# taz.de -- Shakespeare in Harlem: Die Geister fordern Veränderung | |
> Nur ein Trend oder doch eine Transformation? Schwarze Künstler:innen | |
> spielen Shakespeare im Park und in vielen Theatern am Broadway in New | |
> York. | |
Bild: Der Regisseur hat die Handlung der „Merry Wives“ nach Harlem verlegt | |
Die Stimmung könnte besser nicht sein im Delacorte-Freilichttheater mitten | |
im Central Park. „What’s up, New York?“, schreit das Ensemble – und das | |
Publikum ruft und klatscht, wie das wohl nur New Yorker können. Um 20 Uhr | |
hat es hier noch 32 Grad, der Himmel ist endlich einmal blau statt schwarz | |
und das euphorisierte Publikum musste in diesem Jahr pandemiebedingt nicht | |
wie sonst vor dem Park übernachten, um die begehrten kostenlosen Tickets zu | |
ergattern, sondern schlicht an einer Online-Lotterie teilnehmen. Die | |
Geimpften sitzen nun ohne Maske nah beieinander – im Bereich der | |
Ungeimpften sind Maske und Abstand vorgeschrieben. | |
An den Abenden zuvor mussten die Aufführungen wegen Gewitter abgesagt | |
werden. Und im Juli war es erst eine Verletzung des Hauptdarstellers, die | |
die Produktion lahmlegte, dann ein Coronafall im Team. Aber New York ist | |
Kummer gewohnt. [1][17 Monate lang waren alle Theater dicht, die Stadt | |
wirkt noch immer traumatisiert von der Pandemie, d]ie hier bislang über | |
33.000 Menschen das Leben kostete. Auch „Shakespeare in the Park“ musste | |
vergangenes Jahr ausfallen – zum ersten Mal seit der Gründung 1962. | |
Die Inszenierung des Sommers 2021, sagt der Leiter des veranstaltenden | |
Public Theaters, Oskar Eustis, [2][solle sich gegen rassistische | |
Diskriminierung aussprechen, die auch in New York wieder ein Thema ist,] | |
die Menschen aber auch zum Lachen bringen und vereinen. Auf der Bühne | |
stehen nun ausschließlich schwarze Schauspielerinnen und Schauspieler. Auch | |
der Regisseur Saheem Ali und Jocelyn Bioh, Autorin der Neufassung von | |
Shakespeares „Lustigen Weiber von Windsor“, haben eine familiäre | |
Migrationsgeschichte. Zudem hat der Regisseur die Handlung der „Merry | |
Wives“ nach Harlem verlegt, einem in seiner Geschichte lange überwiegend | |
schwarzen, ärmeren Stadtteil von Manhattan. | |
Der dicke Falstaff, der sich bei Shakespeare voller Selbstüberschätzung an | |
zwei verheiratete Frauen gleichzeitig ranmacht, ist bei Jacob Ming-Trent | |
ein Popcorn futternder Goldkettenträger, der sein Zimmer mit Selbstporträts | |
in Rapper-Posen tapeziert hat. Die beiden Merry Wives sind sexy | |
selbstbestimmte Frauen in stilvollen Outfits, die jede Rooftop-Dinnerparty | |
aufpimpen würden. | |
## Klage über das ewige Netflix-Gucken | |
Lady Page bekommt Falstaffs Liebesbrief zugestellt, als sie im | |
Hair-Braiding-Shop ihre Afro-Zöpfe richten lässt – ihren Rachefeldzug gegen | |
Falstaff heckt sie mit Lady Ford im Waschsalon nebenan aus. Auf der Bühne | |
sind die Shop-Kulissen exakt denen an der 116. Straße in Harlem | |
nachempfunden. Wenn Falstaff, von Fords Ehemann verprügelt, deprimiert an | |
die Rampe tritt, lässt ihn die Autorin die Langweile im Lockdown, das ewige | |
Netflix-Gucken, die täglichen Fastfood-Lieferdienste beklagen – und wieder | |
das Publikum mobilisieren: „If you know what I am talking about, say: hell, | |
yeah!“ Das lassen sich die Zuschauer nicht zweimal sagen. | |
Und als die Stadtbewohner später, als Geister verkleidet, Falstaff | |
erschrecken, hält eine der Spiritistinnen eine bewegende Rede an die | |
Nation, die sich verändern müsse: „Now is the time for reformation! Now is | |
the time to rebuild the nation!“ Aus Shakespeares Komödie über Rache und | |
Eifersucht macht das traditionsreichste Freilichttheater der Stadt mit | |
seinem schwarzen Cast einen wärmenden Abend der Gemeinschaft und | |
Versöhnung. | |
Ganz ähnlich verhielt es sich bei der Wiedereröffnung des Broadways wenige | |
Tage zuvor – mit Antoinette Chinonye Nwandus Stück „Pass Over“ ging das | |
Drama einer schwarzen Autorin als erstes an den Start, inszeniert von einer | |
schwarzen Regisseurin, gespielt von einem überwiegend schwarzen Ensemble. | |
Die Autorin Antoinette Chinonye Nwandus rief bei der großen Straßenparty im | |
Anschluss über Lautsprecher dem feiernden Publikum zu, man wolle nun | |
gemeinsam die Geschichte von „Black Joy“ erzählen. Ein Zuschauer sprach gar | |
von einem „historischen Moment“, dem er beiwohne. | |
## Ein versöhnlicher Schluss? | |
Und, noch eine Gemeinsamkeit: Auch „Pass Over“ ist ein versöhnliches Stüc… | |
allerdings mit fast schon skurrilem Ende, wenn Schwarze und Weiße gemeinsam | |
nackt im Paradies entschwinden. Inzwischen, muss man sagen. Denn als das | |
Drama 2017 in Chicago zur Uraufführung kam, nahm dieses Stück um | |
strukturellen Rassismus, Polizeigewalt und Segregation noch ein | |
erschütterndes Ende: Eine der beiden schwarzen Hauptfiguren wird da vom | |
weißen Gegenspieler erschossen. (Anschauen kann man das im Internet – | |
[3][Spike Lee hat die Originalfassung aus dem Steppenwolf-Theater] | |
abgefilmt.) | |
Ist hier also eine grundsätzliche Veränderung im Gang – von der | |
Konfrontation der weißen Zuschauer:innen hin zu deren Umarmung? Die | |
beiden jungen schwarzen New Yorker Theatermacherinnen Nia Farrell und Talia | |
Paulette Oliveras bejahen das, jedenfalls für die eigene Arbeit. | |
Sie haben mit ihrer Produktion [4][„Dreams in Blk Major“] im Mai den Preis | |
des internationalen Stückemarkts des Berliner Theatertreffens gewonnen. Zu | |
sehen war dabei (nur digital aufgrund der Pandemie) die Feier schwarzer, | |
weiblicher Geschichte, voller Kraft und Empowerment – das weiße Publikum | |
wäre, hätte die Aufführung mit Zuschauer:innen stattgefunden, an den | |
Rand verwiesen worden: TaNia (so nennt sich das Duo) wollte alle Weißen auf | |
die hintersten Plätze verbannen, um das Gefühl der Diskriminierung aufgrund | |
der Hautfarbe zumindest für die Dauer der Performance spürbar zu machen. Ob | |
das mit dem fast ausschließlich weißen Berliner Theatertreffen-Publikum | |
funktioniert hätte – fraglich. | |
In ihrer neuen Arbeit, die Anfang Oktober zum ersten Mal als Work in | |
Progress in New York gezeigt wird, soll es ohne Ausschluss bestimmter | |
Gruppen nun mehr um das gemeinsame Erleben eines utopischen, geschützten | |
Ortes gehen, der womöglich Realität werden kann. Talia und Nia sprechen so | |
voller Tatendrang, so euphorisch und optimistisch, dass man ihnen das | |
unbedingt glauben möchte. | |
## Debatte um Zugänglichkeit für Schwarze Künstler:innen | |
Den Corona-Lockdown hat Talia dazu genutzt, in ihrem kleinen Hinterhof in | |
Brooklyn ein Avocado-Bäumchen zu züchten, das Teil der Inszenierung werden | |
soll. Neben fast reifen Rebstöcken, die sie ebenfalls anpflanzt, begegnet | |
man zwei ungewöhnlich warmherzigen Künstlerinnen, die gegen den | |
strukturellen Rassismus der USA ihre eigenen Mittel gefunden haben. 2022/23 | |
werden sie, darin besteht die Auszeichnung des Stückemarkts, mit einer | |
neuen Arbeit ans Theater Dortmund kommen. | |
Dass in New York in der laufenden Saison gleich sieben Stücke schwarzer | |
Autor:innen am Broadway zu sehen sind, halten sie für eine großartige | |
Nachricht. Allerdings, sagt Nia, „hoffe ich, dass das nicht nur ein Trend | |
ist, sondern echte Transformation“. Denn die kulturellen „Gatekeeper“, die | |
Produzenten mit dem Geld, sind nach wie vor: weiß. | |
Nia und Talia kennen die Gerüchte und Mutmaßungen: Die schwarzen Autorinnen | |
würden absichtlich in der unsicheren Pandemie-Saison an den Start | |
geschickt, weil jederzeit alles im Lockdown verschwinden kann; bei | |
Startschwierigkeiten, die Corona geschuldet sind, könne man alles auf die | |
Autor:innen schieben. Und trotzdem, sagt Talia, „ist die Pandemie dafür | |
verantwortlich, dass die Debatten um Zugänglichkeit für Schwarze | |
Künstler:innen jetzt so vehement geführt werden. Das wäre im laufenden | |
Betrieb anders verlaufen“. | |
Beide wissen, wie viel Druck auf den Teams dieser sieben Premieren lastet: | |
„Sie müssen aber auch scheitern können dürfen – ohne, dass man dafür ihr | |
Schwarzsein verantwortlich macht.“ In der Tat steht der ästhetische, | |
künstlerische Erfolg auf einem anderen Blatt. Nach einigen Wochen New York | |
und mehreren Aufführungen mit und von fast ausschließlich nichtweißen | |
Menschen kann die Kritikerin jedenfalls sagen: Es verändert den | |
Blickwinkel. | |
24 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Covid-19-Pandemie-in-den-USA/!5781925 | |
[2] /US-Kulturinstitutionen-in-der-Kritik/!5689704 | |
[3] https://www.rottentomatoes.com/m/pass_over | |
[4] https://digital.berlinerfestspiele.de/stueckemarkt/dreams-in-blk-major | |
## AUTOREN | |
Barbara Behrendt | |
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