Zeit“, oder Dalís „Hummer-Telefon… | |
das einen Hummer zum Telefonhörer umfunktioniert. | |
## Maschinen und das Unbewusste | |
Aber eben auch das in den 20er Jahren entstandene Gemälde „Das Meer“ des | |
japanischen Malers Koga Harue. Harue führte die surrealistische Bewegung | |
des „Maschin-ismus“ in Tokio an. Für ihn waren Maschinen und Fabriken | |
gleichbedeutend mit dem menschlichen Unbewussten. In Harues scheinbar | |
idyllische Meeresszene ragt das Diagramm einer Fabrikmaschine, und ein im | |
Querschnitt gezeigtes U-Boot mit einem kiemenartigen Rohrsystem schwimmt | |
mit den Fischen im Meer. | |
Andere Abschnitte der Ausstellung widmen sich regionalen Entwicklungen des | |
Surrealismus. Ein Beispiel sind die karibischen Inseln. Der konventionellen | |
Erzählung nach brachte der Kriegsflüchtling André Breton 1941 die Bewegung | |
dorthin. Die Ausstellung zeigt, dass der Surrealismus die Karibik früher | |
und auf unterschiedlichen Wegen erreichte. | |
Bereits 1938 kehrte etwa das aus Martinique stammende Dichterpaar Aimé und | |
Susanne Césaire nach Studienaufenthalten in Paris in ihre Heimat zurück. | |
Dort brachten sie das surrealistische Magazin Tropique heraus. In einem | |
Essay schreibt Susanne Césaire, dass sie es dem Surrealismus zutraue, „die | |
schmutzigen zeitgenössischen Antinomien von schwarz / weiß, europäisch / | |
afrikanisch, zivilisiert / wild“ zu transzendieren. | |
## Umgefallene Stühle und Schlagstöcke | |
Andere Künstler nutzten die Techniken des Surrealismus, um reale Albträume | |
politischer Gewalt darzustellen. 1937 malte der in Ägypten geborene | |
griechisch-französische Maler Mayo das Gemälde „Schlagstöcke“. | |
Auf den ersten Blick erinnert es an eine typische surrealistische | |
Komposition aus abstrakten und organischen Formen. Dazwischen finden sich | |
erkennbar Gegenstände wie ein Tisch mit umgekippter Flasche, umgefallene | |
Stühle und Schlagstöcke. Das Bild gibt in etwa wieder, was Mayo während | |
eines von der Polizei brutal niedergeschlagenen Studentenprotests in Kairo | |
erlebt hat. | |
Eine besondere Form der kollektiven Arbeit zeigt der letzte Raum der | |
Ausstellung. Wie eine über zehn Meter langgezogene Ziehharmonika ragt das | |
Endlospapier des Projekts „Long Distance“ in ihn hinein. Der | |
US-amerikanische Künstler und Jazzmusiker Ted Joans hat es von 1976 bis | |
2005 an über 100 Künstler, Dichter, Intellektuelle und Musiker in der | |
ganzen Welt weitergegeben. Jeder von ihnen hat auf einem gefalteten | |
Abschnitt etwas gezeichnet. Ohne zu wissen, wie die Zeichnung des | |
Vorgängers aussieht. „Cadavre exquis“ haben die Surrealisten diese | |
Technik genannt. | |
Überhaupt sind es nicht die einzelnen Werke, die die Ausstellung so | |
interessant machen. Vielmehr ist es die kollektive Energie, die sich | |
spürbar durch alle Ausstellungsräume zieht. Ausgelöst von dem Gedanken an | |
eine neue Welt hinter der bekannten Ordnung. | |
3 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Verena Harzer | |
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