Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Roman „Drei Schwestern“: Gegen blaue Flecken hilft das trotzdem…
> Kaiserslautern ist die neue AfD-Hochburg Westdeutschlands. Wie konnte das
> passieren? Christian Barons neuer Roman lässt aufhorchen.
Bild: Der Autor Christian Baron ist nach sozialem Aufstieg in seinem Schreiben …
Zahlreiche blaue Flecken hat die Deutschlandkarte von der letzten
Bundestagswahl davongetragen. Zwei besonders schmerzhafte befinden sich im
Westteil des Landes. [1][In Gelsenkirchen und Kaiserslautern gewann zum
ersten Mal die AfD die meisten Zweitstimmen in einem westdeutschen
Wahlkreis.] Zwei Arbeiterstädte und vormals linke Hochburgen.
Wimmernd kassierte der so stolze Westen die Schläge und verstand nicht, wie
er zu diesen Malen gekommen war. Haben die Arbeiter etwa vergessen, dass
das Herz links schlägt? Auf einmal waren es nicht nur Ossis aus
Dunkeldeutschland, sondern Menschen aus dem eigenen Habitat, die ein
besorgniserregendes Wahlverhalten aufwiesen. Der Bedarf nach Erklärung ist
nach wie vor groß.
Da trifft es sich, dass Christian Baron einen neuen Roman veröffentlicht
hat. 1985 in Kaiserslautern geboren, ist sein Werk den Menschen
verschrieben, von denen einige vermutlich ihr Kreuz bei der rechtsextremen
AfD gesetzt haben: Er berichtet aus den Niederungen des Arbeitermilieus in
Kaiserslautern – es handelt sich dabei um seine eigene Familiengeschichte,
[2][die er in eine Trilogie gegossen hat.]
Mit „Drei Schwestern“ ist nun der finale Band erschienen, der die
Generation von Barons Mutter in den Blick nimmt. Was lernen wir dort über
AfD-Wähler, die kein Klassenbewusstsein mehr haben? Was sind das für Leute?
## Der einzige Weg hinaus
Kaiserslautern, achtziger Jahre: Mira und Juli leben auf zwei Zimmern mit
einem alkoholkranken Vater. Der einzige Weg aus ihrem Arbeiterviertel führt
hinaus in den Himmel, wo ihre Mutter sich bereits hingesoffen hat. Einzig
die ältere Schwester Ella ist ihrer Herkunft entkommen – durch Heirat mit
Spießer Norbert. Mira hat weniger Glück – mit 16 wird sie das erste Mal
schwanger sitzengelassen und erleidet eine Totgeburt.
Nachdem Baron in den ersten beiden Bänden der Reihe zunächst seine eigene
Biografie und dann die seines Großvaters abgebildet hatte, liegt sein Fokus
nun explizit auf der weiblichen Erfahrungsgeschichte. In Miras Schicksal
treffen sich soziale und geschlechtsspezifische Fesseln: Als Arbeiterkind
ist sie in der Schule gebrandmarkt, als Frau ist sie patriarchaler Gewalt
ausgesetzt. Auch wenn ihr neuer Liebhaber Ottes sie nicht schlägt, muss sie
trotzdem fürchten, wieder schwanger sitzen gelassen zu werden.
Doch Mira flüchtet aus der pfälzischen Enge nach Westberlin, Sehnsuchtsort
alternativer Lebensentwürfe. Sie zieht in eine Kreuzberger WG – und
begegnet dort ebenjenen Menschen, die sich nach der vergangenen
Bundestagswahl die Augen rieben: linksgrüne Akademiker. Baron porträtiert
hier ein Milieu im Entstehen: eine Blaupause jenes liberalen Bürgertums,
das heute sanierte Altbauwohnungen zwischen Frankfurter Nordend und dem
Prenzlauer Berg bevölkert.
Verkörpert wird es im Roman von pseudolinken Revoluzzern, deren politische
Ansichten zum Lifestyle-Accessoire verkommen sind. Als Mira sich eine
Arbeit als Reinigungskraft sucht, wird sie dafür belächelt: Warum morgens
um sieben aufstehen, wenn man sich auch ein laues Leben auf Kosten des
Staates machen kann?
## Die Herkunft scheint durch
Wenn man dieser Darstellung glauben mag, scheinen sich Arbeiter und linke
Urbane von Anfang an nicht verstanden zu haben. Allzu oft verrät sich Mira
durch die Unkenntnis der Gepflogenheit ihres neuen Milieus als Arbeiterkind
und wird dafür mit Herablassung gestraft.
Da kann man sich dann auch die Beantwortung der hier eingangs gestellten
Frage sparen. Sie entlarvt sich selbst und den Autor dieses Textes als
Mitglied ebenjenen liberalen Milieus, das nach Barons Lesart von Anfang an
keinen Kontakt zum sogenannten einfachen Volk hatte. Hinter dem
vorgeblichen Erkenntnisinteresse versteckt sich eine paternalistische
Haltung, die unsensibel gegenüber den feinen Unterschieden ist.
Letztlich sind es nicht die prekär lebenden Menschen, die kein
Klassenbewusstsein mehr haben – sie wissen schließlich sehr genau, dass am
„Ende des Geldes zu viel Monat übrig ist“. Sondern jene, die sich nicht der
Privilegien ihrer Klasse bewusst sind.
Baron, der nach sozialem Aufstieg nun auch diesem liberalen Milieu
angehört, ist in seinem Schreiben klassenbewusst geblieben. Er zeigt sich
empathisch für sein Herkunftsmilieu, ist sich aber zugleich bewusst, dass
er nicht für diese Menschen schreibt, sondern eben für liberale Akademiker.
Nur Eingeweihte können das schon im Titel beginnende Spiel der
literarischen Referenzialität mitspielen: Baron kennt seinen Tschechow und
leiht sich elegant Frau Stöhr und ihre 28 Fischsaucen aus Thomas Manns
Zauberberg, um die ignorante Arroganz einer Spießbürgerin bloßzustellen.
## Flucht zurück nach Kaiserslautern
Die Unkenntnis solcher kulturellen Codes drängt jedoch seine Protagonistin
zur abermaligen Flucht zurück in ihr angestammtes Umfeld. Schamgeplagt
verlässt sie unter wehenden Fahnen einen Lyrikabend, auf dem sie für ihre
engagiert-naiven Gedichte verlacht wird, und macht sich auf direktem Weg
zurück in die Pfalz. In dieser Szene zeigt sich das erzählerische Talent
Barons: Aus der abstrakten sozialen Realität modelliert er plastische
Momente von eindrücklicher Brutalität.
Ab und an wird man herausgerissen aus dieser stimmigen Komposition, wenn
eine von Barons Figuren den Mund aufmacht und man ihr ein bisschen zu sehr
den Arbeiter anhört („Haste was?“). Indes widersteht „Drei Schwestern“
erfolgreich dem Trauma-Porno, bleibt nüchtern im Ton.
Und was sagt uns das jetzt über die Wählerschaft der AfD? Am Ende sehr
wenig. Denn in diesem Roman geht es gar nicht um Faschisten. Erst recht ist
er keine Apologie für Nazi-Wähler. Vielmehr hilft er, das vermeintliche
Verstehenwollen des Wahlergebnisses als Selbstvergewisserung der
moralischen Überlegenheit des liberalen Bürgertums zu sehen.
Dieser Erklärreflex nervt, weil er das grundsätzliche Problem des Unwissens
über die Lebensrealität vieler Menschen außerhalb des eigenen sozialen
Umfelds nicht löst. Da ist die Lektüre von „Drei Schwestern“ wohltuend.
Gegen die blauen Flecken hilft das trotzdem leider nicht.
9 Aug 2025
## LINKS
[1] /Wahlergebnis-in-Westdeutschland/!6068621
[2] /Zweiter-Roman-von-Christian-Baron/!5870051
## AUTOREN
David Hinzmann
## TAGS
Arbeiter
Roman
Kaiserslautern
Milieu
Social-Auswahl
Schwerpunkt LGBTQIA
Literatur
Zombies
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Play Boy“ von Constance Debré: Das Selbst abreißen
Constance Debré beschreibt in „Play Boy“ ihren Wandel von einer
heterosexuellen Pariser Anwältin und Mutter zur lesbischen
Schriftstellerin.
Schriftstellerin Friedl Benedikt: Probleme in Liebesdingen
Die österreichische Schriftstellerin Friedl Benedikt musste vor den Nazis
nach London fliehen. Staunend hat sie vom Leben in Kriegs- und
Nachkriegszeit erzählt.
Roman von Anne de Marcken: Der Zombie, den wir verdienen
Mit „Es währt für immer und dann ist es vorbei“ legt die US-Amerikanerin
einen spektakulären apokalyptischen Roman vor.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.