# taz.de -- Aus Nazi-Deutschland geflohene Lyrikerin: Die Dichterin der zweiten… | |
> Nur eine Dichterin aus Deutschland hat den Pulitzer-Preis für Lyrik | |
> gewonnen: die in den USA lebende Lisel Mueller. Hier kennt sie kaum | |
> jemand. | |
Bild: Schreibt amerikanische Lyrik mit Brecht-Zitaten: Lisel Mueller | |
Vergessen ist keine Option. Lisel Mueller darf nicht in Vergessenheit | |
geraten. Und das ist schon eine Herausforderung, weil Lyriker*innen, so | |
scheint es, sehr schnell vergessen werden. Hinzu kommt, das so wenige in | |
Deutschland überhaupt etwas davon ahnen, dass es diese bedeutende Dichterin | |
gibt, die im Februar 95 Jahre alt wird. Schlechte Voraussetzungen, um ein | |
eher stilles Werk wahrzunehmen, in dem das Private unversehens in die Fänge | |
der Weltgeschichte gerät und dessen reimlose Verse banalstes Alltagserleben | |
untrennbar mit Politik verschmelzen. Denn das ist es, was immer wieder | |
passiert in diesen Gedichten von – wie hieß sie noch gleich? Lisel Mueller? | |
Es ist eine Schande, dass fast niemand Lisel Mueller kennt. Niemand kann da | |
etwas für. Es gibt überhaupt gar keine Schuld. Diese Bildungslücke hat sich | |
einfach aufgetan, hat sich auftun müssen. Aber eine Schande bleibt es doch | |
und nicht nur, weil Lisel Mueller den Carl Sandburg Prize, den Lilly Prize | |
und den Lamont Award gewonnen hat und was es sonst noch alles so gibt in | |
den USA, und auch nicht nur, weil sie die einzige deutsche Dichterin ist, | |
die jemals den Pulitzer Prize gewonnen hat. | |
Deutsche Dichterin ist falsch, das klingt nach Vereinnahmung, darum darf es | |
nicht gehen. Lisel Mueller ist Amerikanerin, Bürgerin der USA seit den | |
frühen 1940ern. Ihre Lyrik ist durch und durch amerikanisch, auch wenn hie | |
und da Brecht-Zitate auftauchen – und sie immer wieder die Abgründe der | |
deutschen Volksmärchen nutzt, ihr Grauen, ihre Menschenfresserfantasien: | |
„Ich die Hexe, wiege im Arm das blassgrüne Köpfchen / und murmele: ‚Klein… | |
Kerl, du schaust gerade recht zum Fressen aus‘ “, heißt es an einer Stelle, | |
die allerdings nur von der Kohlernte im eigenen Garten handelt. Muellers | |
erste Begegnung mit moderner Dichtung, das war eher Carl Sandburg als etwa | |
Georg Trakl, Else Lasker-Schüler oder auch Claire Goll. | |
Deutschland spielt aber immer eine Rolle, eine zutiefst ambivalente, für | |
sie selbst und in ihren Texten: „For years“, schreibt sie, nachdem sie | |
1983 erstmals die Stätten ihrer Kindheit besucht hat, „I did not want to be | |
German, wanted nothing to do with German traditions“ – „Jahrelang wollte | |
ich nicht deutsch sein, wollte nichts mit deutschen Traditionen zu tun | |
haben“. Und trotzdem suchen diese Traditionen ihre Gedichte heim. Und | |
trotzdem nennt sie Deutschland „what should have been my own country“, | |
also, das, was mein Land hätte sein sollen. | |
## „Kind in Hitlers Deutschland“ | |
Auch empfindet sie – Lisel Mueller ist am 8. Februar 1924 in Hamburg | |
geboren – eine Art Besitzerstolz auf die Alster, als sie die bei einem | |
Deutschlandbesuch ihrem Mann Paul zeigt, und in Essays, Interviews und | |
Lyrik taucht Deutschland immer mal wieder auf, im 1992, dem Jahr von | |
Hurricane „Andrew“ und Landers-Beben gedichteten Lebenslauf „Curriculum | |
Vitae“ etwa, wo es heißt: „My country was struck by history more deadly | |
than earthquakes or hurricanes“ – „Mein Land war getroffen von Geschichte, | |
tödlicher als Erdbeben und Hurrikane“. | |
Ein „Kind in Hitlers Deutschland“ nennt Mueller 1986 sich selbst in „Blood | |
Oranges“, das an die Ermordung Federico García Lorcas erinnert. Und in | |
„Beginning with 1914“, einem langen Gedicht, das in einem imaginären Film | |
virtuos die Geschichte des Jahrhunderts mit der von Muellers eigener | |
Familie bis zur Gegenwart überblendet – der Band „The Need to Hold Still�… | |
in dem es erscheint, erhält 1981 den National Book Award –, drängen sich | |
„scenes of horror and death / I can’t bear to watch“ vor die Augen – Sz… | |
von Horror und Tod/die ich nicht ertrage zu sehen. | |
Verschließen können sich die Augen ihnen nicht: Der Blick zurück ist ebenso | |
unvermeidlich, wie er unerträglich ist. Es ist ein Zwang: „We are all / | |
pillars of salt“, schreibt Mueller an anderer Stelle – wir alle | |
sind/Salzsäulen. Offen sympathisiert die Dichterin in etlichen Gedichten | |
mit jener Frau, deren Namen die Bibel nicht erwähnt und die so grausam | |
bestraft wird, weil sie einen Blick voll Mitleid auf die Vernichtung der | |
Heimat wirft – und sich dem göttlich verordneten Vergessen widersetzt. | |
„I’m partial to history“, hat Mueller in einem Interview einmal erklärt, | |
„für mich ist ein Sinn für das, was in der Vergangenheit vor sich ging, | |
sehr wichtig für die Weltsicht“. Denn das genau sei ihr Zugang zum Dichten | |
selbst: „Ich blicke auf das, was gerade jetzt in meinem Leben und dem der | |
Leute rund um mich geschieht, nicht auf etwas, das losgelöst wäre von all | |
dem, was vorher geschah.“ Alles stehe „im Kontext der Vergangenheit und | |
dessen, was in der Zukunft kommen mag“. | |
## Einzigartige lyrische Stimme | |
Am 9. Juni 1939 landet Elisabeth Annelore Neumann zusammen mit ihrer Mutter | |
Ilse und der vier Jahre jüngeren Schwester Ingeborg im Hafen von New York. | |
Die Überfahrt an Bord der „S.S. Hansa“, einem Schiff der | |
Hamburg-Amerika-Linie, ist eine lange geplante und herbeigehoffte Flucht. | |
Ende April sind die Tickets gelöst worden. Der Vater, Fritz C. Neumann, | |
erwartet die Familie. Sehnsucht: Im September 1937 war er in den USA | |
gelandet, als politischer Flüchtling. Anfang 1939 hatte er eine feste | |
Anstellung als assistant teacher in Evansville bekommen. Erst die | |
verschafft dem Rest der Familie ein Visum, der Nachzug wird möglich, | |
endlich. | |
In der Passagierliste steht der Name Elisabeth. In den USA wird sie nur | |
noch als Lisel firmieren. Schon in den Jahrbüchern des Evansville-College, | |
Indiana, taucht sie nur noch unter diesem Namen auf, etwa als sie 1942 zur | |
Präsidentin einer neugegründeten Schwesternschaft gewählt wird. Die heißt | |
„Kappa Lambda Rho“, hat sechs Mitglieder und schmückt sich mit einem Motto | |
aus dem Poem „In Memoriam“, das Alfred Lord Tennyson 1849 vollendet hat: | |
„Let knowledge grow from more to more“, [1][so lautet es]. | |
Spätestens 1943, als sie Paul Mueller heiratet, wird Lisel die deutsche | |
Staatsbürgerschaft entzogen. Ein Bruch. Das lässt sich nicht reparieren | |
oder ungeschehen machen, ohne das Leben und das Werk ungeschehen zu machen: | |
„Wer weiß, ich wäre vielleicht nicht Dichterin geworden, wäre mir all dies | |
nicht passiert“, hat sie in einem Interview gesagt. Eine beruhigende | |
Einsicht ist das nicht. | |
Ein solcher Bruch lässt sich aber anerkennen und erinnern. Und darum geht | |
es, wenn von Lisel Mueller als deutscher Dichterin die Rede ist, um | |
Erinnerung und Anerkennung und die leise Hoffnung, Ohren zu öffnen für | |
diese einzigartige lyrische Stimme, für dieses ausgezeichnete dichterische | |
Werk. Denn es geht uns an, und es ist trotzdem durch Vergessen bedroht. | |
Das Mindeste wäre, dass der Bundespräsident Lisel Mueller einen Orden | |
verleiht, wenigstens zum 95. Geburtstag, den sie in einem Altersheim in | |
Chicago begehen wird. Es müsste eine Ausstellung und Veranstaltungen geben, | |
um sie zu ehren, und vor allem wären mehr Übersetzungen ihrer Gedichte | |
anzuleiern, auch wenn die kleine, feine Auswahl, „Brief vom Ende der Welt“, | |
die Andreas Nohl 2006 für den Augsburger Maro Verlag (14 Euro) besorgt hat, | |
noch immer nicht vergriffen ist. Es müsste auf sie aufmerksam gemacht | |
werden. Und wenn es sonst keiner tut, müssen wir halt versuchen, was sich | |
machen lässt. | |
## Für den Vater soll es eine Plakette geben | |
Zu viel Pathos. Das würde ihr vermutlich nicht gefallen: „What happens / | |
happens in silence“ – Was passiert / passiert in Stille, diese Formel | |
eröffnet 1976 das Titelgedicht des Bandes „The Private Life“. Das ist keine | |
Absage an das öffentliche Leben, keine Regression ins traute Heim oder der | |
Versuch, einer gewalttätigen Welt zu entfliehen. Jenes Gedicht und im | |
Grunde der ganze Band – eines seiner Motti zitiert Hannah Arendts „Men in | |
Dark Times“ – sondieren vielmehr deren wechselseitiges Verhältnis. Und so | |
ist auch diese [2][geradezu biblische Sentenz] eher als Kritik am | |
rhetorischen Lärm zu lesen, der [3][das wirkliche Ereignis] – „it happens | |
in eyes before the scream“, es geschieht in Augen kurz vor dem Schrei – nur | |
übertönt, statt es zu humanisieren. | |
Scheinbar in den Redaktionsräumen einer Tageszeitung formuliert sich eine | |
Weigerung, den Lärm mitzuverbreiten, der die schmierige mediale Vermarktung | |
der Gewalttaten und des Celebrity-Klatschs bestimmt, in der ein | |
Fernschreiber – ach!, die guten alten Fernschreiber! die mit schrill | |
schlürfendem Ton Endlosbögen von Papier bedruckten – zum Drachenmaul wird, | |
dessen bedrohliche Zunge nachwächst, kaum ist sie ausgerissen: „We are | |
being eaten by words“ – Wir werden von Wörtern gefressen. | |
Für den Vater soll es im Herbst eine Plakette am Hamburger | |
Alstertal-Gymnasium geben, immerhin. Studienrat Dr. Fritz C. Neumann – | |
seine Dissertation über die Entstehung von Henrik Ibsens Drama | |
„Rosmersholm“ erscheint 1921 – war dort Lehrer. Er gehört zu denjenigen | |
Reformpädagogen, die für die Nazis unerträglich sind, engagiert sich für | |
den Aufbau der Marxistischen Abendschule Hamburgs, warnt mit einer | |
Brandrede noch im Januar 1933 vor der versammelten hamburgischen | |
Lehrerschaft vor der drohenden Machtübernahme. Am 22. Mai 1933 wird Neumann | |
aus dem Schuldienst entfernt. Er ist eins der ersten politischen Opfer des | |
Gesetzes übers Berufsbeamtentum. | |
Die Familie, über Wasser gehalten vom schmalen Volksschullehrerinnengehalt | |
der Mutter, zieht vom schicken Uhlenhorst in eins jener rot verklinkerten | |
Winterhuder Mehrfamilienhäuser, die in den 1920ern gegen die Wohnungsnot | |
hochgezogen worden waren. Im März 1935 gerät Neumann in die Fänge der | |
Gestapo. Vier Tage Haft, vier Tage Verhör. Noch einmal, das ist ihm klar, | |
wird er nicht davonkommen. Er geht nach Italien, unterrichtet hier an einem | |
jüdisch-deutschen Internat, dort an einem jüdischen Landschulheim. Erst der | |
Wechsel in die USA verheißt eine dauerhafte Perspektive, er wird Uni-Dozent | |
in Chicago, auch Ilse Neumann kann wieder als Lehrerin arbeiten. Sie stirbt | |
im Sommer 1953 im Alter von gerade einmal 54 Jahren. Sein Versuch, nach | |
Hamburg zurückzukehren, scheitert. | |
„Schließlich kam er zu uns, um bei uns zu leben“, erzählt Jenny Mueller, | |
seine Enkelin. Früh schon habe sie von der Widerstandshaltung ihres | |
Großvaters gewusst. Aber ein Thema war das zu Hause kaum: „Er litt unter | |
den Nachwirkungen eines Hirninfarkts“, mailt sie, „und er sprach selten.“ | |
## Eine lauernde Angst | |
Die meisten Gedichte von Lisel Mueller handeln nicht von Flucht, nicht | |
offen vom Leben in Diktatur und Terror. Die Erfahrung scheint dennoch immer | |
mitzuschwingen, angedeutet, unausgesprochen, ein stummer Gast, eine | |
lauernde Angst; vielleicht speist sie, als eine unterirdische Quelle, „her | |
seemingly effortless gift for metaphor“, auf das Jenny Mueller, selbst | |
Dichterin und Dozentin für Creative Writing, [4][in einem Essay über ihre | |
Mutter hinweist], diese scheinbar mühelose Gabe der Metapher. | |
Aber die Erfahrung erklärt eben weder die Gabe selbst, noch liefert sie | |
einen Schlüssel dazu, wie Mueller sich ihre oft gerühmte Fähigkeit erworben | |
hat, in wenigen, komprimierten Versen menschliche Tragödien zu erfassen. | |
Woher kommt diese atemberaubende Kunst, sich in eine andere Person zu | |
versetzen, in ein anderes Leben einzutauchen – und den Blick der Figuren | |
anzunehmen? Zumal in jene, die von der Überlieferung an den Rand gedrängt | |
sind, denkt sich diese Dichtung hinein, Übeltäterinnen wie Aschenputtels | |
glücklose Schwester, die alles gegeben hätte für ein wenig Liebe, bis hin | |
zu Selbstverstümmelung, und die nur Hass und Verachtung erntet. | |
Mueller lässt jene sprechen, die zum Objekt gemacht wurden, wie Venus, die, | |
alles andere als triumphal, dem Meer entsteigt: „You paint me floating | |
ashore / with rose-tipped breasts / lifting toward the sun“. Rosen-besetzte | |
Brüste, zur Sonne aufgerichtet, mit einer letztlich vulgären Männerfantasie | |
überschreiben Sandro Botticelli et al. die wahre Geschichte: „What poor | |
eyewitnesses you are“, empört sich die Göttin, ihr erbärmlichen | |
Augenzeugen! Denn sie selbst weiß sich ja nicht als blond, sondern mit | |
grünem, tangverfilzten Haar an einem bedeckten Tag ans Ufer gespült, | |
halbtot, Wasser in den Lungen, von Sonne keine Spur, Felsen und Muscheln | |
zerschneiden ihr die Füße: „No one was there. I was cold and lost.“ | |
Und manchmal spricht die Dichterin als eine von jenen, die im Gedächtnis | |
nur noch als Anhängsel präsent sind, als Lots Frau zum Beispiel, diese | |
bittere Allegorie der Erinnerung in der Gestalt einer soliden Säule, die | |
sich auflöst, weil „all das Salz / zurücksuppt in das Meer“. | |
Seit sie mit Paul, ihrem „american born husband“, knapp 50 Kilometer | |
nördlich von Chicago bei Libertyville im ländlichen Lake County ein Haus | |
gebaut hat, bekommt Muellers Leben einen starken Zug ins Idyll, zu stark, | |
um als Thema zu fungieren: Vom Glück gibt es ja nie viel zu erzählen. Im | |
Abstand von vier Jahren werden die Töchter Lucy und Jenny geboren. Anfang | |
der 1970er wird Mueller zu den Gründer*innen des Poetry Center gehören, | |
heute eine wichtige Institution in Chicagos Literaturleben. Sie jobbt am | |
Empfang einer HNO-Arzt-Praxis. Lange arbeitet sie als Rezensentin für die | |
Chicago Daily News, bis die Mitte der 1970er eingestellt wird. | |
## Strenge Arbeit der Reflexion | |
„Years and years of this“, fasst ein Vers aus „Curriculum Vitae“ das | |
zusammen. Erst Ende der 1990er ziehen Lisel und Paul Mueller nach Chicago: | |
Ihren besten Kritiker hat sie ihn genannt. Fast 60 Jahre sind die beiden | |
verheiratet, als er am 1. Januar 2001 stirbt. | |
Mueller gehört keiner der herrschenden Dichtschulen an. Zur Beat Generation | |
unterhält sie keinen Kontakt, das ist auch eher so ein Männerding. | |
Unüberwindbarer scheint ihre Distanz zur Confessional Poetry, deren | |
Exhibitionismus ihr zuwider ist. Ihr Schreiben hat Mueller in Essays und | |
Interviews als strenge Arbeit der Reflexion beschrieben, einen Prozess der | |
Formalisierung von Gefühlen – auch um sie selbst überhaupt verstehen zu | |
können. Es geht um Erkennen, nicht um Bekenntnis, auch wenn Auslöser des | |
Schreibens die Biografie, der Tod der Mutter ist: Lisel Mueller ist damals | |
29 Jahre alt, hat außer Teenager- und Schul-Lyrik nie geschrieben. Jetzt | |
merkt sie, dass sie Gedichte verfassen muss, und mehr: dass sie damit nicht | |
mehr wird aufhören können. | |
Akribisch mehr als planmäßig erarbeitet sie sich Techniken des lyrischen | |
Sprechens. Sie lernt, mit Reim und Metrik umzugehen, erprobt klassische | |
Formen – und verwirft sie wieder. Zwölf Jahre lang dauert dieses fast schon | |
verbissene Selbststudium, erst dann hält sie die Zeit reif, um einen ersten | |
Band zu veröffentlichen, „Dependencies“ – keine 70 Seiten, gerade einmal… | |
Gedichte. „Ich hatte zwar viel geschrieben“, so Mueller später in ihrem | |
Essay „Learning to Play by Ear“, „aber das meiste schmiss ich weg.“ | |
„Sie ist jetzt 94“, schreibt Jenny, die das Werk pflegt, über ihre Mutter, | |
„und leider hat sie sehr viel von ihrem Gedächtnis in den vergangenen fünf | |
Jahren verloren.“ Auch die Augen versagen den Dienst: ein Glaukom. Lesen | |
ist fast nicht mehr drin, und schreiben – das mache sie nur noch sehr | |
wenig, seit vor über 20 Jahren der letzte Band erschien, so Jennys | |
Auskunft. „Während sie das hauptsächlich dem Verlust der Sehkraft | |
zugeschrieben hat, glaubt sie doch auch, etwas von ihrer Gabe der | |
poetischen Sprache verloren zu haben, einfach durchs Altern.“ | |
Als „a memoir“ bezeichnet Lisel Mueller den kurzen Text „Return“, den s… | |
vor 35 Jahren nach ihrem ersten Hamburg-Besuch seit ihrer Kindheit | |
schreibt. Vielleicht müsste man den Untertitel als „eine Denkschrift“ | |
übersetzen, also, laut Grimmschem Wörterbuch, „eine schrift zum andenken an | |
eine person oder ereignis“, denn das träfe den Charakter dieser acht | |
Druckseiten besser: Die neuen Eindrücke, die der Besuch in der Heimatstadt | |
ergibt, bleiben losgelöst von der Welt des Gedächtnisses. Sie „haben nichts | |
zu tun mit den Bildern, die ich mit mir seit 44 Jahren herumtrage“, | |
resümiert Mueller: Der Abgleich zwischen der Welt, in der die Toten | |
lebendig sind, und der, in der sie fehlen, ist sinnlos. Er spielt keine | |
Rolle. „It does not matter.“ | |
Was eine Rolle spielt, ist, dass es überhaupt Erinnerungen gibt, „that | |
there are memories“ – also „Bilder, die meine Großeltern zurückbringen�… | |
Denn diese Erinnerungen sind es, die ermöglichen, sie zu retten, und sei es | |
nur „von ihrem zweiten Tod, dem wahren, der da Vergessen heißt“. | |
2 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.poetryfoundation.org/poems/45328/in-memoriam-a-h-h-obiit-mdcccx… | |
[2] https://www.bibleserver.com/text/EU/1.K%C3%B6nige19,4 | |
[3] https://archive.org/details/cu31924012068593/page/n157 | |
[4] http://www.fifthwednesdayjournal.com/on-lisel-mueller/ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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