Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Play Boy“ von Constance Debré: Das Selbst abreißen
> Constance Debré beschreibt in „Play Boy“ ihren Wandel von einer
> heterosexuellen Pariser Anwältin und Mutter zur lesbischen
> Schriftstellerin.
Bild: Durchlebte und literarisierte ihre drastische Verwandlung mit Mitte vierz…
Es war schwer, für die Theateradaption von Constance Debrés „Love Me
Tender“ im Roten Salon der Volksbühne in Berlin überhaupt Karten zu
bekommen. Fast nur Frauen, junge, alte, Anne Will und Partnerin saßen im
Publikum. Auf einer Art Läufer spazierte die Schauspielerin Marie Rosa
Tietjen, ließ ihre Blicke schweifen, Kontakt aufnehmen.
Sie spielt Debrés Ich-Erzählerin, die wie die Autorin mit Mitte vierzig
eine drastische Verwandlung durchlebt und literarisiert, von der
verheirateten, heterosexuellen Pariser Anwältin und Mutter zur lesbischen,
kahlrasierten Schriftstellerin, Dandy plus Punk.
Marie Rosa Tietjen ist ein komplett anderer Typus als die große und schmale
Französin, die meistens Anzüge trägt. Tietjen ist klein und muskulös, zeigt
ihre definierten Oberarme in Sportklamotten, trägt die langen Haare straff
zurückgebunden, agiert aber durchaus im Sinne Debrés, indem sie den Fokus
auf ihren Körper lenkt. Der Körper ist das, was bleibt, zwar gestaltbar
durch Tattoos, Frisur, Training, aber letztlich doch ein unhintergehbarer,
empfindsamer Rest Identität.
Constance Debré war dieses Jahr oft in Berlin, zur Premiere an der
Volksbühne, als Samuel-Fischer-Gastprofessorin an der Freien Universität,
und zur Premiere von Max Henningers deutscher Übersetzung von „Play Boy“,
dem ersten Band der Trilogie, der hier kurioserweise nach dem zweiten
erschienen ist. Jeder der kurzen Romane setzt einen anderen Schwerpunkt: In
„Play Boy“ (2018) schildert die Ich-Erzählerin ihre ersten sexuellen
Beziehungen zu Frauen nach vielen Ehejahren, [1][in „Love Me Tender“ (2020)
den brutalen Sorgerechtsstreit mit ihrem Ex um den gemeinsamen Sohn.]
## Ausscheren aus der Elitenfamilie
In „Nom“ (2022) schließlich, dessen Übersetzung noch aussteht, berichtet
sie nicht nur vom Sterben ihres Vaters, sondern von ihrer in Frankreich
prominenten Familie aus Ministern, Ärzten und rechts-konservativen
Politikern. Schon ihre Eltern versuchten aus dieser
großbürgerlich-nationalen (und verdrängt jüdischen) Elite auszuscheren;
Vater François Debré war als Journalist in den 1970ern und 80ern durch
Asien und Afrika gereist und opiumsüchtig nach Frankreich zurückgekehrt, wo
er mit seiner Frau, dem Model Maylis Ybarnégaray, auf Heroin umstieg. Alles
in Gegenwart zweier Töchter, für die das zum Alltag gehörte.
„Ich war das Mädchen, das mit den Jungen spielt. (…) Mit vier Jahren war
ich homosexuell. Ich wusste das sehr genau und meine Eltern auch. Danach
war es irgendwie vorbei. Und heute ist es wieder da. So einfach ist das“,
erklärt die Erzählerin in „Play Boy“. Der Buchtitel ist doppeldeutig,
verweist auf den Lifestyle des Frauen-Konsumierens, aber auch auf eine
Performance: den Jungen spielen.
Dieses Spiel geht manchmal so weit, dass es einer feministischen
Leserschaft Bauchschmerzen bereiten dürfte. Etwa, wenn die Erzählerin über
ihre erste Beziehung zu Agnès, der Mutter eines ihrer Klienten, schreibt:
„Ich hab mir gedacht, das ist also eine Frau, diese sehr weiche Haut, diese
Dummheit, diese enge Seele, die der Weichheit der Haut nicht gerecht wird,
(…) ein Tier, das nichts von Liebe und Verlangen weiß, das auch nichts von
Schönheit versteht, ohne Größe, ein bürgerlicher Körper, ein wenig
schmutzig, ein Mensch, der weint, wenn er wütend ist.“
Etwas später schiebt die Erzählerin ihre Verachtung auf Agnès’
kleinbürgerlichen Habitus, zu dem, kleiner Gag am Rande, auch gehört, dass
sie [2][Emmanuel Carrère] liest (Debrés prominenter Schriftstellerkollege
schreibt ebenfalls am eigenen Leben entlang). Schon besser läuft es mit der
15 Jahre jüngeren Albert.
Derselbe Stallgeruch macht sie „heiß“. „Albert arbeitet nicht. Sie lebt …
Bett. Sie denkt nach. Oder schläft. (…) Einmal hat sie mich gefragt, was
ist unser Milieu? Ich hab geantwortet, die Upper Class der Deklassierten.“
Doch auch mit Albert droht Überdruss, wie überhaupt ihrem Leben als „Play
Boy“: „Auch dabei geht es nur um Sex und Liebe. Nichts Neues. Nichts, was
das Leben ändern würde.“
## Protokoll einer Rache
Schmerzhafte Konsequenzen hat es aber doch. Der zweite Roman „Love Me
Tender“, dessen Verfilmung Ende des Jahres in die französischen Kinos
kommt, ist auch das Protokoll der Rache, die Ex-Partner Laurent an der
Erzählerin übt. Indem er sie der „Pädophilie“ bezichtigt, beeinträchtig…
den Kontakt zwischen ihr und dem gemeinsamen Sohn über Jahre seiner
Kindheit hinweg. Kein Trost, aber eine Lösung ist der Rollentausch: Sie
definiert den Ex als Mutter, sich selbst als Wochenendvater.
Vor allem in den ersten beiden Romanen erzählt Debré knapp und präzise,
kontrolliert, subjektiv. Eine zutiefst lakonische und melancholische
Sprache, die die Autorin selbst in einem Interview als von ihrem einstigen
Beruf geprägt beschrieben hat: Die juristische Sprache versuche Fakten kalt
und distanziert zu fassen; in Kombination mit „brennenden“ Themen wie
Gewalt oder Liebe entstehe dann „Schönheit“.
Im dritten Buch „Nom“, das der Befreiung vom Namen oder vielmehr von der
mit ihm bezeichneten Familie dient, weicht dieser Minimalismus auf,
verliert sich die Erzählerin in ausufernden Rants, deren repetitive
Struktur fast an [3][Thomas Bernhard] erinnert. Die Literatur, „die selbst
bourgeois geworden ist“, reißt ihre eigene Schönheit wieder ein.
Hier unterscheidet sich Constance Debré von den anderen großen
autofiktionalen Erzählerinnen Frankreichs. Während Annie Ernaux oder
[4][Édouard Louis] über ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse und familiäre
Konflikte schreiben, die sich aus ihrem Aufstieg ergeben haben und dafür in
der Literatur ein Befreiungswerkzeug finden, scheint Debrés Souveränität
qua Geburt ausgerechnet in der Sprache an ihre Grenzen zu stoßen.
## Melancholisches Abrissprojekt
Schon in „Play Boy“ reflektiert sie sarkastisch die Unmöglichkeit, ihren
Privilegien zu entkommen: „Ich bin ein Kind reicher Eltern, die selbst
reiche Eltern hatten. Ich bin reich ohne einen Groschen. Ohne Wohnung. (…)
Äußerlich betrachtet bin ich obdachlos, aber dem Wesen nach hab ich Geld.
Man braucht kein Geld, wenn man reich ist. Man braucht auch keine anderen
Menschen, wenn man reich ist. Man braucht überhaupt nichts. Es geht um die
Scham, die man zu keinem Zeitpunkt verspürt. Die Armen haben allen Grund,
uns zu hassen.“
Die Selbstermächtigung, sie ist bei Constance Debré kein euphorisches,
sondern ein melancholisches Abrissprojekt. PJ Harveys Verse „I freed myself
from my family / I freed myself from work / I freed myself I freed myself /
and remained alone“ kommen einem in den Sinn. Aber vielleicht gibt es ja
doch andere Optionen als die „Leere“, in die die Erzählerin am liebsten
marschieren würde. Ihr jüngstes Buch, „Offenses“, knüpft jedenfalls wied…
an die Kriminellen der Unterschicht an, die Debré in ihrem früheren Leben
vor Gericht vertreten hat.
4 Aug 2025
## LINKS
[1] /Roman-ueber-lesbische-Selbstfindung/!6000032
[2] /Sozialdrama-mit-Juliette-Binoche/!5861251
[3] /Theater-Inszenierung-Heldenplatz/!5990219
[4] /Neues-Buch-von-Edouard-Louis/!5878228
## AUTOREN
Eva Behrendt
## TAGS
Schwerpunkt LGBTQIA
Gender
Roman
Paris
Wohlstand
Social-Auswahl
Reden wir darüber
Französische Literatur
Mutterschaft
Arbeiter
Gendern
Theater
Brasilien
Debütroman
Französische Literatur
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Der Absturz“ von Édouard Louis: Teuer bezahlt
Édouard Louis hat mit seinem Werk unser Denken auf links gedreht. Warum er
trotzdem länger brauchte für seine persönliche Gretchenfrage.
Neue Romane über Mutterschaft: Die Überforderung ist total
Zwei aktuelle Romane beweisen, dass das Thema Mutterschaft noch lange nicht
erschöpft ist: Antonia Baums „Achte Woche“ und Claire Kilroys
„Kinderspiel“.
Roman „Drei Schwestern“: Gegen blaue Flecken hilft das trotzdem nicht
Kaiserslautern ist die neue AfD-Hochburg Westdeutschlands. Wie konnte das
passieren? Christian Barons neuer Roman lässt aufhorchen.
Wolfram Weimers Gender-Verbot: Warum ich mich aus meiner Nationalsprache verabs…
Kulturstaatsminister und Feuilletonisten laufen Sturm gegen das Gendern und
erklären die Gemeinheit zur Staatsräson. Unser Autor sagt: Es reicht.
Kunstblut in „Medeas Kinder“: Die Performerin hängt am Fleischerhaken
Kunstblut fließt auf der Bühne – und Menschen fallen im Theater in
Ohnmacht. Wieso eigentlich? Ist doch klar, dass niemand ernstlich verletzt
wird.
Roman über homosexuelle Liebe: Alligatoren nach dem Essen
Unter der brasilianischen Sonne: Victor Heringer beschäftigt sich in „Die
Liebe vereinzelter Männer“ intensiv mit dem Verlust der ersten (queeren)
Liebe.
Roman „Muskeln aus Plastik“: Hot und behindert
Chronisch erschöpft sein und trotzdem horny. Selma Kay Matter verhandelt im
Roman „Muskeln aus Plastik“ Transness, Non-Binarität und Post-Covid.
Roman über lesbische Selbstfindung: Bruch mit jeglicher Bürgerlichkeit
Die lesbische Frau tritt auf als einsamer Cowboy. „Love Me Tender“ von
Constance Debré ist ein beeindruckend kämpferisches Stück
Selbstfindungsprosa.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.