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# taz.de -- Zeit-Debatte über Linke: Verführung mit linken Avancen
> Iris Berben hat linke Film- und Theaterschaffende kürzlich für ihre
> Identitätspolitik kritisiert und ihnen Cancel-Culture vorgeworfen. Eine
> Erwiderung.
Bild: Saioa Alvarez Ruiz, die einen offenen Brief an Iris Berben schreibt, bei …
Liebe Iris Berben, vor wenigen Tagen haben Sie in einem Interview mit der
Zeit gesagt, dass Sie die „Bevormundung“ und „Genuss-Feindlichkeit“ von
Linken nervt: „Was immer einem Freude macht – […] ein vielleicht
unangebrachter Flirt, von Humor und Lachen gar nicht erst zu reden –, schon
erhebt sich ein riesiger moralischer Zeigefinger […]“. Da ich daraus
schließe, dass Sie einen guten Flirt zu schätzen wissen, möchte ich Ihnen
auf diesem Wege eine Avance machen. Nicht in spaltender Absicht, sondern
als Ihre Kollegin, Verbündete und Ihr Fan. Ich möchte Sie dazu verführen,
[1][durch meine Augen auf unseren Beruf der Schauspielerin zu blicken.]
Iris Berben, trotz Ihrer Kritik bezeichnen Sie sich selbst als links. Damit
sind wir beide linke Schauspielerinnen, die Spaß verstehen. Auch ich bin
eine Verfechterin von sozialer Gerechtigkeit.
Mehr als für meine politische Haltung bin ich aber für meine
Verführungskünste [2][und mein Draufgängertum bekannt]. Zum Beispiel in der
Rolle des männlichen Strippers in einer Florentina-Holzinger-Inszenierung.
Natürlich sind Sie, Iris Berben, um einiges bekannter als ich und spielen
damit in einer anderen Liga. Ich würde Sie aber gerne davon überzeugen,
dass es Kunst und Kultur als „Schutzraum […] fürs Fragenstellen, fürs
Experimentewagen“, wie Sie es beschreiben, genauso auch für mich geben
muss: [3][die behinderte, lesbische, migrantische Schauspielerin.]
Bisher wurde noch keine Probe abgebrochen, weil ein*e Kolleg*in einen
schlechten Witz über meine Körpergröße, mein Liebesleben oder meine
Herkunft gemacht hat. Was ich aber erwarte, ist, dass wir solche und
komplexere Situationen, die mir die Luft zum Atmen nehmen, lösen. Da fände
ich es genauso toll wie Sie, wenn nicht ewig darüber diskutiert werden
müsste. Schuld daran sind aber die Sturköpfe, die sich aus Prinzip alles
erlauben wollen und nicht die, auf deren Kosten es geht.
Und ich bin kein Schwächling, ich bestehe zu einem beachtlichen Anteil aus
Muskeln und Titan. Nur meine Psyche leider nicht. Aber wem etwas
Verletzendes herausrutscht, der kann auf ein altbewährtes Rezept
zurückgreifen: das eigene Schamgefühl aushalten und sich entschuldigen.
Film und Theater sollten schließlich kein rücksichtsloser,
verantwortungsloser Raum sein – was wir produzieren, erreicht und
beeinflusst so viele Menschen.
## Wieso der nichtbehinderte Schauspieler?
Sie bedauern: „Schwule sollen nur noch von Schwulen gespielt werden, Juden
nur noch von Juden …“ Dies empfänden Sie als völlig kontraproduktiv für
unseren Beruf. „Schauspieler sollen doch in fremde Lebenswelten eintauchen,
sich in andere Figuren hineinversetzen.“ Aber es geht doch auch um das
Publikum, das in Lebensrealitäten eintauchen und Verständnis entwickeln
will – und dafür braucht es echte, vielschichtige Darstellungen.
Ich finde es überaus produktiv, wenn Lesben von Lesben und Behinderte von
Behinderten gespielt werden. Wieso sollte denn ein nichtbehinderter
Schauspieler, der sich bloß zuckende Bewegungen aneignet und in einen
Rollstuhl setzt, dem behinderten Schauspieler, der sein gesamtes Leben
schon diese Rolle in all ihren Dimensionen einstudiert, vorgezogen werden?
Denn talentierte behinderte Schauspieler*innen gibt es genug, auch sie
müssen ihre Miete zahlen. Und natürlich kann eine Hetero-Schauspielerin
eine Lesbe spielen, passiert auch. Doch wie Sie selbst sagen: „Mittelmaß
kann nicht der Weg sein.“ Deshalb werden Sie die leidenschaftliche
lesbische Sexszene auch lieber mit meiner Beteiligung sehen wollen.
Versprochen.
Liebe Iris Berben, eines Tages würde ich gerne eine Filmografie wie Ihre
vorweisen – mit dieser Anzahl und Variation an Rollen. Aber so wie es
aktuell aussieht, wird mir diese Zukunft verwehrt bleiben. Denn es ist
genau, wie Sie beschreiben: Es wird nicht nur nach Talent besetzt, sondern
nach „einer Liste von anderen Kriterien“ – die sich allerdings immer noch
an der Normgesellschaft orientiert, insbesondere bei Hauptrollen. Deshalb
heißt es wohl eher für mich als für Sie: „Gute Nacht.“
Saioa Alvarez Ruiz ist Schauspielerin und Performerin. 2023 wurde sie mit
dem Nestroy-Preis in der Kategorie „Beste Schauspielerin“ ausgezeichnet.
5 Sep 2025
## LINKS
[1] /Neue-Holzinger-Inszenierung-/!6087697
[2] https://www.nestroypreis.at/show_content2.php?s2id=500
[3] /Die-steile-These/!5691675
## AUTOREN
Saioa Alvarez Ruiz
## TAGS
Kolumne Starke Gefühle
Kulturkampf
Rechtsruck
cancel culture
GNS
Reden wir darüber
Rechtsruck
Identitätspolitik
Florentina Holzinger
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