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# taz.de -- Jubiläum von Nirvanas „Nevermind“: 30 Jahre „Vergiss es einf…
> Am 24. September 1991 erschien „Nevermind“. Das zweite Album der US-Band
> Nirvana hat sich bis heute 30 Millionen Mal verkauft. Ein paar
> Erinnerungen.
Bild: Nirvana am 20. August 1991 in London
## Vielheit der Wünsche, Straucheln der Feinfühligen
Aus Gründen der Distinktion ziemt es sich ja für Kinder der Achtziger, zu
behaupten, dass man „Nevermind“ in der Nuckelflasche hatte, von der
Nirvana-Milch genährt wurde. Echte Musikliebhaber:Innen haben geweint
als Cobain sich 1994 das Leben genommen hat – ich aber nicht. Tatsächlich
hieß der Rock, der in meinem Elternhaus lief, nicht etwa Grunge, sondern
Latin (Santana); statt Cobain hörte meine Mutter [1][Take That und Gary
Barlow]. Mein Vater trug einen Schnäuzer, auch wegen Freddie Mercury von
Queen. In meinem Fernseher gab es Eurodance/-Trash, Techno und Bravo TV.
Ganz ehrlich: Mein Leben wurde nicht von Nirvana verändert – jedenfalls
1991 noch nicht. Auch bei meinen ersten Jugenddisko-Erfahrungen, dann auf
Kufen in der Eishalle, war keine Spur von Dave Grohl, nichtmal von Hole. DJ
Navid spielte 2-Step, Craig David und den „Thong Song“, während wir alle
Leuchtmittel-Fischköder im Mund jonglierten.
Call me a Late-Bloomer, aber Nirvana tauchte erst in den Parks auf, die wir
nach der Schule Mitte der 1990er besiedelten. Meine Schulkolleg:Innen
rauchten Gras, spielten das MTV-Unplugged-Konzert von Nirvana rauf und
runter, wir alle sangen dazu. Hippie-Dreams im Grunge-Gewand. Während aber
MTV auch etliche Male eine Sendung namens „On Drugs“ ausstrahlte, in der
die Lebenskrise von Kurt Cobain nachgezeichnet wurde – mehr Karikatur als
liebevolles Porträt –, hörte ich halt Propaghandi, Black Flag, „richtigen
Punk“.
Mit 21 schlitterte ich in eine schwere depressive Episode, bekam
Angstzustände – und der Sound von Nirvana und ihrem Album „Nevermind“
entfaltete seine ganze Bedeutung. Hinter dem Mythos Cobain, der uns
jahrelang durch die Medien vermittelt worden war, erschien der gefühlvolle
Songwriter, der hadernde Mensch, der unter psychosomatischen Schmerzen litt
– kein verrrückter Drogensüchtiger, sondern ein … Vorbild after all?!
Nirvana waren eine Band, die in ihrer Existenz von Anfang an um Freiheit
und um die Vielheit der Wünsche, der Begierde, der Liebe kämpfte – und in
dieser Welt, die so eingerichtet ist, einfach nicht glücklich werden
konnte. Novoselic, Grohl und Cobain waren der Beweis, dass feinfühlige
Menschen besonders häufig straucheln, dass sie das Gefühl haben, gestraft
zu sein; vor allen Dingen aber, dass es irgendwie auch okay ist, an
Depressionen zu leiden – nicht gut, aber okay! (Lars Fleischmann)
## Süße Momente kennzeichnen Liebe zum Pop
Wenn es eines gibt, das viele jugendliche, unverstandene Nirvana-Fans
gewaltig empören dürfte, dann wäre es wohl: die Behauptung, dass
„Nevermind“, der wichtigste Wutausbruch der 1990er Jahre, der heilige Gral
des heiligen Ernstes, eigentlich ein Popalbum ist.
Geht es um „Nevermind“, bleibt selten unerwähnt, dass das Album wenige
Wochen nach Veröffentlichung im Januar 1992 symbolträchtig Michael Jackson
von der US-Chartspitze verdrängte. Denn „Smells Like Teens Spirit“, so
wollten und wollen es viele sehen, fegte gleich zwei Relikte der 1980er
hinweg: Stadionrock und Hochglanzpop – alles Aufgeblasene also. Und mit
mindestens der Hälfte dieser Annahme tut man dem Album sehr unrecht.
Während nämlich der erklärte Feminist Cobain – trotz oder gerade wegen
seiner exponierten Rolle in der brünftigen Grunge-Bewegung – immer wieder
versuchte, klassische Männlichkeitsbilder im Rock zu unterlaufen, den
saturierten Gitarrendudes seiner Jugend also durchaus den Kampf ansagte,
machte er nie ein Geheimnis aus seiner Liebe zu Pop, Verspielt- und
Weichheit. Immer wieder nutzte er seine Reichweite, um für Bands wie die
sanften [2][Mazzy Star] oder die Vaselines zu werben.
Auch das zentnerschwere „Nevermind“ hat seine süßen und leichten Momente.
So erbarmungslos Songs wie „Stay Away“ und „Breed“ losprügeln, so
unüberhörbar ist der Pop-Appeal von „Drain You“ (und ja, auch „Smells L…
Teen Spirit“). Der fuzzy Sound des Nirvana-Debütalbums „Bleach“ wurde von
Butch Vig, der sich mit „Nevermind“ als Produzent unentbehrlich machte, zum
großen Paradoxon zurechtproduziert: Es war polierter Schmutz, ein Album der
zwingenden, verführerischen Songs, vermarktet mit einem Titel wie ein müdes
Abwinken: „Nevermind“ – zu Deutsch: wie auch immer, vergiss es, schon gut.
Was im Kult um den Nihilismus des Albums oft übersehen wird, ist der Witz
an der ganzen Weltschmerz-Chose. Der offenbart sich zum Beispiel, wenn
Cobain in „Lithium“ seinem Lamento über die eigene Hässlich- und
Grässlichkeit einen Refrain folgen lässt, der so doof ist, dass niemand
völlig ernst bleiben muss: Yeah, yeah, yeaaaaaah.
Allerdings täuschte der Pop, die Eingängigkeit von „Nevermind“ im Gegenzug
auch über das verstörende Potenzial vieler Songs hinweg. Sei, wie du sein
willst, ermutigt Kurt Cobain sein Gegenüber warm im ikonischen „Come As You
Are“ – ich schwöre, dass ich keine Waffe habe. Unheimlicher sollten
Treueschwüre zur besten MTV-Sendezeit nicht mehr werden. (Julia Lorenz)
## Hang zu Strickjacken, Hang zum Weltschmerz
Nicht behaupten kann ich leider, dass die Veröffentlichung von „Nevermind“
im September 1991 besonders viel Eindruck auf mich gemacht hätte. In meiner
Grundschulklasse stand eine andere Band weit höher im Kurs, die nur eine
Woche zuvor ein Album, besser gesagt: ein Doppelalbum veröffentlicht hatte:
[3][Guns 'N’Roses] beziehungsweise „Use Your Illusion I & II“ liefen bei
mir vor 30 Jahren auf dem Kassettenrekorder und CD-Player rauf und runter.
Auf beidem, denn ich hatte „Use Your Illusion I“ noch auf Kassette, „Use
Your Illusion II“ war meine erste eigene CD. Als Entschuldigung für diese
Ignoranz kann ich eigentlich nur mein junges Alter vorbringen.
Ziemlich bezeichnend ist es retrospektiv, dass diese zwei – oder drei –
Alben quasi zeitgleich veröffentlicht, auf demselben Label sogar, ein
merkwürdiger Moment in der Rockgeschichte, in der sich Vergangenheit und
Zukunft des Genres die Klinke in die Hand gaben. Guns N’Roses waren mit
ihrem kommerziellen, röhrenden Glam eigentlich noch ein Überbleibsel der
1980er, mit ihren vor Haarspray klebrigen Mähnen, ihren Bandanas, ihren
Lederwesten auf dem nackten Oberkörper, mit ihren jaulenden Gitarren, ihrer
Höhlenmenschenattitüde, ihrem Machismo.
Nirvana waren anders schlecht frisiert, brachten vor allem eine völlig neue
Sichtweise auf das Leben wie das Musikbusiness mit – und modisch eine
Vorliebe für Ringelshirts, ausgeleierte Strickjacken und bescheuerte
Sonnenbrillen aus dem Secondhandladen. In ihrem Hang zur Selbstzerstörung
ähnelten sie sich dann aber wieder gewissenmaßen, nur dass diese bei den
einen auf Exzess, bei den anderen auf Weltschmerz gründete. Axl Rose, so
heißt es, sei anfangs sogar Fan von Nirvana gewesen.
Im Video zu „Don’t cry“, dem ersten Teil der ikonisch-überfrachteten
Musikvideotrilogie von Guns N’Roses, ist er mit einem himmelblauen
Nirvana-Basecap zu sehen, in der Szene, in der Supermodel Stephanie Seymour
die Therapeutin mimt, liegt es neben Rose auf der Couch. Cobain erwiderte
diese Liebe jedoch nicht. Einladungen zur gemeinsamen Tour schlug er aus,
bezeichnete Guns N’Roses als sexistisch – zu Recht, zweifellos. Der Streit
eskalierte 1992 bei den MTV Video Music Awards, was sich auf zahllosen
Fanseiten im Netz nachlesen lässt. Wann genau ich selbst ins Nirvana-Lager
wechselte, kann ich nicht wirklich datieren, wahrscheinlich ungefähr zu
dieser Zeit. Jedenfalls stellte ich noch vor „In Utero“ – dem Album nach
„Nevermind“ – fest, dass Grunge sich sehr viel besser als Soundtrack für
meine präpubertäre Melancholie eignete. „Use Your Illusion I & II“
verstaubten seitdem. (Beate Scheder)
## Schrilles Feedback verebbt in medialer Dauerschleife
Viel deutlicher als die unangenehm patriotischen Bilder der
Wiedervereinigung habe ich Kurt Cobain vor Augen, mit Gitarre zwischen
Verstärker und Mikrofon auf der Bühne hin und her torkelnd, im November
1989, als Nirvana in einem Landgasthof tief in Niederbayern gastiert
hatten. Statt Dave Grohl trommelte noch Chad Channing, Nirvana spielten
ihre Songs ohne viel Federlesen, die metallische Härte und das schrille
Feedback taten weh. So laut wie an jenem Abend muss sich das Purgatorium
anfühlen.
Zum Majorlabeldebüt „Nevermind“ pflege ich dagegen ein Nichtverhältnis. Es
wurde mir als Promotionexemplar zugesandt, oft gehört habe ich es nicht.
Der Auftaktsong „Smells like Teenspirit“ lief damals pausenlos im Radio,
das dazugehörige Video bekam bei MTV Powerplaystatus. Der PR-Rummel war
enorm. Die Band sei ein „Flotter Dreier“, der „knallharte Hardrock-Riffs
mit Punkdynamik“ verknüpft, meint der Waschzettel der deutschen
Plattenfirma BMG eklig ironisch, die Attitude von Nirvana sei
„Hardrock-Punk mit Pop“.
Rein musikalisch betrachtet war diese Mixtur anlässlich der
Veröffentlichung im September 1991 nicht mehr de rigeur. Anders als beim
Konzert knapp zwei Jahre zuvor klang Cobains Gesang gefühliger und seine
Stimme war prominenter im Mix. Vorher übertönte ihn das Berserkern der
Instrumente. Cobain blieb so als Person unnahbar. Auf dem Debütalbum
„Bleach“, veröffentlicht vom Indielabel Sub Pop, ist nur ein Negativ der
Band abgedruckt, man sieht Haare und Gitarren. Durch „Nevermind“ bekam
Cobain ein Gesicht.
Der britische Kulturkritiker Jon Savage konstatierte, dass Punk in den USA
erst durch den Mega-Erfolg von „Nevermind“ mit großer zeitlicher Verspätu…
landesweit zum Mainstream-Phänomen werden konnte. Anders als bei der
[4][Skandalisierung der Sex Pistols] als maskuline Antihelden im
Großbritannien von 1976 sorgte 1991 die Apathie der Künstler für Aufsehen.
Nirvana waren keine stachelhaarigen Alphamännchen, sondern softe, androgyne
Hänger. Ihre Aggression war passiv.
Nirvana-Songs läuteten das Ende von machistischem Rock ein. Allerdings
erzeugte die mediale Dauerschleife bei den Künstlern Stress. Damals hieß
es, sie säßen am liebsten auf dem Sofa, tränken Dosenbier und schauten
Wiederholungen von Trash-TV-Serien. Plötzlich waren sie selbst zur
Primetime im Fernsehen, und dieser Transfer ging nicht glatt.
Mit ihrem Wechsel vom Indielabel Sub Pop zum Plattenmulti Geffen wurde aus
der ökonomischen Bezeichnung Indie plötzlich „Alternativesound“ im
Mainstream. Die Vermarktungsmaschinerie war unerbittlich und beschleunigte
die Selbstzerstörung von Kurt Cobain. (Julian Weber)
23 Sep 2021
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## AUTOREN
Lars Fleischmann
Julia Lorenz
Beate Scheder
Julian Weber
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