# taz.de -- Dichterin Lotte Kramer wird 100: Frau Kramer schreibt kein Deutsch | |
> Exil-Dichterin Lotte Kramer wird 100. Ihre Gedichte handeln vom Verlust | |
> der Heimat, der Ermordung ihrer Familie und Angst vor der eigenen | |
> Erinnerung. | |
Nach dem Umzug ins Heim hat sie dann doch irgendwann aufgehört zu | |
schreiben. Die Augen, ach!, die Kräfte …, bald, am 22. Oktober, wird Lotte | |
Kramer 100. Aber ganz verstummen wird sie nie mehr. Mehr als 40 Jahre lang | |
hat sie gedichtet, vielleicht dichten müssen. Als unwiderstehlich hat die | |
Mainzerin den Impuls zu schreiben einst im Zeitzeuginnen-Gespräch mit der | |
Shoah Foundation geschildert: „I couldn’t stop, once I started“, hat sie | |
dem Oral-History-Interviewer gesagt. | |
Der war 1997, entsandt von der University of California, zu ihr nach Hause | |
gekommen, nach Peterborough, Cambridgeshire, England, um sie zu befragen, | |
zu ihrem Leben, also: Ich konnte einfach nicht aufhören, als ich einmal | |
damit begonnen hatte – nachdem die Ängste einmal überwunden waren, in die | |
Öffentlichkeit zu treten. Nach dem Ablegen der Scheu, der Unsicherheit, die | |
eigene Stimme zu erheben, in jener Sprache, in der sie doch erst als | |
Teenager begonnen hatte, zu träumen. | |
Es ist eine Stimme lange verschütteter Erinnerung, die sich damals Bahn | |
gebrochen hat. Erinnerungen an die Kindheit in der Weimarer Republik und in | |
Nazideutschland. Aber „Nein“, hat Kramer auf die Frage geantwortet, ob ihr | |
jemals in den Sinn gekommen wäre, dafür die deutsche Sprache zu nutzen: | |
„Nein, nein, nein. Wirklich nicht.“ Schon diese Erinnerungen waren ja mit | |
Absicht begraben gewesen, vereist, betäubt. Und dass sie sich dann zu | |
verflüssigen begannen, scheint sie weniger bezweckt als erlitten zu haben: | |
„It just floated out of me“, hat sie das beschrieben. | |
Als 1980 ihr erster eigenständiger Gedichtband erscheint, wird sie ihn | |
„Ice-Break“ nennen. Das Titelgedicht beschwört Bilder aus dem Februar 1929. | |
Damals hatte Dauerfrost den Rhein von Ludwigshafen bis Koblenz erstarren | |
lassen. Es sind glückliche Bilder in hartem Winterlicht, scheinbar | |
unbeschwert: „Und ich bin wieder klein / An der Seite / Meines Vaters, ganz | |
nah an seiner Hand, / Unsere Füße betreten mit vorsichtigem Schritt das | |
Eis“, heißt es in Beate Hörrs Übersetzung, „Der Rhein, / Jetzt eine neue | |
weiße Straße ohne Ende / Der verläßliche Fluß vergangen oder tot.“ Von da | |
an erscheinen rund alle zwei Jahre neue Gedichtbände von ihr. | |
## Misstrauen gegen die Form | |
Noch 2011, und da geht sie halt schon stramm auf die 90 zu, veröffentlicht | |
sie neue Gedichte: Immer karger scheinen sie zu werden, silbensparsam, | |
misstrauisch den Möglichkeiten des Mediums gegenüber, den Schmerz zu | |
verdeutlichen: „Zu einfach / Für Erben / Für Trauernde / Zu oberflächlich / | |
Diese Schnappschüsse des Terrors / Der Rahmen passt nicht“, heißt es da, | |
frei übersetzt in dem Poem mit dem spröden Titel „Media Measures“. | |
Skeptisch klingen ihre späten Verse auch im Bezug aufs Potenzial der | |
Wahrnehmung: „Meine Augen sind überlastet / Von der Helle“, heißt es, frei | |
übersetzt, im Gedicht „The Wrong Side“, das dann die unerträgliche | |
Überfülle des Lichts ins Unendliche widerhallen lässt: „Too much light, / | |
Too bright, / Too bright, / Too bright“: ein Ewigkeitsecho, das durch die | |
Zeit auf Johann Wolfgang von Goethes legendäre Letzte Worte zu antworten | |
scheint. „Mehr Licht“ soll der ja auf dem Sterbebett gefordert haben, aber | |
das weiß man nicht genau. | |
Fest steht, dass Kramer eine eigene Nachdichtung von „Wandrers Nachtlied“ | |
ihrem Band der „New and Collected Poems“ vorangestellt hat, „Over all | |
mountain peaks …“ Den Band nennt sie ihren „body of work“, ihr | |
literarisches Vermächtnis: 526 Gedichte, plus 41 Übersetzungen aus dem | |
Deutschen. Viel Rilke. Aber auch Heine. | |
Es wird dieses Jahr wohl erstmals auch ein offizielles Glückwunschschreiben | |
aus Berlin geben, von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. In Mainz hält | |
man Lotte Kramer schon länger in Ehren. „Sie scheint sogar einen ihrer | |
ersten Gedichtbände dem damaligen Kulturdezernenten geschickt zu haben“, | |
sagt die Historikerin Hedwig Brüchert, „bloß konnte der nicht so viel damit | |
anfangen, weil es halt auf Englisch war.“ Brüchert hatte die Kramers schon | |
1988 in England besucht. Beide waren ja Mainzer, und der Verein für | |
Sozialgeschichte, dessen Vorsitzende Brüchert war, plante gerade die | |
Ausstellung anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht. | |
Daraus hervorgegangen sind dann ab 1991 und zunächst jährlich die | |
Begegnungswochen. Bei denen schrieb die Stadt die in alle Welt verstreuten | |
jüdischen Mainzer, die überlebt hatten, an lud sie endlich! einmal | |
offiziell ein, in ihre Heimat. Dreimal nahmen die Kramers teil, „und Lotte | |
hat immer an Mainzer Schulen aus ihren Gedichten vorgelesen“, erinnert sich | |
Brüchert, „wahrscheinlich im Englisch- oder Geschichts-Leistungskurs“. | |
Irgendwann haben dann Uni, Landeszentrale für politische Bildung und | |
Kulturministerium zusammengelegt und den bislang einzigen Band finanziert, | |
den es von Gedichten Kramers auf Deutsch gibt. 53 Stück hat Hörr ausgewählt | |
und übertragen. Wichtig ist auch das Interview, das als Nachwort dient. | |
## Gedenken in Mainz | |
Kramers Heimatstadt hat mittlerweile einen Saal nach ihr benannt. Und Mainz | |
begeht auch ihren runden Geburtstag, bei zwei Veranstaltungen am 9. | |
November: Beim offiziellen Gedenkakt in der 2010 eröffneten neuen Synagoge | |
werden Gedichte von ihr rezitiert, weil sie auch vielen, die keine Worte | |
für das Entsetzen finden konnten, zu einer Sprache verhelfen. Vom | |
Oberbürgermeister soll es ein Grußwort geben. | |
Am Abend wird es dann im „Haus des Erinnerns – für Demokratie und | |
Akzeptanz“ eine Einführung ins Werk geben, eine zweisprachige Lesung und | |
eine Diskussion, informiert das Kulturamt. Dabei sein wird die | |
Schwiegertochter Miriam Kramer. Deren Mutter hatte seinerzeit aus Frankfurt | |
nach England fliehen können, in einem sogenannten Kindertransport, genau | |
wie Lotte Kramer. „Wir müssen diese zweite Generation ohnehin stärker in | |
den Blick nehmen“, sagt Anke Sprenger, die im Amt die Projektleitung Mahnen | |
und Gedenken innehat. „Es ist wichtig, zu verstehen, wie sich das Trauma | |
vererbt.“ | |
Das Haus des Erinnerns, getragen von einer 2015 gegründeten gleichnamigen | |
Stiftung, ist seit ein paar Jahren der zentrale Gedenkort der Stadt. Er | |
befindet sich am Flachsmarkt im ehemaligen Allianz-Haus, das in den | |
1960er-Jahren eine Lücke füllte, mit zeittypischer Architektur, die mit | |
ihrer roten Sandsteinhülle Anleihen an die örtliche Bauhistorie gemacht | |
hat. Drinnen gibt es eine dauerhafte künstlerische Medieninstallation, als | |
Mahnmal: Im verdunkelten Saal scheinen die Namen derjenigen | |
Mainzer*innen als Schriftprojektion auf, von denen bislang bekannt ist, | |
dass sie vom Nazi-Regime ermordet wurden. Stimmen aus dem Off nennen sie, | |
einen nach dem anderen. | |
Es soll ein Gedenkort für alle Opfergruppen sein. Bislang erinnert wird | |
hier an 1.600 Menschen mit Nach- und Vornamen, mehr als ein Prozent der | |
Mainzer Bevölkerung um 1940. Selbst wenn fürs Verlesen von jedem Einzelnen | |
nur fünf Sekunden Zeit blieben, ergibt sich daraus schon eine Spieldauer | |
von über zwei Stunden. | |
Und noch sind die Forschungen nicht abgeschlossen. Gerade läuft zum | |
Beispiel ein Projekt, das endlich die lokale Dimension der Vernichtung von | |
Menschen mit Behinderung erfassen soll. Die Zahl der Namen wächst noch | |
immer. | |
Auch wenn ein konkreter Todestag fehlt, der Name von Ernst Wertheimer | |
gehört jetzt schon dazu und auch der von Sophie Wertheimer, geborene | |
Wertheimer. Ja, ja, das ist ein etwas lustiges Zusammentreffen, dass die | |
beiden dieselben Geburtsnamen hatten. Es gab halt sehr viele | |
Wertheimer-Familien in Deutschland, damals. Irgendwo steht, Kramers Vater | |
hätte in Mainz im Geschäft ihrer Großeltern mütterlicherseits gearbeitet, | |
aber „das ist eine Fehlinformation“, sagt Brüchert, die viel zum jüdischen | |
Leben in Mainz geforscht hat. | |
„Sie waren beide gebürtig aus Kehl“, in welcher Firma Ernst Wertheimer bis | |
zu deren „Arisierung“ gearbeitet hatte, könne nicht mit Gewissheit gesagt | |
werden. Dokumentiert ist: Die Eltern von Lotte Kramer wurden 1942 am 20. | |
März nach Piaski deportiert, ins Zwangsgetto. Von dort dann in die | |
Vernichtung, nach Belzec oder nach Chełmno. | |
## Die Gemeinde war immer wichtig | |
Ihre Tochter Lotte war schon in England, als die Eltern schließlich in der | |
Taunusstraße 45 zwangseinquartiert wurden, einem der so genannten | |
„Judenhäuser“: Sammelpunkte, um den reibungslosen Ablauf der Verschleppung | |
sicherzustellen. Gelebt hatte die Familie bis 1939 mitten in der Neustadt, | |
in einem der repräsentativen Häuser der Hindenburgstraße, die tatsächlich | |
noch immer so heißt, vis-à-vis der berühmten großen Synagoge: Mainz ist | |
1933 mit 3.000 Seelen zwar bei Weitem nicht die größte israelitische | |
Religionsgemeinschaft des Reichs. | |
Aber sie war immer wieder wichtig, nach der Kurmainzer Vertreibung, nach | |
den Pest- und sogar schon vor den Kreuzzugspogromen: Der älteste jüdische | |
Grabstein Mitteleuropas befindet sich in Mainz. Keine, nicht einmal Worms, | |
hat ältere Wurzeln als sie. Der Stolz auf diese Tradition hatte seinen | |
Ausdruck in jenem prachtvollen Kuppelbau von 27 Metern Durchmesser und 25 | |
Metern Höhe gefunden, der 1912 eröffnet wurde. | |
Wie er in der Nacht zum 10. November 1938 binnen weniger Stunden in Flammen | |
aufgeht und besorgte Bürger das rauben und zerstören, was übrig bleibt, | |
gehört zu den Erinnerungsbildern, die immer wieder in Lotte Kramers Lyrik | |
an die Oberfläche drängen. | |
Sie sieht es aus dem Dachfenster, im Versteck. Dort hockt sie, dank einer | |
telefonischen Warnung einen Tag zuvor, mit ihrer Mutter in einer Mansarde. | |
Der Vater verbirgt sich derweil in den Wäldern des Taunus. „Wir hörten sie | |
schreien und mit Stöcken schlagen“, heißt es in Hörrs Übersetzung, „Jet… | |
waren sie nahe – / die Welt einer Witwe / Schlug durch ihr Fenster, altes | |
henkelloses Porzellan und Messing, der Tisch wurde / Ihrer früheren, | |
sorgfältigen Berührung entrissen. / Wir zitterten. – “ | |
Kramer nennt England in einem Gedicht „my adoptive earth“. Sie ist nicht | |
die einzige vor den Nazis Geflüchtete, die jenseits von Vaterland und | |
Muttersprache zur Dichterin geworden ist. Wie sie waren die düstere Karen | |
Gershon (née Käthe Löwenthal) aus Bielefeld, die grandios ironische Gerda | |
Mayer, née Stein aus Karlovy vary und die in Berlin als Anneliese Rosenberg | |
geborene auch politisch und sportlich erfolgreiche Anne Kind, OBE, dank des | |
„Refugee Children’s Movement“ 1939 nach England gekommen. Unbegleitete | |
minderjährige Flüchtlinge wäre heute der administrative Ausdruck dafür. | |
„Kindertransport-Poets“ hat der britische Literaturwissenschaftler Peter | |
Lawson sie versucht zu rubrizieren, gut, weil das Sichtbarkeit schafft. | |
Aber alles in allem doch eine unglückliche Bezeichnung: Sie schließt anders | |
emigrierte wie Alice Beer und Michael Hamburger aus und erst recht jene, | |
die anderswo Asyl fanden. Vor allem aber verengt sie Leben und Dichtung auf | |
einen Moment der Biografie. „Ich möchte nicht in eine Art Sack der | |
Holocaust- oder der Deutsch-Jüdischen Lyrik gesteckt werden“, hat | |
jedenfalls Kramer selbst gesagt. | |
Eher schon hatte sie sich gefallen lassen, den Leser*innen des Magazins | |
der Association of Jewish Refugees als „poet of internal exile“ vorgestellt | |
zu werden. Das war 1992, zu einem Zeitpunkt, zu dem staatsrechtlich von | |
Exil, also dem erzwungenen Aufenthalt in einem anderen als dem Geburtsland, | |
längst nicht mehr die Rede sein konnte. | |
Aber nicht immer stimmen die Begrifflichkeit politischer Verwaltung und | |
lebendige Erfahrung, aus der sich Lyrik speist, überein. In dem Sinne | |
empfiehlt auch die Leiterin der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für | |
deutsche Exilliteratur, Doerte Bischoff, den Ausdruck nicht als starres | |
Etikett zu deuten: „Wenn sich die Texte daran abarbeiten“, so die Hamburger | |
Germanistikprofessorin zur taz, „dann spricht doch alles dafür, sie auch | |
als Exilliteratur zu lesen.“ | |
Es gibt Figuren und Symbole, die in ihr eine spezifische Farbe bekommen. | |
Herkömmliche Bilder, wie die konservative Trivialmetapher von der | |
Entwurzelung, verdichten sich im Exil zum Ausdruck eines akuten Schmerzes. | |
Oder: der Gemeinplatz von der Heimkehr. Die bildet seit Homer den | |
glorreichen Endpunkt der Heldenreise, blutige Rache inklusive. Das Exil | |
aber kennt keine Triumphe. Ihm gerät die Rückkehr zur verstörenden Frage | |
ohne klare Antwort; oft auch zu einem Konflikt der Sprachen: Michael | |
Hamburger hat sich bei seinen zahlreichen Reisen nach Deutschland in ein | |
„Niemandsland zwischen den Sprachen“ gestoßen gefühlt, also den Bereich | |
zwischen den Fronten, in dem sich die Schüsse aus beiden Schützengräben | |
kreuzen. | |
„Returning again from the other side / of the Channel, / My two languages | |
are running a race / in my head“, beschreibt Kramer 1994 die Situation im | |
Gedicht nur etwas weniger martialisch in „Duel“: „Erneut auf der Rückkehr | |
von der anderen Seite / des Kanals / Liefern sich meine beiden Sprachen im | |
Kopf / ein Rennen“, ließe sich das übersetzen. In Gefahr gerät, bei der | |
Heimkehr nach England, das mühsam errichtete Sprachgebäude, dieses | |
identitätsstiftende „Bollwerk der Isolation“, wie es im letzten Vers heiß… | |
Erst nach und nach werden sich die „purified words“ wieder dort einfinden; | |
die vom Deutschen gereinigten Worte. | |
## Keine Heimat in der Sprache | |
„Lotte Kramer hatte starke Vorbehalte, sich auf Deutsch zu unterhalten“, | |
erinnert sich Beate Hörr an ihre Gespräche während der Übersetzungsarbeit. | |
Das Deutsche sei ihr zu sehr belastet gewesen, Mördersprache, das | |
jedenfalls sei ihr Eindruck gewesen. „Ich glaube aber nicht, dass sie im | |
Englischen jemals ganz zu Hause war.“ Und wenn gerade der Klang | |
sprachlicher Heimatlosigkeit eine besondere Qualität ihrer Lyrik wäre? | |
Es hat 30 Jahre gedauert, bis Lotte Kramer Worte gefunden hat. Erst ab 1969 | |
beginnt sie, das Schweigen zu brechen. In ihm liegt ein ganzes | |
Menschenleben: Nach der Ankunft in England das Glück, nicht als feindliche | |
Ausländerin interniert zu werden. Die Kriegsarbeit in der Wäscherei und als | |
Hausmädchen in Oxford. | |
Das Wiedersehen mit Fritz, ihrer Jugendliebe, vier Jahre älter als sie, der | |
es über Brno und von dort nach England geschafft hatte: Fast wären die zwei | |
in Mainz von der jüdischen Bezirksschule geflogen, weil sie – war es 1935 | |
oder schon 1936? – im Synagogenkeller beim Küssen erwischt worden waren. | |
Die Heirat 1943. Die Geburt des Sohnes 1947. Aufwachsen. Schulzeit. | |
Sorgearbeit, Hausfrau, Mutter, Kurse in Kunst und Geschichte, Ausstellungen | |
als Feierabendkünstlerin und auch ein Job als Verkäuferin in einer Boutique | |
für Damenbekleidung. Ein unaufgeregtes Leben, aber reicht doch. | |
Und dann der Umzug von London-Richmond in den ländlichen Norden. Klar ist | |
Peterborough hübsch. Aber viel los ist da nicht. Und dann studiert das Kind | |
in Oxford, Jura. Und dann ist der Mann, der Zahnmedizin hatte studieren | |
wollen und infolge des Exils erst Kfz-Mechaniker, dann Werkzeugmacher und | |
schließlich Projektingenieur in einer großen Firma geworden war, mit | |
Leitungsfunktion, ständig geschäftlich unterwegs. Und dann ist man | |
plötzlich allein mit sich und mit seiner Einsamkeit und mit dieser ganzen | |
unbearbeiteten Trauer. | |
In Peterborough zu leben, sei „geradezu traumatisch“ gewesen, hat Kramer | |
einmal bekannt, ein Gefühl, fehl am Platze zu sein. „Es hat mich in die | |
Zeit zurückversetzt, als ich nach England transplantiert worden war“, | |
resümiert sie 2011. Erst versucht sie, das in Prosa auszudrücken, doch das | |
gibt sie schnell auf. Dann erste Versuche in Lyrik, „and memories came | |
flooding in“. Erinnerung fließt, und fließt und fließt nach. | |
Kramers Gedichte finden zugleich immer wieder Bilder, die wie eine Abwehr | |
gegen diesen Strom wirken, Bilder der Immobilisierung: Die Möglichkeit des | |
Erstarrens schwingt mit in den zahllosen Flussgedichten, die fast immer | |
Rhein-Gedichte sind, ach, dieses romantische Subgenre, fast nicht mehr | |
salonfähig; wahrscheinlich hat niemand in den letzten 50 Jahren mehr | |
Rhein-Gedichte geschrieben als Lotte Kramer: „Always the father of my | |
being“, dichtet sie ihn 2009 ein wenig pompös an. | |
Schon 15 Jahre früher nennt sie ihn „My life’s river“. Schreibt aber eben | |
auch: „That river cannot weep“, er kann nicht weinen, denn Gift habe seine | |
Augen gesteift, sie in Frostschlaf gebannt, oder so ähnlich, wie will man | |
das Naturphänomen des „witches’ frost“ sonst übersetzen. Und ja, ganz am | |
Anfang ihres Dichtens steht die Erinnerung an den vereisten Rhein, Den | |
„verläßlichen Fluß, vergangen oder tot“, wie es in Beate Hörrs Überset… | |
heißt, „Und doch lebendig / Mit einer vergnügten Menge / Auf seiner | |
breiten, harten Brust“. | |
Es ist also alles Volksfest und Nostalgie und Tanz und schön und Heimat. | |
Aber das „Gedicht besteht auf seinem Fließen / Mit dem Eis-Brechen der | |
Worte“, Nur wer sich mitreißen lässt, den Schrecken lebt, die Gefahr auf | |
sich nimmt, in ihm unterzugehen, kann es schreiben, stockend und flüssig, | |
wandernd und strudelnd, sehnsuchtsvoll und ziellos. Als ein Lied / von | |
suchenden Stimmen, / für die Vielen und die Eine: „A song / Of searching | |
voices / For the many and the one“: Mit diesen Worten endet, 2009, Lotte | |
Kramers Gedicht „Identity“. | |
21 Oct 2023 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Literatur | |
Lyrik | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Englische Literatur | |
Exil | |
Exil | |
wochentaz | |
Beat | |
Bundesverdienstkreuz | |
Lyrik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Frankfurter Fachzeitschrift „Exil“: Kostbare Erinnerung | |
Edita Koch ist seit 42 Jahren Redakteurin, Herausgeberin und Verlegerin von | |
„Exil“, einer Zeitschrift über Exilliteratur zwischen 1933 und 1945. | |
Berliner Pogrom am 5. November 1923: Das vergessene Pogrom | |
Vor 100 Jahren überfiel ein antisemitischer Mob plündernd die im Berliner | |
Scheunenviertel lebenden Jüdinnen und Juden. Eine Spurensuche. | |
Erinnerung an Beat-Poetin ruth weiss: Das Überleben der ruth weiss | |
Die Beat-Poetin ruth weiss floh aus dem Nazi-Deutsch ins Englische. Von den | |
Beatniks ausgegrenzt, hat sie das Vergessenwerden schon hinter sich. | |
Verleihung des Bundesverdienstkreuzes: Späte Ehre für Lisel Mueller | |
Die Dichterin floh vor den Nazis in die USA, erhielt den Pulitzer Preis, in | |
Deutschland ist sie kaum bekannt. Nun erhält sie das Bundesverdienstkreuz. | |
Aus Nazi-Deutschland geflohene Lyrikerin: Die Dichterin der zweiten Sprache | |
Nur eine Dichterin aus Deutschland hat den Pulitzer-Preis für Lyrik | |
gewonnen: die in den USA lebende Lisel Mueller. Hier kennt sie kaum jemand. |