# taz.de -- Erinnerung an Beat-Poetin ruth weiss: Das Überleben der ruth weiss | |
> Die Beat-Poetin ruth weiss floh aus dem Nazi-Deutsch ins Englische. Von | |
> den Beatniks ausgegrenzt, hat sie das Vergessenwerden schon hinter sich. | |
Bild: ruth weiss in Steve Arnolds Film „Luminous Procuress“, San Francisco,… | |
ruth weiss soll gestorben sein, am 31. Juli dieses verkackten Jahres schon, | |
in Albion, einem Kaff in Kalifornien. Aber das wollen wir mal lieber nicht | |
glauben. Warum sollte ausgerechnet die Göttin des Beat sterblich sein? | |
Diese großartige kleine Frau mit den leuchtend grünen Haaren? In ihrer | |
Waldhütte? Wozu? „There is no such thing as an end“, sagt ruth weiss ja | |
selbst im biografischen Film „The Beat Goddess“, der im November beim | |
Mendocino-Festival lief: So etwas wie ein Ende gibt es nicht. Und sie | |
glaube an die stetig fort sich drehende Spirale. Wie könnte sie dann | |
sterben? | |
Geboren wird sie im Frühsommer 1928 als Ruth Elisabeth Weisz in Berlin, | |
1933 siedelt die Familie um nach Wien. Dort dann Schulbesuch, heimisch | |
geworden, Prägungen. Bis zur Flucht. | |
Wien war die Geburtsstadt ihres Vaters gewesen: Oskar Weisz, aus guter | |
ungarisch-jüdischer Familie und Journalist, hatten die Nazis | |
selbstverständlich sofort aus Wolffs Telegraphischem Bureau entfernt, der | |
Top-Presseagentur der 1920er. Kein Job mehr, kein Geld, also zurück ins | |
Elternhaus, Neunter Bezirk, es gibt Schlimmeres. | |
Die orthodoxe Schwiegermama nimmt die Familie auf, verwöhnt das fraglos | |
hochbegabte Kind, das schon mit fünf Jahren nicht nur lesen kann, sondern | |
sogar erste Gedichte schreibt, eines ist erhalten, von einem Bären, der hin | |
und her geht, braune Augen hat, und schon damals wie jeder gute Beatnik zu | |
gar nichts taugen wollte. | |
Sie zankt sich mit der Mutter Fani Zlata, geborene Glück aus dem | |
slawonischen Daruvar, in Jugoslawien. ruth weiss hat auch | |
verwandtschaftliche Beziehungen zu Roma vermutet. An der Middle School in | |
New York wird sie Anfang der 1940er trotzdem wegen ihrer so deutschen | |
Herkunft als Nazi gemobbt werden. Unschuldige Kinder eben. | |
## Grüne Haare als Zeichen des Friedens | |
Umzug nach Iowa, Umzug nach Chicago. Als die Eltern nach dem Krieg kurz | |
nach Europa zurückziehen, muss sie noch mit, ein verlorenes Jahr im | |
Internat. Ab 1949 färbt sie dann die Haare grün – nach dem Vorbild des | |
märchenhaften Films „The Boy with Green Hair“, in dem ein Kriegswaise zum | |
Propheten des Friedens auserkoren ist. Und zum Zeichen seiner Berufung | |
wachsen ihm die Haare grün, natürlich in Technicolor. | |
Auch sonst geht sie jetzt eigene Wege. Das heißt vielmehr: Sie trampt. Nach | |
New York. Nach New Orleans. Dass San Francisco ihr Ziel ist, wird ihr erst | |
klar, als sie dort ankommt, 1952. Für volle 30 Jahre wird das ihre Stadt | |
sein. | |
Dass weiss das Personalpronomen „i“ in ihrer Dichtung nur als Minuskel | |
nutzt, ist poetologisch motiviert, dass sie ihren eigenen Namen | |
konsequent kleinschreibt, politisch: ruth weiss hat ihn so ab den 1950ern | |
zum Protestzeichen gemacht, gegen die Law-and-Order-Mentalität ihrer | |
Heimat, die vergeblich versucht hatte, sie auszulöschen. | |
## Das Verbrechen, entronnen zu sein | |
Sie habe keine Geschwister, so hat ruth weiss ihren Antrieb geschildert, | |
„and all my relatives died in concentration camps“. Alle meine Verwandten | |
sind in Konzentrationslagern gestorben: „So my work is the thing that will | |
continue my life“ – mein Werk wird mein Leben fortsetzen. Man kann auch | |
sagen: rechtfertigen. Denn da bleibt das Gefühl einer Schuld, „my | |
concentration camp guilt. that / i got away“, wie es 1993 in „full circle“ | |
heißt. Das Verbrechen, entronnen zu sein – dieses unwahrscheinliche Leben. | |
Dieses Überleben. Darf das jemals aufhören? | |
Sie hat immer weitergemacht. Hat täglich Bier und Eiscreme gefrühstückt, um | |
gesund zu bleiben. Hat produziert, unermüdlich; unbändig: Sie explodiere in | |
alle möglichen Medien, so ihre eigene Beschreibung, aber stets sei es | |
Dichtung. Noch in diesem Frühjahr hatte sie Auftritte, mit 91 Jahren; nicht | |
mehr als Tänzerin und Performerin, wie früher, in ihrem eigenen Kunstfilm | |
„The Brink“ oder in denen von Dalí-Schüler Steve Arnold, die eine | |
eigenständige Ästhetik der Queerness überhaupt erst denkbar gemacht haben. | |
Aber immer noch mit umwerfender Präsenz. | |
Sie hat halt einfach auf die Spirale vertraut, that keeps on going. Klar | |
doch. Selbstverständlich hört sich das nach C.-G.-Jung-Geraune an und | |
westküstenesoterischem New-Age-Gebrasel. Dem neigt sie wirklich zu: | |
„AQUARIUS is here to steer us“, heißt es etwa im Gedicht „speak for | |
yourself“ von 1995, und das wird im Band „a fools journey“ korrekt | |
übersetzt als „der WASSERMANN lenkt uns“. Aber meist ist Sinn in Lyrik eine | |
fragwürdigere Kategorie. | |
## Von der source zur Sour Sauce | |
Und das gilt in besonderem Maße für Gedichte von ruth weiss, die sie zu | |
großen Zyklen arrangiert hat, wie im Band „Light“ von 1976, der in fast | |
hegelianischer Gliederungsfreude daherkommt, oder wie beim über Jahrzehnte | |
komponierten „Desert-Journal“ (1977), das sich so sinnig wie symbolträchtig | |
in 40 Tage unterteilt. | |
Da stellt dann ein Tag – der dritte – eine klanglich-analytische Verbindung | |
von der Suche nach der Quelle, also der source zur Sour Sauce her, die | |
dann, wie eine Göttin, um Beistand angefleht wird: „SOUR SAUCE / SOUR SAUCE | |
/ MARINATE THIS LIFE“. | |
Oder, auch schön: Am „Siebten Tag“ trennt kaum mehr als ein Zeilensprung | |
ein Epigramm aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ des barocken Mystikers | |
Angelus Silesius von einem absolut praktikablen Rezept für Kaffeelikör. Die | |
Bedeutung ergibt sich auch aus dem dichten Klangbild solcher Verse, der | |
Assonanz, den Binnenreimen, dem Rhythmus, der über die Textfläche | |
hinausdrängt. Auf die Bühnen, dorthin, wo sie sich im Zusammenspiel mit den | |
Instrumenten in Musik verwandelt. | |
## Sehr Österreich, viel Balkan | |
Und wenn dann also diese [1][kleine grünhaarige Frau ihre Lyrik vortrug], | |
zwischen Bass und Sax und einem Zausel an einem Naturschlagzeug – ihr | |
letzter Lebenspartner, Hal Davis, 20 Jahre jünger, Anfang der 1970er war er | |
mal Soldat gewesen – | |
Und wenn also diese kleine grünhaarige Frau ans Mikro trat und mit ihrem | |
fast perkussiv-harten Akzent, sehr Österreich, viel Balkan, und mit einer | |
Stimme, die jedes Rauchverbot in den Jazz-Clubs von San Francisco und der | |
Bay Area bestenfalls hat lächerlich wirken lassen – | |
Und wenn ruth weiss ihre Gedichte rezitierte – Wortinjektionen, wie | |
Sinnsprüche, komplex verwoben in ein großes epigrammatisches Reticulum, das | |
wuchert, wie improvisiert, neue Knospen bildet, unerwartet, nach überall | |
hin offen, wie das Universum, in Versen, deren Rhythmus die Instrumente | |
sanft berührt und vorandrängt, und deren Swing sie weckt und zum Klingen | |
zwingt – | |
## Dichter*innen der Zweiten Sprache | |
Es gibt gar nicht so wenige Menschen, die aus dem Nazi-Deutsch ins | |
Englische geflüchtet sind und in ihrer neuen Heimat Lyriker*innen | |
wurden, Dichter*innen der Zweiten Sprache. Die Namen sagen nur wenigen | |
etwas: [2][Lisel Mueller] gehört dazu, auch, am berühmtesten, Michael | |
Hamburger. | |
Bei Arthur Gregor, der mal echt mittendrin war und auf dessen Partys im | |
Village sich die ganze New Yorker Boheme der 1960er tummelte, scheint | |
selbst sein Verlag [3][nicht mitbekommen zu haben], dass er vor sieben | |
Jahren [4][gestorben ist.] Dann sind da noch Felix Pollak, Alice Beer, | |
Karen Gershon und Anne Kind gewesen, doch, doch es sind einige. | |
Und Lotte Kramer und Gerda Mayer, die beide in England leben, haben das | |
zweifelhafte Glück, von der Literaturwissenschaft in die Rubrik | |
„Kindertransport-Poets“ einsortiert zu werden: Vielleicht ist eine | |
Schublade besser als völlige Ignoranz. Die vorherrscht. Aber nicht in Bezug | |
auf ruth weiss. | |
## Wiederentdeckung Mitte der 1990er | |
ruth weiss hat sozusagen das Vergessenwerden schon hinter sich. Das ist | |
keine kühne Hypothese, denn außer dem amerikanischen Film von Melody Miller | |
ist aktuell einer des Künstlers und Literaturhistorikers Thomas Antonic in | |
der Postproduktion. „one more step west is the sea …“ heißt er und soll | |
kommendes Jahr in Kinos laufen. Auch wird geforscht zu ihr. Und, was die | |
Gedichtbände angeht: Sicher, die Originalausgaben sind längst vergriffen. | |
Aber ein guter Querschnitt des Œuvres ist dank der formidablen Wiener | |
edition exil leicht zu haben. | |
Dabei war sie ganz weg gewesen. Die Wiederentdeckung datiert auf Mitte der | |
1990er. Und zustande kam sie, weil sich Brenda Knight damals gesagt hatte: | |
Komisch, viel Sex in der Beat-Dichtung, auch mit Frauen, und trotzdem: Wo | |
sind sie geblieben?, und anfing zu suchen. | |
Schließlich hatte die Lektorin eine ganze Galerie von Dichterinnen zutage | |
gefördert, mit ruth weiss gewissermaßen an der Spitze, die Teil jener | |
Dichtungs-Revolution waren, aber von ihren Anführern beschwiegen wurden. | |
Kein Wunder, hatten die doch als Ursprung der Freude des Dichtens „den | |
reinen mannhaften Drang, freimütig zu singen“ proklamiert. | |
## Beat mit reaktionären Unterströmungen | |
Der Satz stammt aus einem Beat-Manifest von Jack Kerouac und erinnert | |
daran, dass es auch in dieser Revolution maskulinistischen Scheiß gab, | |
reaktionäre Unterströmungen, Ausschließungen, Abgrenzungen, Ausgrenzungen, | |
Sexismus, Rassismus und Hierarchien: Lawrence Ferlinghetti war der Verleger | |
der Bewegung – und er druckte weiss nicht. | |
Und Allen Ginsberg war Chef der Marke Beat. Und die arme ruth weiss soll er | |
regelrecht gehasst haben – vielleicht, weil sie 1952 seine Vormieterin in | |
1010 Montgomery Street gewesen war, wo er drei Jahre später „The Howl“ | |
schreiben sollte, sein Meisterwerk. Aber eigentlich ist das nur ein | |
Platzhalter für einen Grund, den es nicht gibt. | |
ruth weiss war da, als es losging, war mittendrin im Aufbruch der 1950er | |
und hat der Bewegung entscheidende Impulse verliehen: | |
Poetry-&-Jazz-Sessions hatte sie in der berühmten Kneipe The Cellar als | |
Label etabliert, bevor andere – zwei Männer – auf die Idee kamen, es in | |
genau der Location zu kapern und groß zu vermarkten. Natürlich ganz ohne | |
weiss. Sie ließ es geschehen. Machte ihr Ding. Kümmerte sich nicht um Ruhm. | |
Jobbte. Überlebte. | |
Sie sei wirklich nie Teil des inner circle gewesen, never, das habe sie | |
auch gar nicht gewollt: „This is not my style.“ Und außerdem: Lieber als | |
Beat-Göttin würde sie gern Jazz-Dichterin heißen. | |
30 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /10-Jahre-Literaturfestival-Sprachsalz/!5083862 | |
[2] /Verleihung-des-Bundesverdienstkreuzes/!5643012 | |
[3] http://www.sheepmeadowpress.com/gregor-arthur | |
[4] https://www.loc.gov/item/n50031471/arthur-gregor/ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
Beat | |
Lyrik | |
NS-Verfolgte | |
Frauen | |
Performance-KünstlerIn | |
Stadtland | |
Portugal | |
Roman | |
Judentum | |
Literatur | |
Lyrik | |
Underground | |
Bundesverdienstkreuz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Dichterin Lotte Kramer wird 100: Frau Kramer schreibt kein Deutsch | |
Exil-Dichterin Lotte Kramer wird 100. Ihre Gedichte handeln vom Verlust der | |
Heimat, der Ermordung ihrer Familie und Angst vor der eigenen Erinnerung. | |
Geflüchtet in die Literatur: Was Melle Ilse Losa verdankt | |
Im niedersächsischen Melle entsteht ein „Frauenort“ in memoriam Ilse Losa: | |
Dort wurde die portugiesische Autorin vor 110 Jahren geboren. | |
Jack Kerouac zum 100. Geburtstag: Der Trip ins abgrundtiefe Nichts | |
Der Schriftsteller Jack Kerouac inspirierte die Gegenkultur des 20. | |
Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag sind zwei Neuübersetzungen erschienen. | |
Debütfilm „Shiva Baby“ auf Mubi: Die blanken Nerven zupfen | |
„Shiva Baby“ von Emma Seligman schickt seine Protagonistin an den Rand des | |
Zusammenbruchs. Der Maseltov-Cocktail hat es in sich. | |
Legende der Beat-Generation gestorben: Wer stahl Amerika? | |
Sein Bookstore steht in jedem San-Francisco-Reiseführer. Lawrence | |
Ferlinghetti verhalf der Beat Generation zum Durchbruch. Nun ist er | |
gestorben. | |
Lyrik von Mila Haugová: Schlagfertigkeit der Seele | |
Alterssexualität, der Doppelpunkt als Dominantseptakkord: Für ihre Lyrik | |
erhält Mila Haugová Anerkennung auch außerhalb der Slowakei. | |
50 Jahre Maro Verlag: Propheten des Underground | |
Der Maro Verlag hat Bukowski, Kerouac und Fauser verlegt. Nun wird er 50. | |
Die Verleger:innen Benno und Sarah Käsmayr blicken zurück – und voraus. | |
Verleihung des Bundesverdienstkreuzes: Späte Ehre für Lisel Mueller | |
Die Dichterin floh vor den Nazis in die USA, erhielt den Pulitzer Preis, in | |
Deutschland ist sie kaum bekannt. Nun erhält sie das Bundesverdienstkreuz. | |
10 Jahre Literaturfestival „Sprachsalz“: Wie der Beat in die Berge kam | |
Lesen in Tirol: Seit zehn Jahren gibt es in Hall das Literaturfestival | |
Sprachsalz. Zum Jubiläum kam auch Altmeister Martin Walser. |