# taz.de -- Steinskulpturen am Hudson River: Der Sisyphos von New York | |
> Seit vier Jahren präsentiert ein albanischer Künstler am Hudson River | |
> seine Steinskulpturen. Mit viel Geduld stellt er sie jeden Tag neu auf. | |
Bild: Blick gen Wasser: Steinskulpturen am New Yorker Hudson River | |
Abseits der Autos schlängelt sich der Hudson-River-Greenway für Radfahrer | |
und Fußgänger am Wasser entlang – vom südlichsten Zipfel Manhattans bis in | |
die nördliche Bronx. Mit Sicht auf die Freiheitsstatue, die schicken Piers | |
und den stylischen neuen „Little Island“-Park. Dann kommt der Hafen mit | |
seinen Yachten, bis schließlich die George Washington-Brücke am Himmel | |
steht. | |
Hier, kurz vor der Bronx: Harlem. Auf den Bolzplätzen kicken und skaten die | |
Kids. Die wenigsten von ihnen sind weiß. Hispanic-Großfamilien grillen auf | |
den Wiesen, aus den bombastischen Ghettoblastern dröhnt Latino-gute-Laune. | |
Und kurz bevor man am „Little Red Lighthouse“ ankommt, einem alten, | |
pittoresken Leuchtturm, der so gar nicht in die raue Gegend passen will, | |
tauchen sie plötzlich am Ufer auf. Nur Profil und Rücken sind zu sehen, | |
einsam wie der Mönch am Meer wirkt jede einzelne: rund 30 Steinskulpturen, | |
ihre Gesichter dem Wasser zugewandt. | |
Warten sie, beten sie, trauern sie? Grazil wirken sie und zerbrechlich. | |
Kein Stoff verbindet ihre Einzelteile, nur vier, manchmal fünf gewöhnliche | |
Ufer-Steine balancieren so perfekt aufeinander, dass sie sich gegenseitig | |
stützen und zu einer aufrechten Figur wachsen. | |
## Als seien die Figuren ins Wasser gegangen | |
Jeden Tag, wenn ich an ihnen vorbeijogge, hat sich die Gruppe verändert. | |
Eine Figur fehlt. Zwei kleinere sind dazu gekommen. Als habe eine den | |
Todesfluss Styx überquert, hinüber in den Hades. Oder habe alle Hoffnung | |
verloren und sei ins Wasser gegangen. Und fast jeden Tag steht hier Ulysses | |
und wuchtet die Steine. | |
Ulysses ist ein Mensch. Er heißt eigentlich Uliks Gryka – aber Uliks steht | |
in seiner albanischen Muttersprache für Ulysses und so möchte er genannt | |
werden. Obwohl Sisyphos passender wäre. Denn über Nacht werden die Figuren | |
oft von Passanten umgestoßen. Oder eine Welle löst eine winzige Vibration | |
aus, die das Gleichgewicht bricht. | |
Fast täglich kommt Ulysses ans Ufer und setzt unermüdlich neue Fundsteine | |
aufeinander. Das kostet nichts. Außer Geduld. Es braucht Muskeln, eine | |
ruhige Hand, einen Blick für den passenden Stein. Es ist seine Meditation. | |
Seit über vier Jahren. | |
Die Figuren, sagt er, haben sich verändert. Sie sind höher, zarter | |
geworden. Zu jeder hat er eine eigene Beziehung. Da ist die Mutter mit Kind | |
auf dem Arm. Ein buddhistischer Mönch. Ganz vorne steht eine Art Königin, | |
größer und schlanker als die anderen. | |
## Millionenjahre alte Knochen | |
Sind es Götter? Für Ulysses nicht. Obwohl sie etwas Mythisches in sich | |
trügen. Sie kommen schließlich aus dem Fluss, ihre Knochen sind | |
Millionenjahre alt und ausschließlich von der Natur geprägt. Ulysses | |
findet, es erzählt von den präzisen Kräften der Physik, dass es möglich | |
ist, die Steine aufeinander zu balancieren. Ich finde, es erzählt von der | |
Möglichkeit des Unmöglichen. | |
Jedes Mal, wenn ich Ulysses sehe, ist er ins Gespräch vertieft. Mit einer | |
alten Asiatin auf der Bank vor den Skulpturen. Mit einer Gruppe Radfahrer, | |
die angehalten hat. Es ist das Erstaunliche dieses eigentlich so simplen | |
Kunstwerks, wie sehr es die Menschen fasziniert – [1][die in New York ja so | |
häufig eine Einwanderergeschichte mit sich tragen.] | |
Manche sehen eine Gruppe Flüchtender, die auf Boote warten. Ein jüdischer | |
Professor soll Juden vor dem Abtransport ins Lager imaginiert haben. Ein | |
anderer Seelen, die auf den Fährmann warten. Warum auch immer die | |
steinernen Männer, Frauen, Götter am Ufer stehen – sie ziehen jene an, die | |
traurig sind, die Abschied nehmen, die einen Ort der Ruhe suchen. | |
Neben den Steinfiguren fühlt es sich an wie in einem Tempel voller | |
Betender, wie bei einem Spaziergang übern Friedhof. Die Gräber dort | |
erzählen ähnliche Geschichten wie die verwaschenen Steine hier. Und umso | |
heiterer die eigene Stimmung, desto weniger gut sind sie zu hören. | |
## Greencard aus der Lotterie | |
Wer wirft die Steine um? Ulysses sagt, er habe gehört, es seien Christen, | |
die sie für einen heidnischen Brauch halten. Er geht dem nicht nach. | |
Ulysses ist Ende 30 und hat 2007 in der Lotterie (im Ernst!) eine Greencard | |
gewonnen. So kam er von Albanien und Italien, wo er Politikwissenschaften | |
studiert hat, nach New York. Erst seine Stein-Prozession am Hudson hat ihn | |
zum Künstler gemacht; inzwischen ist er auch in andere Skulptur-Projekte im | |
öffentlichen Raum involviert. | |
Vor vier Jahren, als Ulysses erst ein paar Monate am Fluss Steine gestapelt | |
hatte, [2][schrieb die New York Times, er habe sich entschlossen, | |
aufzuhören.] Zwei Jahre später eine ähnliche Ansage in The World. Aber | |
Ulysses ist noch da. Seine Skulpturen sind noch da, alle paar Tage neu. Als | |
hätte Sisyphos je die Chance gehabt zu gehen … [3][Man muss ihn sich, das | |
wissen wir seit Camus, als glücklichen Menschen vorstellen.] | |
30 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Theaterprojekt-im-Taxi/!5772146 | |
[2] https://www.nytimes.com/2017/09/14/nyregion/a-mystery-solved-why-the-sisyph… | |
[3] /100-Geburtstag-von-Albert-Camus/!5055878 | |
## AUTOREN | |
Barbara Behrendt | |
## TAGS | |
Kunst | |
USA | |
New York | |
Skulptur | |
Ausstellung | |
Bildende Kunst | |
Black Lives Matter | |
Buch | |
Moderne Kunst | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Berliner Bildhauerin Susanne Specht: Spiel von Logik und Freiheit | |
Lange hat sie Steine bearbeitet, dann entdeckte Susanne Specht neue | |
Techniken: Eine Ausstellung der Berliner Bildhauerin in der Zitadelle | |
Spandau. | |
Shakespeare in Harlem: Die Geister fordern Veränderung | |
Nur ein Trend oder doch eine Transformation? Schwarze Künstler:innen | |
spielen Shakespeare im Park und in vielen Theatern am Broadway in New York. | |
Buch über Suizide bei Architekten: Scheitern aus vollem Herzen | |
Charlotte Van den Broeck erzählt in „Wagnisse“ das Leben von 13 | |
Architekten, die mutmaßlich Suizid begingen. Und verknüpft das mit ihrer | |
eigenen Geschichte. | |
Ausstellung im Metropolitan Museum: Raus aus der Depression | |
Menschliches Leid und Durchhaltevermögen prägen die Werke der | |
US-amerikanischen Malerin Alice Neel. In New York widmet man ihr eine | |
Retrospektive. |