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# taz.de -- Generation Z mag musikalischen Trash: Britney Spears muss geliebt w…
> Popmusik, die als Trash galt, wird von vielen Jungen ohne ironischen
> Sicherheitsabstand gefeiert. Und nun auch erforscht. Muss das sein?
Bild: Früher nix für Musikliebhaber, heute hip: Britney Spears bei „Wetten …
Es ist kompliziert, über Trash zu sprechen. Wer sich mit Musik beschäftigt,
die viele hassen und noch mehr Menschen lieben, spaziert geradewegs hinein
in die Vorstadt-Mall des Pop. Man befindet sich also an einem Ort, an dem
die Oberflächen noch glänzender sind als anderswo, an dem die Neonreklame
stressig blinkt, an dem alles – durch die bürgerliche
Distinktionshornbrille betrachtet – im Ringen um Glamour und Größe
extrabillig, extragewöhnlich wirkt.
Wer etwas auf sich hielt, ließ sich dort lange Zeit nicht blicken:
Individualität behaupten und Massenware tragen, das passt eben nicht
zusammen.
Oder eher: passte. Denn gerade Millennials und die noch jüngere Generation
Z haben für sich entdeckt und gekapert, was lange als trivial und kitschig
galt. Den [1][US-Mainstream-Superstar Britney Spears] zu lieben gehört
inzwischen eher zur Pflicht als zur Ausnahme.
## Peinliche Popkultur wird erforscht
Social-Media-Kanäle mit Hunderttausenden Followern feiern die Stars der
Nullerjahre, die mit ihrem Hochglanzpop und ihren Teen-Komödien lange als
Inbegriff von Bad Taste galten. Eine Schauspielerin wie Lindsey Lohan, die
noch vor zehn Jahren als gescheitertes Ex-Teenidol verarscht wurde, ist nun
„iconic“, genauso in Vergessenheit geratene Mainstream-Acts wie die
Pussycat Dolls.
Auch und gerade in Deutschland wurde alles, was nach Pop und purer
Unterhaltung aussah, als Trash abgewatscht. Als allerdings vor rund einem
Jahr die Alben der [2][Popband No Angels] erstmals auf Spotify erschienen,
begleitete eine Medien- und Fan-Euphorie diese Veröffentlichung. Nun wurde
die Gruppe beim „Preis für Popkultur“ für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Man geht also sicher nicht zu weit, wenn man sagt, das „Guilty Pleasure“
liegt im Sterben. Vormals peinliche Popkultur wird ganz öffentlich, ganz
unironisch geliebt – und nun auch in Deutschland erforscht.
## „Zeig doch mal die Möpse“
Vor Kurzem hat Marina Schwarz, Musikwissenschaftlerin an der Universität
Leipzig, einen Essayband herausgebracht: „Das verdächtig Populäre in der
Musik. Warum wir mögen, wofür wir uns schämen“ heißt die Sammlung
wissenschaftlicher Texte, in denen sie und viele weitere Autor:innen
Genres untersuchen, denen sich Kolleg:innen aus Forschung und Feuilleton
(und vielleicht sogar Hardcore-Pop-Fans) lange nur mit Sicherheitsabstand
näherten: klischeeverklebten Irish Folk, Musicalsongs, Filmmusik aus dem
seltsamen „Niemandsland“ zwischen Pop und seichter Klassik und sogar die
Neoklassik von Künstlern wie Ludovico Einaudi, die vielen als musikalisches
Raumparfum gilt.
Marina Schwarz selbst widmet sich unter der Überschrift „Schon wieder
besoffen“ dem Endgegner des stilsicheren Musikhörers:
Ballermann-Schlagersound, der vor allem an einem räumlich begrenzten Ort,
dem Ausgehviertel von Palma de Mallorca, unter ganz bestimmten Bedingungen
gehört wird, wie Schwarz analysiert – außerhalb dieser Parallelwelt aber
nicht so recht gesellschaftsfähig ist (und es auch vielleicht, hört man
sich Mickie-Krause-Burner wie „Zeig doch mal die Möpse“ an, auch besser
nicht sein sollte).
## Cultural, Gender, Postcolonial und Queer
Die derben, sexistischen Malle-Hits sind allerdings ein Extremfall.
Grundsätzlich aber, so eine Grundannahme des Sammelbandes, steht das
Populäre eigentlich immer unter Verdacht; es bringt seine Fans wie auch
Erforscher:innen in Verruf. Neu ist, dass heute der „Verdacht
verdächtig geworden“ ist, wie José Gálvez in seinem Beitrag schreibt.
Der Musikwissenschaftler macht in seinem Buchbeitrag unter anderem die
Konjunktur von Bindestrich-Fächern wie Cultural, Gender, Postcolonial und
Queer Studies verantwortlich, den damit zusammenhängenden Erfolg der
Forschungsfelder New und Critical Musicology – und die Etablierung der
Popular Music Studies. Etwas verkürzt könnte man vielleicht sagen:
Wissenschaft hat ihr Interesse an Perspektiven jenseits der
Hegemonialgesellschaft entdeckt und damit auch Musik, die früher von den
Hochkultur-Gatekeepern ignoriert wurde.
## Susan Sontag war schon da
Sich Gedanken darüber zu machen, was guter Geschmack, schlechter Geschmack
und guter schlechter Geschmack ist, ist natürlich keine neue Idee; ebenso
wenig ist es der Kniff, sich mit vermeintlich Grottigem (oder dem, was die
Geschmackswächter gerade dafür halten) von der Masse abzugrenzen. Susan
Sontag widmete sich schon 1964 in ihrem berühmten Essays „Notes on Camp“
der Beschaffenheit von Ausdrucksformen, die viele wohl minderwertig oder
kitschig nennen würden, und ihrer Aneignung unter anderem durch die queere
Szene.
Auch in Deutschland provozierten und provozieren Queers gern mit ihrer
offenen Liebe für Schlager und Eurovision-Kitsch. Eine prominente Rolle
spielte zum Beispiel Christian Anders’ Hit „Geh nicht vorbei“ in
Fassbinders Film „Warum läuft Herr R. Amok?“, wo er in einer Jukebox
gespielt wird.
## Guilty Pleasure ist hochpolitisch
In der Wissenschaft allerdings, selbst in den „Popular Music Studies“, hat
man wirklich populäre Musik lange nicht unter klanglichen Aspekten
erforscht, schreibt José Gálvez. Wie spannend oder relevant man es findet,
scheinbar allzu Simples zu sezieren, darf man nach dem Lesen des Bandes
entscheiden; eine der spannendsten Erkenntnisse aus den Texten ist in jedem
Fall: Guilty Pleasure ist zugleich seicht und hochpolitisch, denn es gibt
Auskunft über Machtstrukturen. Welche Vorlieben man stolz mit der Welt
teilt und welche lieber verschweigt, hängt davon ab, wer gerade den „guten
Geschmack“ diktiert.
Als der Begriff „Guilty Pleasure“ 1860 zum ersten Mal in einer Zeitung
auftauchte, schreibt die Autorin Jennifer Szalai im New Yorker, war damit
ein Bordell gemeint. Die australische Musikwissenschaftlerin Jadey O’Regan
verortet den Ursprung des modernen Guilty-Pleasure-Begriffs – eine
peinliche, uncoole Vorliebe – in den 1980ern.
## „Authentisch“ ist nicht besser
Ein Beitrag im Sammelband handelt von Steven Wilson, einst Sänger der Band
Porcupine Tree und einer der Säulenheiligen des modernen Progrock, der
seine Karriere just in den 1980ern begann. Der Musikwissenschaftler Attila
Kornel beschreibt, wie Wilson 2017 Entsetzen bei seinen Fans auslöste, da
er den ultimativen Verrat am Underground beging: Er ließ sich dazu herab,
im „ZDF-Morgenmagazin“ aufzutreten, und das auch noch mit seinem Album „To
The Bone“. Damit war er bei vielen seiner rocksozialisierten Hörer:innen
durchgefallen, weil die Musik ungewohnt poppig klang. Plötzlich stand
Wilson im Verdacht, sich dem Massengeschmack anzubiedern.
Solchen Urteilen liegt der Glaube zugrunde, dass die als „authentisch“
geltende Rockmusik mehr Wert hat als Pop, dessen Unterhaltungs- und
Warencharakter offensichtlicher ist. Das US-Online-Musikmagazin Pitchfork,
für viele Gradmesser des guten Geschmacks, veröffentlichte kürzlich ein
Special mit Albumrezensionen, die der Redaktion mit einigen Jahren Abstand
unangemessen erschienen.
Darunter waren ziemlich viele Pop-Alben, deren Bewertung nach oben
korrigiert werden musste. Zum Beispiel das titellose Album der Chicagoer
Sängerin Liz Phair, die vor 18 Jahren mit null Punkten abgestraft wurde –
weil es dem Rezensenten nicht passte, dass die frühere Indiesängerin sich
radiofreundlichen Popsongs zuwandte. (Er selbst hatte sich schon vor zwei
Jahren für seine damalige Arroganz entschuldigt.)
## Mit zu viel Inhalt gefüllt?
Die neue, glühende Liebe zum „Guilty Pleasure“ kann man als Zeichen von
Demokratisierung lesen. Denn aus der Ablehnung von bunter Berieselung
spricht auch oft Verachtung für tanzende, extravagante, irgendwie queere
Typen, für angeblich ferngesteuerte Pop-Girls und alle vermeintlichen
Normalos, die zu „so was“ auch noch im Viervierteltakt klatschen. Je mehr
Frauen, People of Colour, Schwarze und homosexuelle Menschen als
Kulturschaffende und Fans zu sagen haben, desto offensichtlicher wird, dass
sich das Verständnis von „guter“ Popmusik lange auf das Schaffen von
ernsten weißen Gitarrenmännern beschränkte.
Camp, Kitsch und Populäre Kultur ernst zu nehmen, trotz oder gerade wegen
der Beliebtheit von Kunst genauer hinzuhören, kann bereichernd sein, birgt
aber auch die Gefahr, mit allzu viel Inhalt füllen zu wollen, was doch
eigentlich vor allem (simple) Form sein mag.
Um zu klären, was „Trash“ überhaupt sein soll, führt Martina Schwarz in …
Einleitung des Bandes einen der „bekanntesten Fürsprecher von Trash“ an:
Oscar aus der Tonne. Der zottelige Diogenes aus der Sesamstraße hortet in
seinem bodenlosen Heimkübel angeblich eine Kunstgalerie und ein Klavier
sowie Gegenstände, die ihm aus persönlichen Gründen wichtig sind. Aber eben
auch: Müll, den er einfach liebt, weil er Müll ist. Manchmal ist es nicht
mehr, aber eben auch nicht weniger.
14 Oct 2021
## LINKS
[1] /Britney-Spears-siegt-vor-Gericht/!5804959
[2] /Comeback-der-Popband-No-Angels/!5772047
## AUTOREN
Julia Lorenz
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