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# taz.de -- Anja Kampmann Roman: Als die Nazis kamen
> Wie über eine Gesellschaft schreiben, in der sich die Schlinge zuzieht?
> So wie Anja Kampmann in „Die Wut ist ein heller Stern“, der in den 30er
> Jahren spielt.
Bild: Das „Alkazar“ an der Hamburger Reeperbahn, Treffpunkt der Halbwelt vo…
Wenn Lyrik und Prosa nicht mehr zu unterscheiden sind, eröffnen sich vorher
ungeahnte Räume. Das Buch von Anja Kampmann hat viele doppelte Böden.
Eigentlich erfüllt es alle Voraussetzungen eines klassischen Romans, hat
500 Seiten, mehrere zentrale Figuren, die sehr vielschichtig sind, sowie
eine Handlung, die historisch stark aufgeladen ist und spektakuläre Effekte
hervorbringt.
Aber es ist weit mehr als dieser Roman. Neben der politischen Dimension,
die im Lauf des Textes immer brisanter und unausweichlicher wird, geht es
auch darum, welche Sprache angemessen ist. Anja Kampmanns poetische Form
ist das wirkliche Ereignis dieses Buches.
Es sind kurze Abschnitte im Präsens, die den Roman vorantreiben,
Schlaglichter, in denen weniger erzählt als evoziert wird, Augenblicke, die
ungemein verdichtet sind und die vorgefundene Wirklichkeit mit den
Empfindungen der Figuren konfrontieren – eine mehrdeutige Form also, eine
Art szenischer Poesie.
## Zwischen 1933 und 1937
Der Zeitraum zwischen 1933 und 1937, in dem der Text angesiedelt ist,
entfaltet eine bedrängende Aktualität – ohne dass es einen konkreten
Hinweis auf die Gegenwart gibt. Die Atmosphäre allerdings, das
Lebensgierige, Brodelnde und Bedrohende nach dem Ende der Weimarer
Republik, scheint viele Gemeinsamkeiten mit heutigen Lebensformen zu haben.
Die Hauptfigur Hedda führt jeden Abend im Hamburger „Alkazar“ über zwei
potenziell schnappenden Kaimanen eine artistische Nummer am Seil vor. Das
„Alkazar“ ist eine Bar mit Tänzerinnen, Chansons, Erotik und Sex, ein
Treffpunkt der Halbwelt. Und dazu kommt eine unverkennbar proletarische
Note: Der Hamburger Hafen ist eindeutig in kommunistischer Hand, Heddas
Freunde bewegen sich in Arbeitersportvereinen und in roten Bündnissen. Es
ist im Grunde unvorstellbar, dass diese Strukturen gesprengt werden
könnten.
Als der Roman beginnt, im Frühjahr 1933, hat sich die Stimmung jedoch
bereits geändert. Alles scheint mit klebrigen, grauen Schlieren überzogen,
und Hedda hat den Auftrag, zusammen mit einem „Alkazar“-Kollegen Futter für
die Kaimane aufzutreiben. Der Schlachthof ist fest im Griff der neuen
Machthaber, es herrscht Not und Mangel an Fleisch, und wie die beiden dann
ein paar Kinder im Gängeviertel dazu bringen, so viele Ratten wie möglich
zu fangen, zeugt von den neuen Herausforderungen.
## Zwischen Emanzipation und Prostitution
Nur in einzelnen, fetzenartigen Rückblicken erscheinen die früheren Formen
ersten und abgebrochenen Glücks: Hedda, wie sie aus extremen
Unterschichtsverhältnissen heraus Arthur auffällt, dem Chef des „Alkazar“,
und die Chance erhält, dort anzufangen – in einem Milieu, das raffiniert
und unklar zwischen Emanzipation und Prostitution schillert, je nachdem,
wie geschickt man sich verhält.
Arthur erscheint anfangs als eine charismatische Figur, zwischen Geschäft
und Boheme. Hedda erinnert sich an Arthurs Glamour, an seinen Charme und
seine Ansagen. Der besondere Ton dieses Romans vermittelt dann
unterschwellig, wie sich Arthurs Rolle langsam ändert, wie er erst mal
nicht glaubt, dass die neuen braun Uniformierten ihm etwas anhaben könnten.
Mit ein paar seiner Getreuen geht er davon aus, aus sicheren Verstecken
heraus die Sache weiter im Griff zu haben. Noch 1935 hofft er darauf, dass
sich Max Schmeling nach seinem Weltmeisterschaftskampf wie früher im
„Alkazar“ blicken lässt, um die alte Größe zu dokumentieren. Dass Arthur
immer schwächer erscheint, dass sein Nimbus zerstört wird, verschmilzt für
Hedda mit ihrer Zukunftsangst – immer mehr ihrer Freunde verschwinden, vor
allem ihr Geliebter Kuddel. Zug um Zug wird alles unhaltbar.
Zum eigenartigen Sog dieses Buches gehört, dass kaum etwas erklärt oder
kommentiert wird. Hedda erscheint in Nahperspektive, sie wechselt zwischen
erster und dritter Person, und der Zusammenprall zwischen Visionen eines
freieren Lebens und dem dumpfen Gebaren einer biederen, brutalen äußeren
Macht führt zu flirrenden, in sich kreisenden Bildern.
## Auftrittsverbot wegen „Rassezugehörigkeit“
In winzigen Momentaufnahmen wird die Entwicklung des Trompeters gezeigt,
der anfangs mit seinem Jazzgefühl die Abende im „Alkazar“ prägte – er d…
wegen seiner „Rassezugehörigkeit“ bald nicht mehr auftreten, zieht sich in
kleine Zimmer und Kammern zurück, sehnt sich nach seinem verlorenen Freund
und will seine Umgebung, die er für sein Lebensexilier hält, nicht
verlassen.
Eine magische, zwischen Mythos und Realität vermittelnde Figur ist eine
Person namens „Raabe“ – eine alterslose, geheimnisvolle, mit
Geschlechterzuordnungen spielende Frau mit dunklem Timbre, die wenig sagt,
aber viel weiß und in ihrer entlegenen Garderobe hinter der Bühne ein
Versprechen ist, an das man unwillkürlich glaubt.
Der Zauber der Gegenwelt im „Alkazar“ verbindet sich in Anja Kampmanns
Roman mit grellen Miniaturen aus prekären sozialen Verhältnissen. Heddas
kleiner Bruder Pauli ist behindert, ihr älterer Bruder Jaan heuert auf
einem nationalsozialistischen Walfängerschiff an und fährt bis in die
Antarktis – die Spuren, die das bei ihm hinterlässt, werden langsam
spürbar.
Bis in die Nebenfiguren hinein sind die psychischen Dispositionen der
handelnden Personen genau ausdifferenziert. Heddas Jugendfreund Maks
versucht, bei der deutschen Polo-Mannschaft während der Olympischen Spiele
1936 in Berlin unterzutauchen, und seine Ängste wie seine Bindung zu Hedda
ergeben ein unauflösliches Knäuel.
## Zwischen den Widersprüchen
Historisch genau recherchiert und gespenstisch erscheint die Figur des
„Grauen“, eines aristokratisch geprägten früheren Kolonialoffiziers, der
Hedda als Geliebte hält und dadurch auf zwiespältige Weise schützt. Er
bezeichnet die Nationalsozialisten als „Pöbel“, spielt auf einem
hundertjährigen Klavier und geriert sich als ein Mann höherer Kultur. Hedda
durchschaut diese Konstruktion zwar, aber den Widersprüchen, denen sie sich
aussetzt, kann sie dennoch nicht entrinnen.
Der Zeitraum zwischen 1933 und 1937 ist deshalb so prägnant, weil das
Wissen um die Möglichkeiten des früheren Lebens noch allgegenwärtig ist,
die Schlinge sich aber immer weiter zuzieht. Es ist ein Gefühl, das man in
Deutschland lange nicht mehr kannte. Anja Kampmann beschwört es in ihrer
literarischen Imagination so eindringlich herauf, dass von Anfang an klar
ist: Es handelt sich hier keineswegs um einen historischen Roman, sondern
um Dispositionen, die bis heute ausstrahlen.
Dabei zielt die Autorin nicht auf vordergründige Wirkungen, auf
oberflächliche Parallelisierungen zwischen dem Ende der Weimarer Republik
und aktuellen Krisen. Sie geht auf riskante, poetische Weise in die Tiefe,
da, wo sich das Dunkle und das Helle untrennbar mischen. Das Bild des
düsteren, satten, undurchdringlichen „Keilers“, das mitunter in einzelnen
Szenen auftaucht, entfernt sich von einer nachvollziehbaren, realistischen
Darstellung, schafft aber eine starke symbolische Spannung.
Der Titel „Die Wut ist ein heller Stern“ taucht im Text selbst so nicht
auf, wird aber an einigen Stellen umkreist. Es ist ein Motivkomplex, der
die gesamte ästhetische Wucht dieses Romans kennzeichnet. „Wir können uns
die Sterne selbst schenken“, so umreißt Arthur am Anfang sein Programm.
Doch Hedda wird im Lauf der Zeit immer leiser, die Formel „Schsch“ taucht
scheinbar unvermittelt immer mal wieder zwischen den Sätzen auf und
erweitert die Bühne, schreibt den Modus der Oralität mit in den Text
hinein.
## Große Momente der Literatur
Mitunter empfindet sich Hedda selbst kaum mehr als ein Flüstern. Aber dann
bäumt sich etwas in ihr auf, größer als das „dunkle Rauschen“ um sie her…
„eine Wut, die stark und hell ist. Nicht wie ihre Wut.“ Es ist etwas, „was
aus der Liebe kommt“ und den Roman von Anja Kampmann trägt, etwas, was die
großen Momente der Literatur schon immer ausgemacht hat.
14 Sep 2025
## AUTOREN
Helmut Böttiger
## TAGS
wochentaz
Literatur
Nazideutschland
Historischer Roman
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