# taz.de -- Pionierin des Popjournalismus: Die mit den Lemmingen tanzte | |
> Hippie-Mädchen mit vollem Notizblock: Ingeborg Schober schrieb über Pop | |
> mit Begeisterung und genau. Eine Anthologie erlaubt ihre | |
> Wiederentdeckung. | |
Bild: Die Journalistin Ingeborg Schober | |
Da passte der Portier einen Moment lang nicht auf. Eine Sekunde der | |
Unachtsamkeit, und schon hatte Ingeborg Schober, die Frau, die der Münchner | |
Hotelmitarbeiter für ein Groupie hielt, einen Blick auf die Telefonliste | |
des Hauses erhascht. Wenig später klopfte sie an die Tür der US-Musiker | |
Stephen Stills und Chris Hillman. | |
Anders, als der Portier annahm, war Ingeborg Schober kein Groupie, sondern | |
Journalistin. 1972 sollte sie Stills und Hillman, die damals gerade die | |
Band Manassas gegründet hatten, fürs Feuilleton der Süddeutschen Zeitung | |
interviewen. Zum vereinbarten Termin aber steht sie vor verschlossenen | |
Türen: Offensichtlich wurde die Pressekonferenz abgesagt, ohne ihr Bescheid | |
zu geben. Schober irrt durch die Stadt, telefoniert ihre Kontakte ab, wird | |
von einem windigen Promoter erst aufs Oktoberfest ein- und dann wieder | |
ausgeladen, um Manassas dort zu sprechen. | |
Sie sucht die beiden im Ballsaal eines Luxushotels, findet aber nur | |
„amerikanische Ladys, rosa gepudert mit regenbogenfarbenen Lidern, | |
Abendkleidern wie Eiscreme“. Gerade denkt Schober schon über Bestechung | |
nach („Ob vielleicht 5,- DM helfen?“), als besagter Portier des Hotels, in | |
dem Stills und Hillman abgestiegen sind, kurz die Telefonliste aus den | |
Augen lässt. Schober kriegt ihr Interview. Und die Welt einen | |
unterhaltsamen Text über die (Un-)Sitten im Rockbiz. | |
Die Odyssee, die Ingeborg Schober in ihrer Reportage „Ein langer Weg von | |
Buffalo nach Manassas“ beschreibt, erzählt von anderen Zeiten im | |
Musikjournalismus. Während Pressetage heute meist streng | |
durchchoreografierte Interview-Marathons in Labelbüros sind, konnte ein | |
Schreibauftrag in den frühen 1970ern ein echtes Abenteuer sein. | |
## Unterwegs in einer Männerdomäne | |
In diesen Tagen leistete Ingeborg Schober – geboren 1947 im bayerischen | |
Sonthofen, verstorben schon 2010 – Pionierarbeit in mehrfacher Hinsicht. | |
Nicht nur, dass sie als Frau eine prägende Figur des Musikjournalismus | |
wurde, der damals, mehr noch als heute, eine Männerdomäne war; Schober | |
erkannte auch schon, was neu, gut und eigenständig an Bands wie Can und | |
Tangerine Dream war, als [1][die Genrebezeichnung „Krautrock“] noch einen | |
eher despektierlichen Beigeschmack hatte. Über die Münchner | |
Krautrock-Kommune Amon Düül schrieb sie das Buch „Tanz der Lemminge“ | |
(Rowohlt, 1979), benannt nach einem Album der Band. | |
Die Autorin Gabriele Werth hat Schober, der Patin des westdeutschen | |
Popjournalismus, nun eine Anthologie gewidmet. „Die Zukunft war gestern“ | |
versammelt einige von Schobers wichtigsten Texten und Erinnerungen von | |
Wegbegleiter:innen. | |
Schon Ende der 1960er schrieb Schober ihre ersten Artikel für das | |
Popmagazin HIT, auf einer Schreibmaschine, die sie sich vom Preisgeld eines | |
Drehbuchwettbewerbs gekauft hatte. In München, in den späten 1960ern die | |
Kinohauptstadt der BRD, suchte Schober erst Anschluss an die Filmszene, | |
dann wurde sie freie Mitarbeiterin beim Bayerischen Rundfunk und bald | |
Moderatorin der heute legendären Radiosendung „Club 16“, aus der später | |
„Zündfunk“ hervorging. | |
Die Anthologie beginnt mit einem Auszug aus „Tanz der Lemminge“, der von | |
Schobers Reise nach London im Jahr 1967 erzählt. Drüben in England wie auch | |
in den USA gab es dank Magazinen wie dem britischen Melody Maker und New | |
Musical Express schon eine vitale Musikpresse; in Deutschland hingegen | |
musste das junge Genre erst etabliert, der Rock-Kanon (den viele von | |
Schobers Nachfolger:innen leidenschaftlich zerpflückten) erst | |
geschrieben werden. Schobers Texte für Magazine wie Sounds oder den 1969 | |
gegründeten Musikexpress sind Dokumente aus den sehr frühen Tagen des | |
deutschen Popjournalismus. | |
## Verdammt gute Antworten | |
Manche Texte lesen sich deshalb ein wenig aus der Zeit gefallen. Oft | |
stellte Schober ihren Interviewpartner:innen Fragen, die heute als | |
Rockpresse-Klischees gelten (Woher kommt euer Bandname? Wie wichtig sind | |
für dich Texte?), bekam aber immer wieder verdammt gute Antworten. | |
Dem extravaganten US-Duo Sparks entlockte sie Geschichten über ihre Anfänge | |
als Auftragssänger auf Mormonenpartys. Sie begegnet dem britischen | |
Journalistenschreck Kevin Ayers mit Empathie und Ernsthaftigkeit, weist die | |
allmächtigen Queen in die Schranken und [2][schreibt über Kate Bush im | |
Märchenduktus] („Käthchen, das Buschwindröschen“). Das riecht natürlich | |
nach Verniedlichung und könnte übel missglücken, würde sich Schober Kate | |
Bushs Musik nicht exakt so analytisch wie die von männlichen Kollegen | |
vornehmen. | |
Trotz ihres subjektiven Stils lassen sich Schobers Texte nur bedingt als | |
deutsche Version des erzählerischen „New Journalism“ oder gar des | |
Gonzo-Journalismus betrachten, der den US-Musikjournalismus der 1970er | |
prägte. Während Autoren wie Lester Bangs damals im US-Rolling Stone neben | |
Fachwissen und Leidenschaft auch immer ihren Suchtmittelkonsum ausstellten, | |
blieb Schober die Hippie-Reporterin mit klarem Kopf und vollem Notizblock. | |
Penibel listete sie in ihren Texten Fakten auf, erklärt Szene-Zusammenhänge | |
und Hintergründe. In Zeiten, in denen Popmusik in Deutschland vielen eher | |
als Ärgernis denn als Kulturgut galt, verschaffte sie Rockfans wie auch | |
-Skeptiker:innen durch ihre ernsthafte Chronistinnenarbeit Zugang zu | |
Insiderwissen. | |
Eines hatte Schober mit den Gonzo-Mackern gemein: Sie hatte Street | |
Credibility, war fester Teil der Münchner Szene. In einem Beitrag für die | |
Süddeutsche Zeitung beschreibt Dirk Wagner, wie Schober Rockstars nach | |
Konzerten in die Disco „Sugar Shack“ zum Interview führte. Dort nämlich | |
durfte sie, als Gegenleistung für den hohen Besuch, das Büro als | |
Schreibstube nutzen. Wenige Meter vom Club entfernt übergab sie dann dem | |
Nachtportier der Süddeutschen Zeitung ihre Konzertkritiken. | |
Schober war ein Fan – aber ein unbestechlicher. Als sie nach der eingangs | |
beschriebenen Suche Stephen Stills und Chris Hillman endlich sprechen kann, | |
gibt sie den beiden freundlich zu verstehen, dass sie ihr letztes Konzert | |
ziemlich vergurkt haben. | |
## Demut vor Musik und Publikum | |
Während viele Popkritiker:innen bewusst auf Respektlosigkeit setzen, | |
sprach aus Schobers Texten eine große Demut gegenüber Musik und Publikum. | |
Die Autorin selbst ist in allen Texten so präsent wie diskret in ihrem | |
Auftreten. Nie findet sie sich selbst interessanter als die Menschen, die | |
ihr begegnen, nie degradiert sie Pop zum Soundtrack für Selbsterkundungen. | |
Immer bleibt man dicht an ihrer Seite, vergisst aber manchmal, dass sie | |
überhaupt da ist. | |
Zum Beispiel, wenn man ihr nach Düsseldorf folgt, [3][um Kraftwerk zu | |
besuchen], und am Flughafen plötzlich im Nebel steht; wenn Gedanken über | |
die Stadt die Sicht auf den Maschinensound ihrer Szenebands formen (und | |
umgekehrt); wenn landscapes Aufschluss über soundscapes geben. „Ich blicke | |
aus meinem Hotelzimmer in ein dichtes, milchiges Nichts, aber ich | |
registriere Töne, Klänge“, schreibt Schober. „Sie scheinen in Düsseldorf | |
tatsächlich in der Luft zu liegen – ‚Wellen und Schwingungen‘ würden | |
Kraftwerk sagen. Es muss was dran sein, so elektrisiert habe ich mich schon | |
lange nicht mehr gefühlt, nicht nur, weil ich beim Öffnen und Schließen der | |
Zimmertür ständig eine gewischt bekomme.“ | |
Dass Schober oft beschreibend und immer fair blieb, bedeutet aber nicht, | |
dass ihre Texte keine analytische Kraft haben. In ihrem Essay | |
„Maskulin/Feminin“, der 1980 in der Buchreihe „Rock Session“ erschien, | |
schreibt sie über Pop und Gender, noch bevor der Gender-Begriff in | |
Popdebatten überhaupt eingeführt war. Wenn sie die antimaskuline, | |
antiheldische Ästhetik der Wave-Bewegung betrachtet und die Misogynie des | |
Rolling-Stones-Songs „Under My Thumb“ kritisiert, kann man sich kaum | |
vorstellen, dass dieser Text 40 Jahre alt ist. | |
Trotz dieser Verdienste, trotz ihrer Biografien über Janis Joplin und Jim | |
Morrison erging es Schober wie vielen Frauen, die sich früh im | |
Musikjournalismus behauptet haben – etwa Ellen Willis in den USA und Lilian | |
Roxon in England: Allen, die mit ihren Artikeln und Radiosendungen | |
aufgewachsen sind, ist sie unvergessen, der breiten Masse hingegen kaum | |
bekannt. Ihre (Wieder-)Entdeckung wäre überfällig. Schließlich hätten | |
Portiers Journalistinnen, die in Hotel-Lobbys auf Musiker warten, ohne | |
Ingeborg Schober vielleicht noch länger für Groupies gehalten. | |
15 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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