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# taz.de -- Jack Kerouac zum 100. Geburtstag: Der Trip ins abgrundtiefe Nichts
> Der Schriftsteller Jack Kerouac inspirierte die Gegenkultur des 20.
> Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag sind zwei Neuübersetzungen erschienen.
Bild: Exerzitien in Einsamkeit, Visionen von Freundlichkeit, Selbstzerstörung:…
Jack Kerouac war auf der Suche nach Gott. Sein Alter Ego in „On the Road“,
dem legendären und folgenreichen Roman, der ihn 1957 ad hoc zu einer
Berühmtheit macht, heißt nicht von ungefähr Sal Paradise.
An der Seite des unverbildeten Tatmenschen Dean Moriarty, alias Neal
Cassady, hetzt Sal über die Landstraßen der Vereinigten Staaten, um das
Paradies zu finden, das bei dem guten Patrioten Kerouac deutliche Züge des
sagenhaften alten Amerikas aufweist, in dem noch Freiheit und
Unabhängigkeit herrschen. Eine Wallfahrt.
Auch in „The Dharma Bums“, nur ein Jahr später erschienen und jetzt zum
100. Geburtstag des Autors in einer schönen neuen Übersetzung von Thomas
Überhoff noch einmal zu entdecken, gibt es sie, diese oft atemlosen,
gehetzten Straßenstenogramme, in denen Kerouacs Ideal einer „spontanen
Prosa“ sich suggestiv verwirklicht.
Aber sie bilden hier nur Zwischenspiele einer anderen, eher vertikalen
Bewegung, die sich deutlich langsamer vollzieht und die ihren symbolischen
Ausdruck findet in den meditativen Bergwanderungen, die der Ich-Erzähler
Ray Smith mit seinem Mentor und Buddy Japhy Ryder unternimmt. Der Trip geht
in die Höhe, das Ziel ist eine transzendentale Existenzweise im Sinne des
Dharma, der buddhistischen Lebens- und Heilslehre.
## Kein zukünftiger Buddha
„Inzwischen bin ich mit meinen Lippenbekenntnissen etwas heuchlerisch
geworden und auch ein bisschen müde und zynisch“, stellt sich Ray Smith
selbst vor. „Aber damals glaubte ich wirklich an Freigiebigkeit und
Nächstenliebe und Demut und Hingabe und stille Einkehr und Weisheit und
Ekstase, und ich glaubte auch, ein Bhikkhu aus alten Zeiten in modernem
Gewand zu sein, der die Welt durchwandert (für gewöhnlich das riesige
Dreieck New York, Mexico City, San Francisco), um das Rad der Lehre oder
des Dharma zu drehen und mir Verdienste als zukünftiger Buddha (Erwecker)
und zukünftiger Held im Paradies zu erwerben.“
Wie „On The Road“ ist „Die Dharmajäger“ ein großes Freundschaftsdokum…
Kerouac erzählt hier von seinen Erlebnissen [1][mit einer losen Gruppe
Hipster-Buddhisten in und um San Francisco], im Zentrum der Zen-Poet Gary
Snyder alias Japhy Ryder.
Ein „Bursche aus dem östlichen Oregon, mit Vater, Mutter und Schwester in
einer Blockhütte tief im Wald aufgewachsen, ein Kind der Wälder,
Holzfäller, Farmer, an Tieren und indianischen Überlieferungen
interessiert, weshalb er, als er schließlich aufs College kam, so oder so
schon ziemlich gut auf seine frühen Studien der Anthropologie und später
der indianischen Mythen und der dazugehörigen Texte vorbereitet war.
Schließlich lernte er Chinesisch und Japanisch, wurde Orientalist und
entdeckte die größten aller Dharmajäger: die Zen-Verrückten aus China und
Japan.“
Dieser moderne Thoreau nimmt [2][Kerouac] unter seine Fittiche und bringt
ihm ein bedürfnisloses, kontemplatives Leben nahe, mehr oder weniger im
Einklang mit der Natur. Die Hipster-Gesellschaft fordert zwar immer wieder
ihr Recht, es gibt orgiastische Parties, Snyder/Ryder verführt so viele
Frauen, dass nicht nur der Erzähler neidisch wird, und Smith säuft hier
schon auf eine Weise, die Kerouacs trauriges Ende vorwegzunehmen scheint.
## Appell zur Umkehr im Leben
Aber der Glutkern dieses Textes sind die lyrischen Passagen der Einkehr,
der spirituellen Naturerfahrung und der zwischen bloßer Albernheit und
Tiefsinn changierenden Zen-Frömmelei. „Die Dharmajäger“ ist ein Manifest,
ein Appell zur Umkehr, zu einem antikonsumistischen Leben außerhalb der
Konsens-Gesellschaft.
In einem langen Monolog bringt Ryder seine Dropout-Philosophie auf den
Punkt. „Ich habe Whitman gelesen, wisst ihr, was er sagt, Fasst Mut,
Sklaven, und lehrt fremde Despoten das Fürchten, er meint, das ist die
Haltung für den Barden, den verrückten Zen-Barden von den alten
Wüstenpfaden, schaut, die Welt ist voller Rucksackwanderer, Dharmajäger,
die sich weigern, die verbreitete Forderung zu unterschreiben, sie sollten
irgendwelche Waren konsumieren und müssten im Ausgleich arbeiten für das
Privileg, diesen ganzen Scheiß benutzen zu dürfen, den sie gar nicht
gewollt hatten, Kühlschrank, Fernseher, Autos, zumindest neue
Angeber-Autos, bestimmte Haaröle, Deos und sonstigen Mist […]; ich sehe die
Vision einer großen Rucksackrevolution, Tausende oder gar Millionen junger
Amerikaner, die mit Rücksäcken durchs Land ziehen, zum Beten auf Berge
steigen, Kinder zum Lachen bringen und alte Männer froh machen, junge
Mädchen glücklich und alte Mädchen glücklicher, lauter Zen-Verrückte, die
rumziehen und dabei ihnen scheinbar grundlos einfallende Gedichte
aufschreiben und die durch Freundlichkeit und seltsame, unerwartete Taten
jedermann und jeder lebendigen Kreatur Visionen von ewiger Freiheit
vermitteln“.
Das hat die jüngeren Generationen angefixt, auch in der Bundesrepublik.
Unter dem gar nicht unebenen Titel „Gammler, Zen und hohe Berge“ 1963 auf
Deutsch erschienen, wird der Roman zu einem der Verständigungstexte für
„die langsamste Jugendbewegung aller Zeiten“, so verhöhnt der Spiegel die
sich gerade konstituierende Gammler-Szene. Aber auch die grüne
Landkommunen-Bewegung in den 70er-Jahren kann sich ohne Verbiegungen auf
ihn berufen.
## Allein in der Holzhütte
Zum Ende hin übt sich Smith in ideeller Nachfolge des
[3][Aussteiger-Klassikers Henry David Thoreau, der eine Zeitlang in einer
Hütte lebte, um das „Mark des Lebens“ kennenzulernen.]
An Ryders Stelle, der San Francisco in Richtung Japan verlässt, um dort in
einem Kloster seine buddhistischen Studien zu vervollständigen, lässt sich
Smith als Feuerwächter auf dem Desolation Peak anstellen, einem Berggipfel
im heutigen North Cascade National Park, Washington. Hier verbringt er zehn
Wochen in einer primitiven Holzhütte, völlig allein, nur durch ein
Funkgerät mit der Welt verbunden.
Geschult durch die Bergtouren mit Ryder, kommt er jetzt ganz zu sich. Fast
schon zwangsläufig führt ihn dieses Exerzitium in Einsamkeit zu poetischen
Visionen und nach ein paar Zweifeln und Anfechtungen eben auch zu so etwas
wie Erleuchtung. „O Ray“, betet er angesichts eines Regenbogens, der
ringförmig seinen Schatten umkränzt, „der Lauf deines Lebens gleicht dem
eines Wassertropfens im unermesslichen Ozean, der ewiges Erwachen verheißt.
Warum sich je wieder Sorgen machen?“
Wie sehr er die Einöde hier verklärt, um das Manifest mit einem Erfolg
enden lassen zu können, wie sehr ihn der Aufenthalt in Wirklichkeit mit
„Sorgen“ erfüllt hat, zeigt Jack Kerouacs späterer Roman „Desolation
Angels“. „Engel der Trübsal“ lag bisher, vielleicht nicht ganz grundlos,
nur in einer Teilübersetzung vor (als „Engel, Kif und neue Länder“, 1967)
und erscheint jetzt erstmals vollständig.
## Die Leere verstört
Was er hier oben tatsächlich gefunden hat, ist die totale Leere, die ihn
aber nicht etwa erlöst, sondern völlig verstört und vom Buddhismus wieder
abfallen lässt.
Eine Woche vor der Abreise überschlägt er den ideellen Ertrag seines
Aufenthalts. „Dass ich mich allein nicht leiden kann, weil ich allein nur
ich bin, ja nicht einmal das, und es ist so furchtbar monoton … Am Ende
dieses Desolation-Abenteuers finde ich am Boden meiner selbst nur
abgrundtiefes Nichts, schlimmer, nicht mal eine Illusion – Mein Hirn ist
zerfleddert –“.
Man könnte sich an Thoreau erinnert fühlen, der nach seinem Aufstieg zum
Mount Katahdin übermannt wird vom Gefühl des Ausgeliefertseins an eine
menschenfeindliche Natur, in der kein göttlicher Puls zu schlagen scheint.
Aber während Thoreau wieder hinabsteigt und in der lieblichen Idylle am
Walden Pond seine naturreligiöse Konfession erneuert, fällt Kerouac
gänzlich vom Glauben ab. „Oh, ich bin kein Buddhist mehr, ich bin gar
nichts mehr!“, bekennt Duluoz.
Diese totale Desillusionierungserfahrung war vermutlich, so hat es
jedenfalls sein Freund Allen Ginsberg später gedeutet, die eigentliche
Ursache für seine konsequente Selbstzerstörung im Suff, die im Oktober 1969
mit seinem Tod endete.
Der Aufenthalt sei eine „lange, finstere Nacht der Seele“ gewesen, schreibt
der Schriftsteller John Wray in seinem großartigen Nachwort zu „Engel des
Trübsals“, „die auf ewig seinen naiven, fröhlichen Blick auf den Kosmos
zerstörte, ganz gleich wie tapfer er versuchte, das vor der Welt zu
verbergen.“
12 Mar 2022
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## AUTOREN
Frank Schäfer
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