| # taz.de -- Kunstblut in „Medeas Kinder“: Die Performerin hängt am Fleisch… | |
| > Kunstblut fließt auf der Bühne – und Menschen fallen im Theater in | |
| > Ohnmacht. Wieso eigentlich? Ist doch klar, dass niemand ernstlich | |
| > verletzt wird. | |
| Bild: Auch in Florentina Holzingers „A Year Without Summer“ an der Volksbü… | |
| Am Ende seiner Inszenierung [1][„Medeas Kinder“ zieht der Regisseur Milo | |
| Rau] alle Horror-Register. Ein Kind nach dem anderen jagt die junge Frau, | |
| die eine belgische Mörderin spielt, ins Haus. Schreien, Würgen, Röcheln. Im | |
| Video über der Bühne erscheint ihr Gemetzel in Nahaufnahme. Durchschnittene | |
| Kehlen, Messer, die sich durch nackte Kinderhaut bohren, und natürlich: | |
| Blut, Blut, Blut. | |
| Obwohl man sehen kann, dass die Kindsmord-Szenen voraufgezeichnet sind, | |
| beginnt jetzt auch das Würgen im Zuschauerraum. Ein Mann übergibt sich. | |
| Viele Menschen verlassen den Saal, manche kollabieren auf dem Weg nach | |
| draußen. | |
| Bei einem dieser Gastspiele an der Berliner Schaubühne hat die erfahrene | |
| Theaterärztin Luise Schnitzer Dienst: „Ich wurde rausgerufen, weil zwei | |
| Menschen weiche Beine bekommen haben und draußen zusammengesackt sind.“ | |
| Junge Männer, denen ihre Körperreaktion sichtlich unangenehm ist: „Sie | |
| denken, sie sind nicht tough genug.“ | |
| Was im Körper passiert, ist leicht zu erklären: Die Gefäße weiten sich, das | |
| Blut fließt in die Beine, das Gehirn ist unterversorgt. Die Ärztin legt den | |
| Patienten die Beine hoch, kühlt den Nacken, dann geht’s wieder. Doch warum | |
| streikt unser Körper, wenn sein hochentwickeltes Gehirn ihm doch klar sagen | |
| kann: Das ist Kunstblut! Niemand wird verletzt! | |
| ## Die Kunst im Gehirn | |
| Eine Antwort darauf weiß der Neuropsychologe Eugen Wassiliwizky. Er | |
| erforscht am Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt, wie sich Kunst | |
| auf den Körper auswirkt. Der Mensch, sagt er, produziert seit fast 100.000 | |
| Jahren Kunst – aber die Region, die Kunst im Gehirn anspricht, ist viel | |
| älter. | |
| Das Gehirn kann nicht unterscheiden, ob jemand auf der Bühne umgebracht | |
| wird – oder nur so getan wird, als ob. „Es gibt kein Extra-Modul für die | |
| Kunst-Emotion“, so Wassiliwizky. „Das heißt, die Emotionen, die wir | |
| erleben, sind keine Quasi-Emotionen, sondern reale Emotionen.“ | |
| Wassiliwizky geht noch weiter. Jene Erlebnisse, die sich körperlich | |
| manifestieren – durch Gänsehaut, Tränen, erhöhten Puls – erinnern wir | |
| länger und intensiver: „Künste sind dazu in der Lage, uns Reaktionen | |
| abzuringen, die wir nur in äußersten Extremsituationen erleben würden. Das | |
| wird privilegiert abgespeichert im Gehirn.“ | |
| Man könnte also sagen: Künstler wie Milo Rau sorgen für unvergessliche | |
| Kunsterlebnisse, indem sie die körperliche Reaktion ins Extrem treiben. | |
| Doch Kunstblut und reales Blut scheinen dabei nicht komplett austauschbar | |
| zu sein. | |
| ## Wenn die Realität kippt | |
| Wenn die Vereinbarung, so Wassiliwizky, dass Theater ein Safe Space ist, | |
| kippt, wenn reale Verletzungen sichtbar werden, wie etwa in den | |
| Inszenierungen der Extrem-Performerin Florentina Holzinger, führt das noch | |
| leichter zu körperlicher Überforderung. | |
| „In der Oper gewesen – gekotzt“, lautete die Überschrift der FAZ-Kritik … | |
| [2][Holzingers Inszenierung „Sancta“]. Zwar war der Medienskandal reichlich | |
| aufgebauscht, aber dass bei „Sancta“ mehr Menschen als sonst Übelkeit | |
| verspürten oder ohnmächtig wurden, konnte die Oper Stuttgart nach dem | |
| Gastspiel dort durchaus bestätigen. Der Grund: Die Performerinnen fügen | |
| sich echte Verletzungen zu. | |
| Der Filmwissenschaftler Julian Hanich forscht zum Thema Ekel im Kino und | |
| weiß, dass Abwehrreaktionen wie Ohnmacht und Erbrechen häufig dann | |
| vorkommen, wenn das Objekt des Ekels im Close-up zu sehen ist. Horrorfilme | |
| und Teenager-Komödien lieben es, uns mit Körperflüssigkeiten sehr nah zu | |
| kommen. | |
| „Und zwar so nahe, dass man sich abwendet, die Augen verschließt, versucht, | |
| an etwas anderes zu denken, um das Objekt des Ekels buchstäblich auf | |
| Distanz zu bringen“, sagt Hanich. Das haben sich Milo Rau und Florentina | |
| Holzinger abgeschaut: Die meisten Verletzungen, die man in ihren Arbeiten | |
| sieht, werden per Video in Nahaufnahme gezeigt. | |
| ## Im besten Fall werden Reflexionsprozesse angestossen | |
| „Diese Provokation kann im besten Fall einen Reflexionsprozess in Gang | |
| bringen“, so der Filmexperte. Bei Florentina Holzinger ist es die Reflexion | |
| über Geschlecht, Schmerz, Ekstase, Tod. Doch warum setzen wir uns diesen | |
| Arbeiten überhaupt freiwillig aus? | |
| Und warum spielen Künstler:innen so gern mit negativen Emotionen wie | |
| Angst und Ekel, statt mit überschäumender Freude? Erstens, so Eugen | |
| Wassiliwizky, machen wir gern intensive Erfahrungen. Ohne die Künste, ohne | |
| Geisterbahnen und Achterbahnen, die extreme Situationen im Safe Space | |
| simulieren, könnten wir selten so tiefgreifend erleben. Zweitens: „Negative | |
| Erfahrungen werden intensiver verarbeitet.“ | |
| Biologisch macht das Sinn, da das Lernen aus negativen Erfahrungen unser | |
| Überleben sichert. In den Künsten gibt es keine Beispiele, die | |
| ausschließlich mit positiven Emotionen arbeiten. Komödien setzen Fremdscham | |
| und Schadenfreude ein, Dramen die Sorge um die Protagonisten, die in der | |
| psychologischen Forschung nicht als uneingeschränkt positiv gilt. | |
| Und selbst in der rührseligsten Schmonzette müssen die Liebenden erst | |
| schwere Hürden überwinden, bis sie tränenreich zueinanderfinden. „Sie | |
| werden keine Oper, keinen Film, keinen Roman finden, der nicht die Register | |
| der negativen Emotionen zieht.“ | |
| ## Warum kippen nicht alle um? | |
| Dass nicht alle Zuschauer:innen gleichzeitig ohnmächtig werden, liegt | |
| wohl an der Fähigkeit, sich immersiven Kunstvorgängen entziehen zu können. | |
| Kritiker:innen zum Beispiel haben gelernt, sich in solchen Momenten auf | |
| die Machart der Horrorszene zu konzentrieren. | |
| Zudem spielen vermutlich Sehkonventionen eine Rolle. In London etwa muss | |
| wegen Ohnmachtsanfällen regelmäßig die Show „The Years“ nach dem Buch von | |
| Annie Ernaux unterbrochen werden. Aufgrund einer Sequenz, bei der das | |
| schockerprobte deutsche Publikum kaum mit der Wimper zucken würde: Eine | |
| junge Frau zieht eine Hand mit Kunstblut unterm Rock hervor, es sind die | |
| Nachwirkungen ihrer illegalen Abtreibung. | |
| Welcher Sinn den größten Eindruck hinterlässt, ist nicht eindeutig | |
| belegbar. Da das Riechen am direktesten mit dem Gehirn verbunden ist, | |
| könnte man darauf tippen. Auch visuelle Reize stehen weit oben, sagt der | |
| Filmexperte Julian Hanich. Doch Geräusche können ebenfalls einen starken | |
| Effekt haben. | |
| Zum Beispiel das schmatzende Fleisch bei Florentina Holzinger. Und wie wäre | |
| es, müsste man die Wunden, die sich die Holzinger-Performerinnen zufügen, | |
| berühren? Klar ist jedenfalls: Umso mehr Sinne involviert sind, umso | |
| stärker die körperliche Resonanz. „Umso mehr Kanäle hinzukommen, umso | |
| leichter ist es, intensive Emotionen auszulösen“, hat Eugen Wassiliwizky | |
| erforscht. | |
| Und damit wäre nun auch geklärt, weshalb das oft als irrelevant verrufene | |
| Theater, das nun einmal alle Sinne anzusprechen vermag, die größten | |
| Kunst-Skandale auslösen kann. [3][Im Jahr 2025 ritzen sich bei Florentina | |
| Holzinger auf der Bühne ein paar Frauen in die Haut – und das Publikum | |
| steht kopf.] | |
| 4 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Behrendt | |
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