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# taz.de -- Neue Holzinger Inszenierung: Frankenstein stelzt durch die Scheiße
> Choreografin Florentina Holzinger provoziert an der Berliner Volksbühne
> in ihrem neuen Stück mit dem ewigen Leben. Ist das wirklich
> erstrebenswert?
Bild: Der Ursprung der Welt ist hier und jetzt. Performerinnen in Florentina Ho…
Berlin taz | Als der Applaus längst verloschen ist und das Publikum
Richtung Ausgang strömt, tanzt sie immer noch: die Eiskunstläuferin auf der
Empore. Wie ein zur Hochleistung getriebenes Schlittschuhmädchen zieht sie
ihre Kreise, dreht Pirouetten, fällt hin, setzt noch mal an. Ein einzelner
Zuschauer mag sich von dem Bild nicht lösen, steht wie angewurzelt am
Bühnenrand.
Schneeflocken fallen auf die Szenerie: auf verlassene Pflegebetten,
weggeworfene Windeln, ein Schlachtfeld aus Kot und Kotze, auf den Displays
neben der Bühne steht „No End“.
Zwei Stunden zuvor wabert dichter Nebel durch den Saal der Berliner
Volksbühne. Die Choreografin Florentina Holzinger feiert Premiere mit „A
Year without Summer“, und alle sind gekommen: Regisseure wie Ersan Mondtag,
aber auch der zukünftige Intendant des Hauses Matthias Lilienthal, der
Holzinger in sein künstlerisches Leitungsteam berufen hat. Das Publikum ist
gewohnt queer, sanftmütig und gut gelaunt.
Nach der viel diskutierten [1][Oper „Sancta“] hat sich Holzinger nun die
Entstehungsgeschichte von „Frankenstein“ vorgenommen. Die Idee zu dem Roman
kam Mary Shelley, als 1816 ein Vulkanausbruch die Sonne hinter einer dicken
Schicht Asche verschwinden ließ. Shelley verbrachte jenen Sommer mit
anderen Autor*innen am Genfer See. Unter dem Eindruck abstruser
Medizinexperimente, die künstliches Leben erschaffen sollten, erzählten sie
sich gegenseitig Gruselmärchen.
## Geburt aus der Wunde
Eine Frau in Alltagskleidung tanzt zu morbider Musik über die Bühne, immer
mehr Frauen unterschiedlichen Alters gesellen sich dazu. Sie umarmen sich,
ziehen sich gegenseitig aus, haben Sex mit einem Strap-On. Der
nebelverhangene Scheinwerfer wird greller, und ein riesiger Torso bläst
sich auf. Die Frauen umringen Holzinger, die eine Geburt nachahmt.
„Inhale!“, rufen sie im Chor, „exhale!“, auf den Displays wird ein
winziger, transparenter Embryo aus einer menschlichen Wunde geborgen.
„It’s a musical“, wird freudig verkündet und schon ist man mittendrin im
gewohnt spektakulären Universum von Holzinger und ihren Komplizinnen, wo
Gesang, Tanz und Artistik sowie Referenzen an Hieronymus Bosch, TikTok und
feministischen Porno gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Annina Machaz, die auf die satirische Dekonstruktion von „Genies“
spezialisiert ist, knöpft sich dieses Mal Sigmund Freud vor, den sie als
Koks schniefendes Stehaufmännchen mit panischer Angst vor der Vagina
spielt. Eine Kamerafahrt in deren Inneres offenbart ein reißendes Gebiss.
Dabei könnte sie doch ein so behagliches Zuhause für den Penis sein,
jammert der Bühnen-Freud – und fragt: „Was will die Frau?“
Jedenfalls nicht mehr für die Rolle des Opfers in einem NS-Film angefragt
werden, sagt die Performerin Saioa Alvarez Ruiz – sondern lieber für den
Auschwitzarzt Mengele. Selber kleinwüchsig, durchbricht sie so
selbstbewusst die Reproduktion der Opferzuschreibung.
## Wer Holzinger das Spektakel vorwirft, hat sie nicht verstanden
Die Frau als die Andere, die pathologisiert, rassifiziert und mundtot
gemacht wird, gleichzeitig das [2][Verlangen des Menschen nach Heilung und
Unsterblichkeit]: In einem berührenden Moment singen die
Performer*innen den Song „Runs in the Family“ von Amanda Palmer, der
von transgenerationalen Traumata und fragwürdigen Therapieversuchen
handelt.
Xana Novais wird für den „Ultimativen Facelift“ vorbereitet, sprich live
gepierct, in Augenbrauen und Mundwinkel. Hinter ihr lauern schon die
Roboterhunde, pochen ungeduldig gegen die Scheibe – und werden
freigelassen. „Oh Gott“, entfährt es einer Zuschauerin, kurze Zeit später
wird Novais unter Zuhilfenahme ihrer Arme an den Piercings in die Höhe
gezogen. Ihr Gesicht, mit der Livekamera festgehalten, eine dauerlächelnde
Fratze wie von Joker.
Wer Holzinger deswegen einen Hang zu kitschiger Effekthascherei attestiert,
[3][hat sie nicht verstanden]. Kaum eine Künstlerin sonst trifft aktuell so
sehr den Nerv junger Theaterbesucher*innen. Und zwar, weil sie gerade kein
zynisches Feuilletontheater macht, sondern eines, das empowert – und
allerart Abgründe auslotet, [4][aber so, dass es Spaß macht].
Ältere Frauen bringen OP-Hauben, Handschuhe, dann vertauschen sich die
Rollen und die Jüngeren wickeln die älteren, sind für sie da. „Immortality…
steht über der Szene, die im Desaster endet. Scheiße überall, sie läuft aus
Windeln, Kloschüsseln, die Frauen kommen mit dem Putzen nicht hinterher.
Nur Frankenstein, der watet auf Stelzen durch die Exkremente und die
Eiskunstläuferin tanzt und tanzt und tanzt.
24 May 2025
## LINKS
[1] /Florentina-Holzinger-inszeniert-Sancta/!6011620
[2] /Oper-Sancta-von-Florentina-Holzinger/!6043091
[3] /Florentina-Holzinger-ueber-Feminismus/!5905432
[4] /Florentina-Holzinger-in-Berlin/!5952928
## AUTOREN
Anna Fastabend
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