| # taz.de -- New Yorker Künstler Duncan Hannah: Abstrakter Espresso | |
| > „Dive“, das Tagebuch des New Yorker Künstlers Duncan Hannah aus den | |
| > 1970ern, ist nun auf Deutsch erschienen. | |
| Bild: „Mein Tag wird kommen“ – Duncan Hannah, Künstler, früher Punk und… | |
| Ein Platzanweiser erzählt mir, er sei bei der Musterung durchgefallen, | |
| indem er sich Erdnussbutter in den Arsch geschmiert und davon gegessen | |
| habe, während er in der Schlange stand. Er habe dem Offizier was davon | |
| angeboten. Untauglich, Baby!“ | |
| Duncan Hannah jobbt auch als Platzanweiser. Er möchte auf die | |
| Kunsthochschule, hat panische Angst, wegen der allgemeinen Wehrpflicht zur | |
| US-Army und zum Kriegseinsatz nach Vietnam eingezogen zu werden. Statt | |
| Scheiße mit Erdnussgeschmack frisst er vor der Musterung Drogen und | |
| flunkert dem Musterungsausschuss vor, er sei schwul. Untauglich, Baby! | |
| Hurtig analysiert er den Roman „Schlachthof 5“ von Kurt Vonnegut und | |
| überwindet damit eine Bewerbungshürde zur Aufnahme am Bard College in | |
| Upstate New York. Es sind die Sommerferien 1970 und der 17-Jährige, noch | |
| bei den Eltern in Minneapolis lebend, besucht seine ältere Schwester in New | |
| York City. Das Kulturleben saugt ihn auf der Stelle ein und soll ihn nicht | |
| mehr ausspucken. | |
| Nach dem College zieht er nach Manhattan: besucht Konzerte und | |
| Ausstellungen, liest Bücher und schaut Filme; atemlos, schlaflos, mit | |
| Turboantrieb zieht Hannah durch die Nacht und macht sich das Geschehen zu | |
| eigen, schließt Bekanntschaften, fängt zu malen an: „Mir schwirren zu viele | |
| Gedanken im Kopf rum“, schreibt er, beruhigt sich mit dem Diktum von Walt | |
| Whitman: „I contain multitudes.“ | |
| ## Tagebuch der Siebziger | |
| Mit der Musterung setzt „Dive“, Hannahs „Tagebuch der Siebziger“ ein. D… | |
| bildende Künstler hat es [1][unter dem von Marc Bolans Glamrockhit] | |
| entlehnten Titel „20th Century Boy“ 2018 im Original veröffentlicht, nun | |
| liegt es in deutscher Übersetzung vor: „Diese Stadt ist ein Monster“, | |
| bemerkt Duncan Hannah 1974, als er einem New Yorker [2][Konzert der | |
| Stooges] beiwohnt, in dessen Verlauf Iggy Pop nach Einnahme von Angel Dust | |
| einpullert und als Bewusstloser von der Bühne getragen werden muss. | |
| Grenzerfahrungen sind wie Vitaminpillen in „Manhattan, wo es immer Nacht | |
| ist. Zum Beweis lässt man die Lichter an.“ Wo zum Ausgehen „alle aus den | |
| Särgen steigen“. | |
| Literarische Vorbilder wie Jim Carrolls „Basketball Diaries“ und „Der | |
| Fänger im Roggen“ von J. D. Salinger werden im Text ganz offen erwähnt, in | |
| seiner geballten Langform entwickelt „Dive“ aber einen krasseren, | |
| elektrifizierten Wumms. Man kennt seine poetische Energie von Glam- und | |
| Protopunksongs, wie „Too much too soon“ (New York Dolls) und „See No Evil… | |
| von Television. | |
| ## PS1 New York | |
| Bevor Hannah 1981 als Mitwirkender an der Ausstellung „New York/New Wave“ | |
| im PS1 seinen Durchbruch als Künstler feiern konnte, half er bei der Geburt | |
| der [3][New Yorker Punkszene] mit, spielte in Underground-Filmen des | |
| Regisseurs Amos Poe, gestaltete Plattencover ([4][etwa für Blondie]), schuf | |
| Illustrationen für Zeitungen und Magazine. | |
| Jobbte in Bäckereien und Dinern als Kassierer, um sich über Wasser zu | |
| halten. Das Durcheinander von Erlebnissen, Gedanken, Dialogen und Zitaten | |
| aus Büchern, Songs und Filmen bewahren Hannahs Tagebuch immer vor allzu | |
| dreisten voyeuristischen Anflügen. | |
| Wobei das somnambule, autodestruktive, zombiehafte Grundgefühl des | |
| schreibenden Ich das Unheil nicht nur heraufbeschwört, die Bruchlandungen | |
| schaden der Kreativität keineswegs. Hepatitis, Tripper, Gift und Galle | |
| kotzen, woke waren die 1970er von Duncan Hannah also definitiv nicht. Im | |
| Vorwort merkt er an, er habe nichts geschönt, bereue nichts und bedankt | |
| sich herzlich bei seinen Schutzengeln. | |
| Strategisch scheint vor allem die Wahl der Kleidungsstücke zu sein, Glitter | |
| und Glam mit Hang zum Crossdressing. Sicher ist nur, niemals zweimal das | |
| Gleiche tragen: „Wir glaubten an den Weg, obwohl wir vom Ziel keine Ahnung | |
| hatten“, heißt es im Vorwort. | |
| 1974 sollte Allen Ginsberg bei einer Dankesrede zur Verleihung des | |
| „National Book Award for Poetry“ für seinen Gedichtband „Fall of America… | |
| in der Dankesrede sagen: „Es gibt keine Hoffnung mehr auf die Heilung der | |
| USA“. Da war das Cluster der Beatnicks bereits diffundiert, einzelne | |
| Autor:innen wie Ginsberg hatte der gefräßige Mainstream eingemeindet. | |
| Das euphorische, positiv grundgestimmte „Zeitalter des Wassermanns“ | |
| zappelte in Hannahs New York der 1970er Jahre noch, auch die alten | |
| Beat-Treffpunkte gab es weiterhin, aber Duncan Hannah erkennt am Washington | |
| Square Park bereits Zeichen des Zerfalls: „Inzwischen bevölkert von | |
| Spinnern, die vor Verzweiflung toben.“ Die 1960er Jahre waren mit der | |
| Mission zum Mond zu Ende gegangen. „Wir heulen den Mond an“, schreibt | |
| Hannah, denn der Alltag auf der Erde ist medial vermittelt: „Auf den | |
| Treppen der … dunklen, verlassenen Straßen sitzen Twilight Zone | |
| Jugendliche.“ | |
| Verheißungsvoll scheint in „Dive“ die Vermessung der Warenwelt: | |
| „hingebungsvoller Alkoholkonsum“, gutes Essen nach Wochen des Hungerns, | |
| teure Fummel, Platten und französische Filme, die er zigmal in den | |
| „Midnight Movie“-Vorstellungen der Kinos anschaut. | |
| ## Sex, Drugs und Rock'n'Roll | |
| Die Erleuchtung setzt nur über Umwege ein. Sex, Drugs und Rock’n’Roll | |
| bleiben serielle Vergnügungen, immer am Rande des Nervenzusammenbruchs und | |
| manchmal auch mittendrin. Bis Duncan Hannah seine Häutung zum Künstler | |
| vollführen kann, befindet er sich in einer Art splendid isolation. Man kann | |
| sein strauchelndes Vorwärtsgehen im grellen Scheinwerferlicht als | |
| Kennzeichen von Vereinzelung interpretieren. | |
| Einträge ins Tagebuch werden in der zweiten Jahrzehnthälfte immer | |
| unregelmäßiger, Saufen wird eine Sucht. „Keinen festen Boden unter den | |
| Füßen. Es ist eine ausweglose Situation. Aber mein Tag wird kommen.“ | |
| New York ist zwar immer noch das Paradies, aber der Hardcore-Hedonismus | |
| entfremdet zugleich vom Stadtleben. Jede:r musste für sich zur Bewältigung | |
| des Alltags Schutzhaut zulegen. „Wir liebten schwarzen Kaffee, schwarze | |
| Slips und schwarze Augenbrauenstifte“, [5][sagte Patti Smith] in dem von | |
| ihrer Freundin Judy Linn veröffentlichten Fotoband „Patti Smith 1969–1976�… | |
| Smiths Künstlerinnenwerdung verläuft zeitgleich mit der von Duncan Hannah, | |
| sie begegnen sich häufig. „Abstract Espresso“ will er das Tagebuch einmal | |
| nennen. Nach dem Besuch einer Ausstellung des britischen Künstlers Richard | |
| Hamilton beginnt er manisch zu collagieren. | |
| ## Marc Bolan | |
| All das, was er am Sound und dem Aussehen des charismatischen britischen | |
| Sängers Marc Bolan mag, den er 1972 bei einem Konzert in New York sieht, | |
| verlegt er nun in die Kunst. „Affektiert und aufgetakelt“, so empfindet | |
| Hannah die Inszenierung auf der Bühne. Der „schludrige“ Stil, in dem Bolans | |
| Band T. Rex die Songs performt und das Publikum ziehen Hannah in den Bann: | |
| „Gecken links, Dandys rechts … Hier sieht es aus wie am Hof von Ludwig | |
| XVI.“ | |
| Das Tagebuch endet mit einem Eintrag vom 12. Mai 1981, an jenem Tag hatte | |
| Duncan Hannahs erste Einzelausstellung in New York Vernissage. | |
| 5 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Tribute-Album-zu-Marc-Bolan-und-T-Rex/!5708376 | |
| [2] /Punk-Legende-Danny-Fields-im-Interview/!5519128 | |
| [3] /Uebersetzung-eines-Popdiskurs-Klassikers/!5636713 | |
| [4] /Lesung-von-Debbie-Harry-in-Hamburg/!5634357 | |
| [5] /Roberta-Bailey-ueber-Punkfotografie/!5600656 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
| ## TAGS | |
| US-Literatur | |
| Tagebuch | |
| New York | |
| Künstler | |
| Punk | |
| Glamrock | |
| Drogen | |
| Sex | |
| Patti Smith | |
| J. D. Salinger | |
| Nachruf | |
| Subkultur | |
| US-Kunst | |
| Beat | |
| Dokumentarfilm | |
| Journalismus | |
| Bob Dylan | |
| Patti Smith | |
| Musik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neues Buch von Piet de Moor: Hier spricht Holden Caulfield | |
| J. D. Salinger war beim D-Day 1944 dabei, besuchte Post-Nazi-Deutschland | |
| und lebte später als Einsiedler. Wie würde er über sein Leben sprechen? | |
| Piet de Moor stellt es sich in „Gunzenhausen“ vor. | |
| Tom Verlaine ist tot: Radar im Dickicht der Großstadt | |
| Er war ein wichtiger Faktor in den Anfängen des New Yorker Punk: Tom | |
| Verlaine, der Gitarrist, Sänger und Songwriter ist gestorben. | |
| Todestag von New York-Ikone Wojnarowicz: Feuer im Bauch | |
| Er war eine große Figur der New Yorker Subkultur: Vor 30 Jahren starb David | |
| Wojnarowicz an den Folgen seiner HIV-Infektion. | |
| Kunsthistoriker über rare Freundschaft: „Generationen treffen aufeinander“ | |
| Ungewöhnliche Freundschaft im New York der 1960er: Der Oldenburger | |
| Kunsthistoriker Tobias Vogt über Barnett Newman und Dan Flavin. | |
| Jack Kerouac zum 100. Geburtstag: Der Trip ins abgrundtiefe Nichts | |
| Der Schriftsteller Jack Kerouac inspirierte die Gegenkultur des 20. | |
| Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag sind zwei Neuübersetzungen erschienen. | |
| Doku über Pogues-Sänger MacGowan: Bier, Zähne und Schalk | |
| Julien Temple porträtiert mit „Shane“ den ehemaligen Sänger der | |
| Folkpunkband The Pogues. Dies gelingt ihm ungeschönt und ohne Verklärung. | |
| Pionierin des Popjournalismus: Die mit den Lemmingen tanzte | |
| Hippie-Mädchen mit vollem Notizblock: Ingeborg Schober schrieb über Pop mit | |
| Begeisterung und genau. Eine Anthologie erlaubt ihre Wiederentdeckung. | |
| Neue Bücher über Bob Dylan: Das Wesen der Klappstühle | |
| Bob Dylan gibt es nur einmal, aber er hat viele Stimmen. Zum 80. Geburtstag | |
| des US-Musikers: ein Wegweiser durch den Dschungel neuer Bücher. | |
| Preis für Menschenrechte und Frieden: Patti Smith rockt Beethoven | |
| Die Rocksängerin, Künstlerin und Aktivistin erhält den Beethovenpreis 2020. | |
| Auch im Rentenalter setzt sich die 73-Jährige nicht zur Ruhe. | |
| Tribute-Album zu Marc Bolan und T. Rex: Die Revolution ist neu arrangiert | |
| Auf „AngelHeaded Hipster“ singen Nick Cave, Lucinda Williams, Gaby Moreno | |
| und andere. Produzent Hal Willner hat sich ein letztes Mal bewiesen. |