| # taz.de -- Schriftstellerin Friedl Benedikt: Probleme in Liebesdingen | |
| > Die österreichische Schriftstellerin Friedl Benedikt musste vor den Nazis | |
| > nach London fliehen. Staunend hat sie vom Leben in Kriegs- und | |
| > Nachkriegszeit erzählt. | |
| Bild: 1940: Ein deutscher Bomber fliegt über London | |
| Die aus dem Nachlass der Schriftstellerin Friedl Benedikt herausgegebenen | |
| Aufzeichnungen „Warte im Schnee vor Deiner Tür“ beeindrucken durch die | |
| Vielfältigkeit und Genauigkeit ihrer Beobachtungen. Fragmentarisch lose | |
| durch die Chronologie der Jahre im Exil zusammengehalten, ergeben sie ein | |
| lebendiges Bild der Menschen, unter denen sie sich von 1939 an bis zu ihrem | |
| frühen Tod 1953 bewegte. | |
| Mit Neugier und Staunen erzählt die aus Wien stammende Autorin, die in den | |
| 1940er Jahren drei Romane auf Englisch veröffentlichen konnte, von ihrem | |
| Leben in der Kriegs- und Nachkriegszeit. | |
| Als Tochter von Ernst Benedikt, dem Herausgeber und Chefredakteur der Neuen | |
| Freien Presse, war sie als Jüdin vor den Nazis zu ihrer Tante Heddie | |
| [1][nach London geflohen,] die dort mit dem bekannten englischen | |
| Ägyptologen Alan Gardiner verheiratet war. Über ihre Cousine Margaret | |
| lernte sie in den folgenden Jahren zahlreiche englische Künstler und | |
| Intellektuelle kennen. | |
| Benedikt beschreibt das große Landhaus, das die wohlhabenden Gardiners | |
| jeden Sommer außerhalb von London mieten, gibt ein bissiges Porträt ihrer | |
| Tante, die dort um Anstand und Etikette bedacht ist. | |
| ## Canetti als Liebhaber | |
| Manchmal ist sie in dem großen Haus allein und fantasiert surrealistische | |
| Szenen wie die, dass der Tee von drei Wochen in ihrem Magen über das graue | |
| Linoleum die Treppe hinunterläuft. Dann kommen wieder Freunde der Familie | |
| zu Besuch, Maler und Dichter, Journalisten und Wissenschaftler, unter ihnen | |
| auch ein ehemaliger Schatzkanzler des Premierministers. Ihre in London | |
| gebliebene Cousine hat zu ihrer Begeisterung bereits [2][Kafka gelesen]. | |
| Über sie lernt sie dann auch die Historikerin Veronica Wedgewood und die | |
| Lyrikerin Stevie Smith kennen, die erste Kontakte zu Verlegern herstellen. | |
| Aber Benedikt erzählt auch vom Kriegsalltag einfacher Leute, denen sie im | |
| Pub oder auf der Straße begegnet. Sie berichtet von einer Busfahrt durch | |
| das nächtliche London, wo nach dem Ende der [3][deutschen Luftangriffe] | |
| erste Straßenlampen wieder eingeschaltet werden. Von zwei Taubstummen, die | |
| sie in einem Pub beobachtet: „Ich habe noch nie jemanden mit solcher | |
| Intensität reden gesehen. … Ihre Gesichter wechselten innerhalb einer | |
| Minute von engelhafter Zärtlichkeit zu Wildheit eines Tigers.“ | |
| Die Texte aus dem Sammelband, der von den Herausgebern mit einem | |
| instruktiven Nachwort und Kommentaren versehen wurde, sind Fingerübungen, | |
| zu denen Friedl Benedikt von Elias Canetti angeregt wurde. Beide hatten | |
| sich 1936 im Haus von Benedikts Eltern in Wien kennengelernt. Der sechs | |
| Jahre ältere Canetti wurde, wie sie selbst schreibt, zu ihrem „Lehrer“, und | |
| er wurde zu ihrem Liebhaber. Sie bewunderte seinen Roman „Die Blendung“, | |
| der gerade erschienen war, und Canetti förderte ihr Schreiben. „Du bist | |
| die geborene Erzählerin“, schrieb er ihr einmal in einem Brief. | |
| Die Beziehung zu Canetti, der Paarbeziehungen grundsätzlich ablehnte, war | |
| schwierig. Venetiana Taubner, genannt Veza, hatte Canetti 1934 noch in | |
| Wien geheiratet, um ihr den Erhalt eines Visums für England zu erleichtern. | |
| Sie förderte die Beziehung von Canetti zu Benedikt und hat sie in ihrem | |
| Roman „Die Schildkröten“ in der Figur der Hilda positiv porträtiert. Aber | |
| auch Benedikt hatte Probleme, sich in Liebesdingen zu binden. In Paris | |
| schreibt sie 1948: „Da ist diese Frage, die ich mir ständig stelle und auf | |
| die ich nur manchmal eine Antwort habe: Warum ist es so, dass ich wegwerfe, | |
| was ich habe, und es dann ewig suche?“ | |
| ## Mit Menschen reden | |
| Friedl Benedikts Skizzen und Tagebuchaufzeichnungen geben ein lebendiges | |
| Panorama ihres Lebens im Exil, darunter auch die eindrucksvolle Schilderung | |
| ihrer Reise zurück nach Wien, wo ihr der Dialekt auf eigentümliche Weise | |
| fremd geworden ist. „Warte im Schnee vor Deiner Tür“ ist wie ein | |
| Wimmelbild, das nicht durch eine Idee, sondern durch Orte und durch die | |
| Zeit zusammengehalten wird. Ein Bild, dessen Figuren unmittelbarer und | |
| lebendiger wirken als in manchem durchkomponierten Roman. | |
| Benedikts Liebe zu Canetti spielt dabei, wie der Titel vermuten ließe, kaum | |
| eine Rolle (die Herausgeber haben ihn einem Neujahrstelegramm Benedikts an | |
| Canetti entnommen). Obwohl sie in der Ich-Form schreibt, thematisiert sie | |
| sich selbst nur selten. | |
| Neugierig auf das Leben, gilt ihr Interesse denen, die sie umgeben, die sie | |
| trifft. „Ich habe es schrecklich gerne“, schreibt sie im August 1942, „we… | |
| ich zu jemandem spreche, von dem ich keine Ahnung habe, der von mir keine | |
| Ahnung hat, und darum geh ich gerne in das kleine Glass House. Jedes Mal, | |
| wenn ich dorthin gehe, spreche ich mit jemanden, und es sind Menschen, die | |
| ich sonst niemals treffen würde.“ | |
| 29 Jul 2025 | |
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