| # taz.de -- Neues Buch von Piet de Moor: Hier spricht Holden Caulfield | |
| > J. D. Salinger war beim D-Day 1944 dabei, besuchte Post-Nazi-Deutschland | |
| > und lebte später als Einsiedler. Wie würde er über sein Leben sprechen? | |
| > Piet de Moor stellt es sich in „Gunzenhausen“ vor. | |
| Bild: J.D. Salinger 1953 | |
| Der amerikanische Autor [1][J. D. Salinger] ist natürlich, nicht zuletzt | |
| durch eigenes Zutun, eine ideale Projektionsfläche für Legenden und Mythen | |
| aller Art. Zwei Jahre nach seinem Welterfolg mit dem Pubertätsmelodram „Der | |
| Fänger im Roggen“ zog er sich 1953 nach Cornish, New Hampshire, zurück und | |
| verweigerte bis zu seinem Tod im Januar 2010 jeglichen Kontakt mit | |
| Journalisten, potenziellen Biografen und wohl auch mit Fans. Zumindest die | |
| Biografen hat das nicht davon abgehalten, sich an Büchern über Leben und | |
| Werk des Autors zu versuchen, die Titel wie „Auf der Suche nach J. D. | |
| Salinger“ oder „Das verborgene Leben des J. D. Salinger“ trugen. | |
| Einen anderen Weg der Annäherung hat der belgische Autor Piet de Moor mit | |
| dem Roman „Gunzenhausen“ versucht, im Original schon 2018 bei van Gennep | |
| erschienen und nun in der Übersetzung von Ulrich Faure auch auf Deutsch | |
| vorliegend. De Moor lässt Salinger direkt zu Wort kommen, indem er ihn | |
| seine Autobiografie schreiben lässt. Die ist in drei große Teile von sehr | |
| unterschiedlichem Umfang gegliedert. | |
| Der erste von etwas über zehn Seiten dient dazu, in Form von | |
| Tagebuchnotizen das Leben des Autors bis dahin zu resümieren. Das Ganze hat | |
| einen erkennbar vorbereitenden Charakter. Die letzte Notiz ist vom 5. Juni | |
| 1944, also einen Tag vor dem D-Day, der alliierten Landung in der | |
| Normandie. Salingers Verband landete in Utah Beach, der Tagebuchautor | |
| „Salinger“ – die Autorfiktion gewissermaßen – hält sich aber mit der | |
| Schilderung dieses und der folgenden Tage nicht auf, sondern springt sofort | |
| in den zweiten, den Hauptteil des Buches, der diesem auch im flämischen | |
| Original den Titel gibt: Gunzenhausen. | |
| Im mittelfränkischen Gunzenhausen war Salinger als Nachrichtenoffizier für | |
| das Counter Intelligence Corps (CIC) stationiert. Zu seinen Aufgaben | |
| gehörte das Aufspüren und die Anhörung von Nazis und Mitläufern; er nahm | |
| also aktiv an dem Prozess teil, den wir unter dem Begriff Entnazifizierung | |
| kennen. | |
| Die Gründlichkeit der Recherche führt den Autor auf Abwege | |
| Solange „Salinger“ davon erzählt, kann ich ihm sehr gut folgen, bestätigen | |
| seine Passagen doch alles, was ich aus anderen Quellen schon früh über das | |
| Ressentiment und das Selbstmitleid der Kriegsverlierer gelernt habe. Das | |
| ist anschaulich und präzise geschildert und geht mich außerdem als | |
| deutsches Nachkriegskind (*1948) unmittelbar an, zumal ich in einer | |
| Kleinstadt geboren bin, deren Bewohner bei den Wahlen schon vor 1933 dem | |
| Führer vorauseilend ihre Ehrerbietung erwiesen. | |
| Allerdings nicht so früh wie in Franken, wo Julius Streicher in Nürnberg | |
| schon 1923 das Hetzblatt Der Stürmer gegründet hatte, dessen Verbreitung | |
| vor 1933 sich praktisch auf die Region Mittelfranken beschränkte. In | |
| Gunzenhausen hatte das durchschlagende Wirkung, denn dort fand schon 1934 | |
| das erste Judenpogrom nach der Machtergreifung der Nazis statt. | |
| Auch Piet de Moor, der heute in Berlin lebt, ist Nachkriegskind, allerdings | |
| gehört er keinem Tätervolk an. Im Anhang des Buches findet sich eine | |
| Bibliografie der benutzten Literatur, die von Primo Levi über Victor | |
| Klemperer bis zu Alexander Kluges Lebensläufe und Marcel Reich-Ranickis | |
| Autobiografie reicht. Dieser Autor hat sich sehr gründlich eingearbeitet, | |
| und das ist nicht despektierlich gemeint. | |
| Dennoch ist es gerade diese Gründlichkeit, die ihn zuweilen auf Abwege | |
| führt, etwa in der Schilderung einer (fiktiven) Begegnung mit Victor | |
| Klemperer in einer Dorfkneipe mit dem Namen „Zum Eisernen Hindenburg“. | |
| Zwischen „Salinger“ und dem deutschen Juden, dessen Namen er nicht richtig | |
| versteht, entspinnt sich ein hölzerner Dialog über die neue Vorliebe der | |
| deutschen Frauen für GIs, der allein dazu dient, die Lage nach der | |
| deutschen Niederlage zu charakterisieren. | |
| Ein bisschen Verzicht hätte gut getan | |
| Ähnlich führt de Moor Begegnungen von „Salinger“ mit Erich Kästner und | |
| Stefan Heym herbei. De Moor läuft hier in die bekannte Falle des Autors, | |
| der enorm viel Material zusammengetragen hat und auf die Früchte seines | |
| Fleißes nirgendwo verzichten will. | |
| So kommt es laut „Salinger“ auch noch zu Begegnungen mit dem damals | |
| weltberühmten John Dos Passos und mit dem schwedischen Autor Stig Dagerman, | |
| der in der Tat im Herbst 1946 für eine schwedische Tageszeitung Deutschland | |
| bereiste und dessen Berichte später zu dem Buch „Deutscher Herbst“ | |
| zusammengefasst wurden, das bis heute in Schweden so etwas wie ein moderner | |
| Klassiker ist. | |
| Es ist, als wolle de Moor den Urteilen seines Erzählers durch dieses | |
| Namedropping die nötige Autorität verleihen. Dabei ist das gar nicht nötig. | |
| Mir als Leser würde schon diese Reflexion des Erzählers selbst ausreichen, | |
| um meine antideutschen Neigungen zu bedienen: | |
| „Ich stelle nur fest, dass die Deutschen ihre Vergangenheit so schnell wie | |
| möglich begraben möchten. Die,Stunde null' ist ihre Schöpfung. Am liebsten | |
| wären sie schon zehn Jahre weiter, ohne dass natürlich dieser Sprung auf | |
| das Konto ihrer Lebenszeit angerechnet würde. […] Für sie ist die Zukunft | |
| ein Lappen, mit dem sie die Vergangenheit auswischen.“ Einen pointierter | |
| formulierten Ausblick auf die (west-)deutschen Fünfzigerjahre kann ich mir | |
| kaum vorstellen. Chapeau. | |
| Der Geruch von verbranntem Fleisch | |
| Auch die erzählerischen Rückgriffe im Gunzenhausener Tagebuch auf Salingers | |
| Teilnahme an der fürchterlichen Schlacht im Hürtgenwald können mich | |
| überzeugen. Und de Moor erweist dem wirklichen Salinger auch darin Respekt, | |
| dass er über das furchtbarste Erlebnis des Autors so wortkarg bleibt wie | |
| dieser selbst und sich auf das Zitat von dessen verbürgtem Satz beschränkt: | |
| „Den Geruch von verbranntem Fleisch bekommst du nie ganz aus der Nase, | |
| egal, wie lange du lebst.“ | |
| Der Satz bezieht sich auf Salingers Besuch eines gerade befreiten | |
| Außenlagers des KZ Dachau, in dem die flüchtende SS die Häftlinge in Hütten | |
| eingesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt hatte.„Salinger“ hat in | |
| diesem Krieg seine Reiseschreibmaschine und Teile eines Manuskripts dabei, | |
| an dem er arbeitet und aus dem später „[2][Der Fänger im Roggen]“ werden | |
| sollte. | |
| Er hat zu diesem Zeitpunkt bereits einige Erzählungen in US-amerikanischen | |
| literarischen Zeitschriften veröffentlicht, die Beachtung fanden, auch wenn | |
| er es noch nicht in den New Yorker geschafft hat. Wenn es allerdings um Sex | |
| geht, um sein Verhältnis zu der deutschen Augenärztin Sylvia Welter (die er | |
| heiraten und von der er sich ein Jahr später scheiden lassen wird), liest | |
| sich das, als habe der sechzehnjährige Holden Caulfield himself das | |
| geschrieben: „Ihr Körper ist meine Droge. Sie hat mich von meinem Defekt | |
| geheilt. | |
| Sie macht mich derart an, dass eine Erektion der nächsten im Weg steht, als | |
| tobte in mir die Leidenschaft mehrerer Männer. Bei Sylvia kann ich immer, | |
| obwohl ich keine Ahnung habe, worin das Erfolgsrezept bestehen mag.“ Und | |
| der Leser seinerseits hat keine Ahnung, wie rein technisch eine Erektion | |
| der nächsten im Weg stehen mag. | |
| Der dritte Teil handelt vom Einsiedler „Salinger“ | |
| Der dritte Teil wird von „Salinger“ am 1. Januar 2010 niedergeschrieben, | |
| seinem 91. Geburtstag, knapp vier Wochen [3][vor seinem Tod]. Da lebt er | |
| schon mehr als ein halbes Jahrhundert in seinem Haus in Cornish, mehr oder | |
| weniger als Eremit. Hier liegt natürlich die Crux für alle Biografen und | |
| auch für den Autor Piet de Moor, denn über das Leben eines Eremiten weiß | |
| man wenig bis nichts, und was man nicht weiß, das muss man notfalls | |
| erfinden. Dagegen ist jedoch bei einem Romancier zunächst nichts | |
| einzuwenden. | |
| Es beginnt mit einer – nicht übermäßig larmoyanten – Klage über das Alt… | |
| und den Gesundheitszustand. Von da an kehrt der Text langsam zur Arbeit des | |
| Schriftstellers zurück. Ein Umschreiber sei er, weil ihm nie eine | |
| Geschichte auf Anhieb gelungen sei. Und er berichtet vom Glück, „wenn man | |
| einen Volltreffer von Satz in sich wachsen fühlt und ihn dann wenig später, | |
| noch bebend von der kalten Ekstase, in der er gezeugt wurde, dastehen | |
| sieht.“ Sehr treffend, der Autor de Moor weiß offensichtlich, wovon er | |
| spricht. | |
| Später aber, nach etlichen Seiten über die New Yorker literarische Szene | |
| der Fünfzigerjahre, glaube ich ihm nicht mehr. Denn „Salinger“ macht mehr | |
| oder weniger sein Werk nach dem „Fänger im Roggen“ schlecht und bezeichnet | |
| zum Beispiel „Zooey“ als einen „Missgriff von einer Geschichte“, die nur | |
| aus missglückten Anläufen bestehe, und ein paar Seiten später kommt das | |
| apodiktische Urteil: „Alles, was ich nach 1955 geschrieben habe, ist | |
| Handwerkelei.“ | |
| Damit wären zwei der eigentlichen Meisterwerke von J. D. Salinger, der Band | |
| „Franny and Zooey“ und „Seymour: An Introduction“ vom Autor selbst verd… | |
| worden, die seinem Welterfolg, der Geschichte von Holden Caulfield, weit | |
| überlegen sind, wie natürlich auch die „Nine Stories“. Insgesamt stellt u… | |
| de Moor im dritten Teil seines Buches einen verbitterten alten Menschen | |
| vor, dessen Schreiben das Leben aufgefressen hat. | |
| Ein beliebter Topos des Künstlerromans. Dagegen glaube ich, dass der reale | |
| J. D. Salinger den Wert seiner späteren Arbeiten, auch über die noch | |
| publizierten hinaus, sehr wohl einzuschätzen wusste und in seinem Haus in | |
| Cornish oft zufrieden in sich hineingegrinst hat. Aber das kann ich | |
| natürlich nicht beweisen. Und ich kann auch vom Autor kein anderes Buch | |
| verlangen als das, das er geschrieben hat und welches ich über weite | |
| Strecken sogar gern gelesen habe. | |
| 14 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jochen Schimmang | |
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