# taz.de -- Identitätspolitik-Debatte: Wie woke soll es sein? | |
> Ein Sommerspaziergang über das Tempelhofer Feld in Berlin. Mit dem | |
> aktuellen Backlash gegen emanzipative Identitätspolitik im Hinterkopf. | |
Bild: Wie soll man einander begegnen? Menschen auf dem Tempelhofer Feld | |
Man denkt keineswegs immer an Identitätspolitik, wenn man auf dem | |
[1][Tempelhofer Feld in Berlin] spazieren geht, an diesem besonderen Ort, | |
an dem sich die Geister scheiden. Man denkt daran, sich vor den Drachen der | |
Paraglider in Acht zu nehmen, die einen treffen könnten. Man überlegt sich, | |
ob man nicht doch Rollschuhfahren lernen sollte, wie das hier so viele | |
machen. Man sieht den Grillenden beim Grillen zu, den Chillenden beim | |
Chillen und den Vögeln beim Trillern (es gibt wirklich viele Vögel auf dem | |
Tempelhofer Feld). | |
Aber manchmal denkt man eben auch: Eigentlich ist das hier jetzt gelebte | |
Identitätspolitik. Es geht darum, dass sehr unterschiedliche Menschen | |
miteinander auskommen müssen. Manche kiffen sehr viel. Manche trinken noch | |
nicht mal Alkohol. Manche brutzeln Fleisch satt. Andere liegen halbnackt | |
herum. Es gibt Hipster, Migranten der ersten, zweiten, dritten Generation, | |
Traditionsberliner. Und alle machen sie ihr Ding. | |
Berlin halt, werden jetzt viele denken, Ausnahme in Deutschland, aber das | |
stimmt eben nicht, wenn man hier spazieren geht. Hier fühlt es sich nach | |
Normalität an. Leben und leben lassen. | |
## Begegnung oder Profit | |
Einen großen Unterschied zur Identitätspolitik gibt es: Auf dem Tempelhofer | |
Feld existiert keine Dominanzkultur, die durchbrochen werden müsste. | |
Rennradler versus Herumschlenderer. Brutflächen versus Liegewiesen. | |
Hundebesitzer versus junge Eltern. Der Platz muss immer ein bisschen | |
ausgehandelt werden, wobei Regeln helfen, an die sich die meisten auch | |
halten. | |
Dafür kann man wiederum auf den Gedanken kommen, dass es in den jeweiligen | |
Debatten Strukturähnlichkeiten gibt. Die Initiative 100% Tempelhofer Feld | |
e. V. wirbt für den vollständigen Erhalt des Geländes als „Ort der | |
Begegnung“. Doch viele sehen das anders. Als Olaf Scholz noch Bundeskanzler | |
war, konnte er hier nichts anderes als leeren Raum erkennen, „der da | |
gewissermaßen ungenutzt rumliegt“. Andere sehen nur die Möglichkeiten der | |
Bebauung und, auch das, des Profitmachens. | |
Solche fundamental unterschiedlichen Perspektiven gibt es auch auf die | |
Identitätspolitik. Bis hin dazu, sie als Gelegenheit zum Kulturkampf zu | |
benutzen, der wiederum von einem Kampf um Aufmerksamkeit – und Buchverträge | |
– schwer zu trennen ist. | |
Es gibt jedenfalls da draußen in der Gesellschaft und vor ihren Rechnern | |
mit den geöffneten Apps der sozialen Medien viele Menschen, die | |
Identitätspolitik kritisieren, in Wahrheit aber die multikultureller | |
gewordene Gesellschaft selbst attackieren wollen – zum Beispiel also solche | |
konkreten Orte wie das Tempelhofer Feld. Klar, wer Einwanderung als Unglück | |
empfindet, Interkulturalität als Stress und zu einer herkunftszentrierten | |
deutschen Identität zurückkehren möchte, für den ist jedes Nachdenken | |
darüber eine Zumutung. | |
## Reaktionäre Form der Kritik | |
Diese Kritik von rechts rekurriert allein auf die fragwürdigen Seiten der | |
Wokeness und nutzt sie aus zur Legitimation ihrer eigenen | |
Identitätspolitik, sei diese nun sentimentalisch-reaktionär zurückwollend | |
zu einem angeblich heilen Zustand in der Vergangenheit, an dem man etwa | |
noch unhinterfragt „Winnetou“ gucken durfte, oder auch direkt völkisch | |
getrieben à la „Deutschland den Deutschen“ (und „Ausländer raus“). Da… | |
hinaus, dass der Hintergrund dieser Form der Kritik reaktionär ist, macht | |
sie es sich also auch in der Beschreibung ihres Gegenstandes zu leicht. | |
Das alles ist relativ schnell zu durchschauen. Wer nun aber meint, | |
Identitätspolitik allein dadurch verteidigen zu können, indem er diese | |
reaktionäre Art, sie zu kritisieren, entlarvt, der macht es sich auch zu | |
leicht. Denn es gibt ja die Fragwürdigkeiten, die von allen möglichen | |
Seiten als Triggerpunkte ausgenutzt werden können: haarspalterische bis | |
verstiegene Handlungsanweisungen, allzu professoral rüberkommende | |
Sprachexerzitien, der essenzielle Kulturbegriff der Debatten um kulturelle | |
Aneignung. Und es ist schon die Frage, ob das alles nur Übereifer ist oder | |
im Kern der Identitätspolitik angelegt. | |
Keineswegs zu leicht macht es sich die Jungle World, was schon mal gut ist. | |
In der Wochenzeitung läuft derzeit eine teilweise kontroverse Debatte über | |
Wokeness. Die rechte Kritik an der Identitätspolitik wird dabei | |
zurückgewiesen. Dass „rechte Kulturkämpfer“ ihre Positionen mit dem | |
Argument aufwerten, „dass sie wenigstens nicht woke seien“, und dass | |
Politiker wie Putin und Trump sich dieser Entwicklung bedienen, wird im | |
Vorspann der Reihe ausdrücklich angemerkt. Vor diesem Hintergrund aber | |
werden andere Möglichkeiten, Identitätspolitik zu kritisieren, in aller | |
Schärfe durchgespielt. | |
Auf zwei Kritikpunkte lässt sich die Debatte im Wesentlichen bringen. Der | |
erste: Wokeness schwächt die Linke, indem sie erstens: von anderen | |
wichtigen Problemen ablenkt (so Dierk Saathoff in seinem Beitrag), | |
zweitens: der Bourgeoisie einen Deckmantel bietet, Klassengegensätze zu | |
verschleiern (so Holger Marcks), und drittens: indem sie Praktiken des | |
Kulturkampfs und Cancelns eingeübt hat, derer sich in den USA die Rechte | |
nur zu bedienen brauchte, um in einem vibe shift Trump erneut zum | |
Präsidenten zu machen (so Ralph Leonard). | |
## Wokeness als Lifestyle | |
Daran, dass man über der Identitätspolitik andere emanzipative | |
Konfliktfelder keinesfalls vergessen sollte, ist natürlich etwas dran – | |
aber lässt sich das so klar trennen? Dass Wokeness auch Lifestyle ist oder | |
zumindest eine Zeitlang war, stimmt – aber muss man sie deshalb insgesamt | |
erledigen? | |
Und die vibe shift-Analyse ist ihrerseits fragwürdig. Sie unterschlägt, | |
dass es etwas vollkommen anderes ist, von einer machtlosen Position aus zu | |
agieren als von einer mit aller repressiven staatlichen Macht | |
ausgestatteten. Und sie unterschätzt die faschistoide Energie, mit der in | |
den USA gerade vorgegangen wird – das als rechte Identitätspolitik mit | |
links-emanzipativer letztlich gleichzusetzen, geht nicht auf. | |
Der zweite zentrale Kritikpunkt besteht darin, dass die Identitätspolitik | |
mit ihren Denk- und Sprechverboten einen „autoritären Tribalismus“ | |
betreiben würde und damit eine über die jeweiligen Opfergemeinschaften | |
hinausweisende, aufgeklärt universalistische Perspektive verunmöglicht. | |
Genau hier erhebt nun der vierte Beitrag der Reihe Einspruch: Lea | |
Susemichel und [2][Jens Kastner] verteidigen nämlich an diesem Punkt die | |
Identitätspolitik gegen manche ihrer eigenen Vertreter. Sie erinnern daran, | |
dass der Kampf um Emanzipation und gesellschaftliche Partizipation durchaus | |
eine über die jeweils kämpfenden Gruppen hinausweisende universalistische | |
Seite hatte oder zumindest haben kann. | |
## Stretegischer Essenzialismus | |
In dem weiterhin [3][gut lesbaren Buch „Identitätspolitiken“ der beiden | |
Autor*innen] (Unrast-Verlag, 2018) kann man etwa das Konzept des | |
„strategischen Essenzialismus“ nachschlagen. Es besteht darin, dass man die | |
identitären Gruppenzuschreibungen erst einmal annimmt, sie vom Negativen | |
ins Positive wendet – also Gay Pride, Blackness, Queerness und Feminismus | |
feiert –, sich dabei aber der gesellschaftlichen Konstruiertheit dieser | |
Identitäten bewusst bleibt, um nicht selbst ausschließend zu werden. | |
Ergänzen lässt sich, dass aus dem Bereich der Philosophie derzeit | |
interessante Ansätze kommen, den Universalismus nicht mehr als abstraktes | |
Prinzip zu begründen, was von Vertretern der Identitätspolitik oft als | |
Trick kritisiert worden ist, in dieses Prinzip in Wahrheit den weißen | |
westlichen Mann einzuschreiben. | |
Jule Govrin leitet ihren „Universalismus von unten“ (Suhrkamp-Verlag) aus | |
der Verletzlichkeit menschlicher Körper ab. Hans Joas kommt in seiner | |
großen historischen Rekonstruktion der Entstehung des Universalismus (auch | |
Suhrkamp) auch auf die Sklavenaufstände im Haiti des 18. Jahrhunderts zu | |
sprechen. Der strikte Gegensatz zwischen dem Westen und dem globalen Süden, | |
auf dem manche Vertreter der Identitätspolitik aufsitzen, weicht so auf. | |
Von den Eindrücken des Tempelhofer Feldes aus lässt sich noch auf etwas | |
anderes hinweisen: nämlich dass die Identitätspolitik eingebunden ist in | |
gesellschaftliche Praxis, und das auch bleiben sollte. Sie ist kein | |
Intellektuellenprojekt, sondern sollte stets reflektieren, wie sie zu einem | |
emanzipativen Miteinander beiträgt – als dessen fast utopischer Vorschein | |
das Treiben auf dem Tempelhofer Feld nicht immer, [4][aber doch manchmal | |
aufscheint.] | |
## Leisere Sprache versteht die Macht nicht | |
Manche Verstiegenheiten der Identitätspolitik der vergangenen Jahre lassen | |
sich dabei [5][mit einer Wendung] verteidigen, die der Schriftsteller | |
Rainald Goetz auf die #MeToo-Bewegung gemünzt hat, die sich aber auch hier | |
anwenden lässt: „[…] es geht nur so, eine leisere Sprache versteht die | |
Macht nicht“ und weiter: „[…] öffentlich, streitig, wahnhaft rechthaberi… | |
wird dabei verhandelt, […] wie die Menschen in jeder konkreten Interaktion | |
einander begegnen wollen“. Genau darum ging es in den vergangenen Jahren. | |
Inzwischen aber sollte klar geworden sein, dass die Macht verstanden hat | |
und sich massiv wehrt. In dieser Situation sollte man vielleicht das | |
wahnhaft Rechthaberische nicht überbetonen und auf Bündnisfähigkeit | |
innerhalb des emanzipativen Lagers setzen. Die Möglichkeiten für Bündnisse, | |
denkt man jedenfalls mit einem letzten Blick übers Feld, sind dabei | |
vorhanden. | |
Es ist verständlich, wenn Vertreter der Identitätspolitik angesichts von | |
Trump und AfD von einem Backlash sprechen. Aber vielleicht handelt es sich | |
auch um einen spiralförmigen Fortschritt. Vielleicht ist die Lage jetzt so, | |
wie sie einst, lange her, nach 1968 gewesen ist: Die Revolution bleibt aus, | |
aber viele emanzipative Forderungen sinken allmählich in die Gesellschaft | |
ein. | |
Hinter dem gegenwärtigen Genervtsein von Identitätspolitik lässt sich doch | |
auch beobachten: Die möglichen Sprecherpositionen haben sich | |
vervielfältigt, der Zugriff des Normalen auf die Lebensentwürfe hat sich | |
verringert. Kurz, die Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren woker, im | |
guten Sinn, geworden. | |
Aber kann auch sein, dass das Tempelhofer Feld [6][demnächst bebaut wird] | |
und die gesellschaftlichen Errungenschaften wieder abgewürgt werden. Es | |
gibt viel zu verteidigen. | |
16 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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