| # taz.de -- 55. Deutscher Historikertag in Bonn: Kein neuer Antisemitismusstreit | |
| > Der ganz große Knall blieb aus. Kontroversen wurden dennoch dezent | |
| > sichtbar. Aufschlussreich waren neue Quellen zur NS-Besatzung in | |
| > Osteuropa. | |
| Bild: Soldaten der deutschen Wehrmacht treiben 1940 im besetzten Tschenstochau … | |
| Der 55. Deutsche Historikertag stand unter dem Leitthema „Dynamiken der | |
| Macht“. Er wurde von 16. bis 19. September an der Universität Bonn | |
| ausgetragen. Aus einer Vielzahl von Podien und Vorträgen ragten jene | |
| heraus, die historische Perspektiven mit aktuellen Positionen und | |
| Diskussionen zu verbinden versprachen. Als sogenannte Topthemen gelabelt | |
| waren Veranstaltungen, die sich der „Rückkehr der Großmachtpolitik“ oder | |
| der „Freiheit der Geschichtswissenschaft“ widmeten. | |
| Zur Eröffnung des Historikertags im Plenarsaal des Bundestags der alten | |
| Bundesrepublik stand die Verteidigung der Demokratie gegen populistische | |
| Avancen im Zentrum der Beiträge. Die einleitenden Reden hielten der Trierer | |
| Historiker Lutz Raphael sowie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident | |
| Hendrik Wüst. | |
| Etwa 2.500 Historiker:innen aus dem In- und Ausland beteiligten sich | |
| laut Verband an der mehrtägigen Veranstaltung. Gut besucht war darunter | |
| auch eine Diskussion im Hörsaal X im altehrwürdigen Hauptgebäude der Bonner | |
| Universität am frühen Mittwochnachmittag. Angekündigt mit dem Titel | |
| „Antisemitismus. Zur Macht eines Begriffes“ wurde sie wie in diesen Tagen | |
| üblich von Sicherheitspersonal geschützt. | |
| Das Publikum im mehrere Hundert Menschen fassenden und fast vollständig | |
| belegten Hörsaal lauschte zunächst den einführenden Worten Stefanie | |
| Middendorfs. Die Jenaer Historikerin brachte ihre Skepsis gegenüber einer | |
| überzeitlichen und ahistorischen Verwendung des Begriffs Antisemitismus zum | |
| Ausdruck. Sie sprach von einer Überdehnung des Antisemitismusbegriffs, die | |
| für Gegenwartsdebatten wenig hilfreich sei. Den 7. 10., den Überfall der | |
| Hamas auf Israel und seine Bevölkerung, benannte sie dabei nicht. Man | |
| durfte also rätseln, was sie wohl genauer meinte. | |
| ## Es wurde noch konkreter | |
| Konkreter wurde es sogleich bei Stefanie Schüler-Springorum. Die Chefin des | |
| Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin ließ sich per Video | |
| zuschalten. Mit dem ihr eigenen Selbstbewusstsein behauptete sie, man müsse | |
| eine Debatte nach Deutschland holen, die international längst | |
| selbstverständlich sei. Und bezog sich dabei unter anderen auf den 1951 | |
| geborenen nordamerikanischen Historiker David Engel und dessen | |
| Holocaustforschung. | |
| Ohne direkte Bezüge zur Gegenwartsdiskussion herzustellen, betonte sie | |
| zunächst die historische Entstehung des modernen Antisemitismus im | |
| ausgehenden 19. Jahrhundert, um ihn gegen Vorläufer wie den religiös | |
| geprägten Antijudaismus abzugrenzen. Sie sprach über die Vertreibung der | |
| sephardischen Juden von der Iberischen Halbinsel im Zuge von Inquisition | |
| und Reconquista Ende des 15. Jahrhunderts. Es ging ihr dabei | |
| offensichtlich, um eine überzeitliche Parallelisierung antiislamischer und | |
| antijüdischer Ressentiments. | |
| Die Vertreibung der maurischen Herrschaft von der Iberischen Halbinsel habe | |
| unter gleichen Vorzeichen stattgefunden wie die der sephardischen Juden. | |
| Das christlich-europäische Sendungsbewusstsein und das abendländische | |
| Eiferertum waren damit einmal mehr als konstante Chiffren für | |
| Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus in den Raum gesetzt. | |
| ## Tendenzen zur Opferrolle | |
| Islamisch grundierte Herrschaft fand sich in der Opferrolle wieder. Was der | |
| historische Exkurs für heutige Auseinandersetzungen über Israel tatsächlich | |
| bedeuten soll, kann man sich denken. Mit Verweis auf Historiker Engel, | |
| tatsächlich im Deutschen weithin unbekannt, brachte Schüler-Springorum | |
| akademische Kennerschaft ein, um anzuregen, den Antisemitismusbegriff für | |
| heutige Debatten eher gar nicht mehr zu verwenden. | |
| Andrea Löw, Leiterin des Zentrums für Holocaustforschung am Institut für | |
| Zeitgeschichte in München, widersprach dem, wenn auch eher dezent. Sie | |
| plädiere zwar ebenfalls dafür, den Begriff des Antisemitismus | |
| zeithistorisch und spezifisch genau einzuordnen, halte ihn aber weiterhin | |
| zur Kennzeichnung von aktuellen Debatten und politischen Kräften für | |
| unverzichtbar. | |
| Im Anschluss daran, suchte Avner Ofrath, Historiker von der Freien | |
| Universität Berlin, die Perspektive um außereuropäische Quellen und Stimmen | |
| zu weiten. Er zog dazu eine antisemitische Schrift aus der antikolonialen | |
| Nationalbewegung Algeriens heran. Ofrath zitierte ausgiebig aus dem 1935 | |
| veröffentlichten Zeitungsartikel „Juden und Muslime in Algerien“ und | |
| stellte dar, wie darin die jüdische Bevölkerung als Gruppe in Gänze | |
| stigmatisiert und rassifiziert wurde. | |
| Aus dem Diskurs der nationalen Befreiung wurden sie ausgeschlossen und als | |
| heimlich agierende „mächtige Bourgeoisie“ charakterisiert, als „Profiteu… | |
| der französischen Kolonialherrschaft. Der Text ist, folgt man Ofrath, ein | |
| Beispiel dafür, wie die antisemitische Legende von der jüdischen | |
| Unterwanderung Algeriens und der islamischen Welt Verbreitung fand. | |
| ## Antisemitische Legenden | |
| Die Juden, so die Propaganda in den 1930er Jahren, seien Exporteure der | |
| Verwestlichung, also von Laizismus und demokratischen Vorstellungen, in | |
| Diensten der französischen Machthaber. Einmal zu Ausländern erklärt, | |
| postulierte die aggressive Rhetorik die Unvereinbarkeit eines | |
| Zusammenlebens von Juden und Muslimen in einer später postkolonialen | |
| Zukunft. | |
| Immerhin lieferte hier mit Ofrath ein Historiker auf dem Bonner Podium | |
| einen Hinweis, dass es außer der von Schüler-Springorum einseitig betonten | |
| christlich-abendländischen Kontinuität auch noch [1][andere | |
| Traditionslinien des Antisemitismus] gibt, wie etwa im antikolonialen, | |
| [2][(pan)arabischen oder (pan)islamischen Kontext.] Diese nicht nur | |
| ausschnitthaft zu untersuchen, bleibt allerdings Aufgabe künftiger | |
| Historikergenerationen. | |
| Wie langsam man oftmals vorankommt und wie wichtig die Beharrlichkeit | |
| historischer Quellenforschung dennoch ist, machten einige Veranstaltungen | |
| des 55. Deutschen Historikertags in den Fachsektionen deutlich. Bei | |
| „Dynamiken von Macht und Ohnmacht im Holocaust“ sprach der Frankfurter | |
| Historiker Markus Roth über „Macht und Ohnmacht der polnischen Verwaltung | |
| im Holocaust 1939–1944/45“. | |
| In einem spannenden Vortrag stellte er seine Forschung zu Organisation von | |
| Kontrolle, Raub und Arisierung im Generalgouvernement dar. Die polnische | |
| Bevölkerung wurde von den deutsche Nazibesatzern drangsaliert und litt | |
| selber größte Not. Doch Teile der lokalen polnischen Polizei und Verwaltung | |
| kollaborierten mit den Besatzern, gaben etwa bereitwillig die Daten der | |
| jüdischen Bevölkerung und deren Besitzes weiter. | |
| ## Andrea Löw zog drastische Beispiele heran | |
| Die Besatzer waren bei ihrem Tun auf solch detailliertes örtliches Wissen | |
| angewiesen. Dabei suchten auch Privatpersonen häufig ihren Vorteil. Roth | |
| zitierte aus Eingaben polnischer Bürger, die zum Beispiel Anspruch auf die | |
| Wohnungen jüdischer Polen erhoben. Und er verwies anhand von Dokumenten auf | |
| den vorhandenen Handlungsspielraum polnischer Polizei und Verwaltung. | |
| Man musste nicht in jedem Fall mitmachen. [3][Doch viele taten es], gerade | |
| wenn es um Nachteile für die jüdische Bevölkerung ging. Roths Fazit: Die | |
| Deutschen waren zur Durchsetzung ihrer Ziele auf lokale polnische Verwalter | |
| angewiesen; die großen Linien gaben sie dabei vor, doch Handlungsspielräume | |
| waren oftmals durchaus vorhanden. | |
| Größere jedenfalls als sie die von den Nazis zwangsrekrutierten Judenräte | |
| jemals hatten. Andrea Löw führte drastische Beispiele anhand ihrer | |
| Forschung zu den Judenräten von Minsk und Riga aus, Orten großer jüdischer | |
| Ghettos und massenhafter Vernichtung im sogenannten Reichskommissariat | |
| Ostland. Wie Löw schilderte, hatte ein von den Nazis zum Judenrat | |
| Bestimmter dort selber kaum eine Überlebenschance. | |
| Und die ihnen aufgezwungenen makabren Möglichkeiten der Entscheidung | |
| beschränkten sich oft darauf, mit auswählen zu müssen, wer noch ein wenig | |
| leben oder wer sofort sterben sollte. Manchmal gelang es ihnen, einige | |
| vorübergehend zu schützen. Manchmal mussten sie, um noch mehr Morde zu | |
| verhindern, wie von den Nazis gefordert die eigenen Kinder auf eine | |
| Todesliste setzen. | |
| ## Felix Matheis untersuchte Täterperspektiven | |
| Von „Dynamiken der Macht“ aus Täterperspektive wusste Felix Matheis zu | |
| berichten. Er untersuchte, wie „hansestädtische Handelsfirmen als | |
| Stakeholder von Ausbeutung und Judenverfolgung im besetzten Polen“ tätig | |
| waren. Die „Hanseaten im Osteinsatz“ suchten, so Matheis, durch | |
| Kolonisierung und Arisierungen in Osteuropa satte Gewinne zu erzielen. | |
| Die hauptsächlich Bremer und Hamburger Geschäftsleute hatten aufgrund des | |
| Kriegs oftmals ihre überseeischen Handelsgebiete verloren. Sie strebten | |
| nach Kompensation und brachten ihr Wissen aus dem Kolonialhandel in | |
| Hermann Görings Haupttreuhandstelle Ost (HTO) mit ein. | |
| Ab 1939 veranlasste die HTO die operative Umsetzung des Vierjahresplans zur | |
| systematischen wirtschaftlichen Ausplünderung des besetzten Polens. Sogar | |
| gegen etwaige Kriegsschäden ließen diese Firmen, so Matheis, sich durch | |
| den NS-Staat versichern. 1944 erhielten sie hohe Summen an Entschädigung | |
| für ihre Verluste durch das Vorrücken der Roten Armee. | |
| Opfer, Täter, Kollaborateure, die „Dynamiken der Macht“ [4][stellen sich je | |
| nach Perspektive sehr unterschiedlich dar]. Die Historikerzunft gilt dabei | |
| weithin als im traditionellen Sinne eher wertkonservativ und wenig | |
| dynamisch. Und mitunter sind es auch die Verlage, die versuchen, hier | |
| etwas zu dynamisieren. | |
| Bei einem Empfang des Hauses C. H.Beck am Rande des Historikertags oblag es | |
| Beck-Cheflektor Sebastian Ullrich deswegen, um Verständnis zu werben. | |
| Offenbar sorgt der salopp klingende Titel einer der Beck-Neuerscheinungen, | |
| „Die verdammt blutige Geschichte der Antike – ohne den ganzen langweiligen | |
| Kram“ [5][von Stefan von der Lahr und Michael Sommer], aktuell für | |
| Gesprächsstoff und Kopfschütteln in der Branche. Ullrich versicherte der | |
| versammelten Historikerschar, trotz solch flotter Titelgebungen zum Wohle | |
| von Leserschaft und Verkauf müsse sie sich über die weitere Seriosität des | |
| Programms keine Sorgen zu machen. Nun denn. | |
| 21 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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