| # taz.de -- Neuer Roman von Kamel Daoud: Mit der inneren Stimme einer Erzähler… | |
| > In Algerien darf an die Opfer des Bürgerkrieges nicht erinnert werden. | |
| > Kamel Daoud erzählt literarisch ausgesprochen kunstvoll gegen dieses | |
| > Dekret an. | |
| Bild: Kamel Daoud lebt im Exil in Paris. In Algerien darf sein Roman nicht ersc… | |
| Einer der vergessenen Kriege der letzten Jahrzehnte ist der Bürgerkrieg in | |
| Algerien, bei dem zwischen 1992 und 2002 mindesten 100.000 Menschen | |
| starben. Der Journalist und Schriftsteller Kamel Daoud wurde wegen seiner | |
| kritischen Berichte über die Kämpfe zwischen islamistischen Gruppen und der | |
| Regierungsarmee auch nach dem Ende des Krieges immer wieder von beiden | |
| Seiten bedroht und lebt deshalb seit 2014 im Exil in Frankreich. | |
| Sein Roman „Huris“ wurde im vergangenen Jahr mit dem wichtigsten | |
| französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun ist er | |
| auf Deutsch erschienen. Er erinnert an die Opfer dieses Krieges, der sowohl | |
| von den Islamisten als auch von der Armee rücksichtslos und brutal geführt | |
| wurde. | |
| Huris, das sind die Jungfrauen, die im Islam angeblich fromme Männer nach | |
| ihrem Tod im Paradies erwarten. „Meine Huri“ nennt Aube, die Ich-Erzählerin | |
| des Romans, zärtlich-sarkastisch ihre ungeborene Tochter. Der Vater des | |
| Kindes, ein Fischer, ist über das Mittelmeer [1][nach Europa verschwunden.] | |
| Mit drei illegal erworbenen Abtreibungspillen will sie ihre Tochter wieder | |
| zurück ins Paradies schicken. Denn das Leben als Frau in Algerien, so Aube, | |
| sei die Hölle. Doch sie zögert. In einem inneren Monolog schildert sie | |
| ihrem ungeborenen Kind ihr Schicksal und das, was sie gerade erlebt. | |
| ## Durchtrennte Stimmbänder | |
| Aube hatte nur durch unwahrscheinliches Glück den Bürgerkrieg überlebt. Als | |
| sie fünf Jahre alt war, drangen Islamisten in ihr kleines Dorf in die | |
| abgelegene Region Had Chekala ein und töteten Hunderte Dorfbewohner. Ein | |
| Mann versuchte, ihr die Kehle durchzuschneiden, durchtrennte dabei | |
| Stimmbänder und Luftröhre. Seitdem kann sie nicht mehr sprechen und nur | |
| noch mithilfe einer am Hals angebrachten Hilfe atmen. | |
| Von einer Rechtsanwältin, die sich damals für die Opfer des Krieges | |
| engagierte, wird sie adoptiert und wächst im rund 200 Kilometer entfernten | |
| Oran auf. Dort macht sie nach dem Abschluss der Schule in einem Vorort | |
| einen Friseursalon auf. Als der Salon eines Tages, kurz vor dem Opferfest, | |
| verwüstet wird, hat Aube den Imam der Moschee gegenüber als Anstifter in | |
| Verdacht. | |
| Dass sie, die nicht einmal ihr Haar bedeckt, den Salon überhaupt aufmachen | |
| konnte, läge nur an der langen Narbe und dem Schlauch an ihrem Hals, der | |
| die Grausamkeit der religiösen Eiferer unübersehbar mache. Als sich dann | |
| selbst die Polizei mehr für ihren Lebenswandel interessiert als für die | |
| Täter, bricht sie mit ihrem kleinen Auto in Richtung Osten auf, in Richtung | |
| Had Chekala. | |
| Es sind verschiedene Motive, die Kamel Daoud kunstvoll mit der Geschichte | |
| einer Erzählerin verschränkt. Ihre „innere Sprache“ beispielsweise, mit d… | |
| sie ihrem ungeborenen Kind die Situation der Frauen in Algerien schildert, | |
| ist für sie die wahre Sprache. Die „äußere Sprache“ dagegen regelt nur d… | |
| Nötigste im Alltag. Die innere Sprache ist die Sprache des Romans, | |
| Französisch, die schon in der Schule für Aube die genauere, die freiere | |
| Sprache war, im Gegensatz zu Arabisch, der offiziellen Sprache Algeriens. | |
| ## Lage der Intellektuellen | |
| Gleichzeitig ist „Huris“ auch ein Roman über die Lage der Intellektuellen | |
| in Algerien. Nachdem Aube bei einer Autopanne von drei Männern ausgeraubt | |
| wird, liest sie Aissa Guerdi auf, einen Verleger und Buchhändler, der mit | |
| seinem kleinen Lieferwagen die Kochbücher seiner Verlagsbuchhandlung | |
| ausfährt. Als er ihre Narbe und den Schlauch an ihrem Hals sieht, gerät er | |
| aus dem Häuschen. „Es ist der einzige Beweis, den wir haben!“, sagt er, der | |
| wie Aube ein Massaker der islamistischen Guerrilla überlebt hatte. „Im | |
| wahren Leben glaubt mir niemand mehr, und schreiben kann ich nicht.“ | |
| Dass Aissa Guerdi nur noch Kochbücher statt literarische und philosophische | |
| Werke verkauft, geht auf seinen Vater zurück, den die Islamisten während | |
| des Bürgerkriegs dazu gezwungen hatten, Verlag und Buchhandlung darauf | |
| umzustellen. Schon der Großvater aus der angesehenen Familie war in den | |
| 1950er Jahren zwischen die Mühlen von Kolonialmacht und Befreiungsbewegung | |
| geraten und wahrscheinlich von der FLN, der Nationalen Befreiungsfront, | |
| ermordet worden. | |
| Nach dem Ende des Bürgerkriegs 2002, nach der Generalamnestie, durften die | |
| Opfer nicht mehr an ihr Leid erinnern, und die ehemaligen Terroristen | |
| wurden verpflichtet, nicht mehr an ihre Gräueltaten zu erinnern. Sie | |
| sollten behaupten, so die bittere Ironie des Romans, sie seien in den | |
| Bergen nur die Köche gewesen. | |
| Gleichzeitig wurde mit einem Gummiparagrafen, dessen Text Daoud seinem | |
| Roman voranstellt, der sogenannten Charta für den Frieden und die nationale | |
| Versöhnung, bei Gefängnis von drei bis fünf Jahren verboten, an den | |
| Bürgerkrieg zu erinnern oder anderweitig, wie es heißt, „den Institutionen | |
| der Demokratischen Volksrepublik Algerien Schaden zuzufügen“. Letztes Opfer | |
| dieser gegen jegliche Kritik an der Regierung gerichteten Gesetzgebung war | |
| Boualem Sansal, Schriftsteller und Freund von Kamel Daoud, der im März | |
| dieses Jahres zu [2][fünf Jahren Haft] verurteilt wurde, weil er in einem | |
| Interview die Grenze zwischen Marokko und Algerien infrage gestellt hatte. | |
| ## Klage gegen den Roman | |
| „Huris“ ist ein unter die Haut gehender Roman. Er ist Ausdruck der | |
| Empathie, mit der sich Kamel Daoud in die Lage einer Frau versetzt und ihre | |
| Geschichte erzählt. Das mag für einige ein identitätspolitisches Sakrileg | |
| sein. Aber Aube ist eine literarische Figur, der Roman ein komplexes | |
| Geflecht aus Motiven, sprachlich kunstvoll überhöht. | |
| Was auch bei der Entscheidung über die Klage zu berücksichtigen wäre, die | |
| Saâda Arbane, eine algerische Frau mit demselben Schicksal wie Aube, gegen | |
| Kamel Daoud angestrengt hat. Sie fordert 200.000 Euro Schadensersatz, weil | |
| Daoud Details ihrer Geschichte von seiner Frau übernommen habe, bei der | |
| Arbane in psychiatrischer Behandlung war. | |
| Die bisher bekannten Details lassen allerdings eher annehmen, dass es sich | |
| hier um einen Fall wie den von Christoph Peters handelt. Dessen Roman | |
| „Innerstädtischer Tod“ hatte das Galeristenehepaar König [3][zu verbieten | |
| versucht,] weil es sich in Figuren des Roman dargestellt glaubt. Doch die | |
| Klage wurde Ende August zugunsten der Kunstfreiheit vom | |
| Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Im Übrigen wäre es mehr als | |
| fraglich ist, ob Daoud in Algerien, wo sein Roman nicht erscheinen darf, | |
| überhaupt ein faires Verfahren gemacht werden wird, wo die Regierung ein | |
| großes Interesse an seiner Verurteilung hat. | |
| Die erzählerische Intensität von Kamel Daoud zieht den Leser unwillkürlich | |
| mit. Eine Intensität, die Ausdruck der Tragik in einem Land ist, in dem | |
| eine autoritäre Regierung die Vergangenheit gesetzlich zu verdrängen | |
| versucht. Und in der das Verdrängte in der Gewalt gegen Frauen und | |
| kritische Intellektuelle hervorbricht. „Huris“ ist ein literarisch | |
| überzeugender Roman, der den Opfern des Bürgerkriegs eine Stimme gibt. | |
| Opfer, an die heute in Algerien niemand mehr erinnern darf. | |
| 2 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fokke Joel | |
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