# taz.de -- Teenage Fanclub über Pandemie, Politik und Musik: „Eine Polarisi… | |
> Teenage Fanclub haben ein neues Album. Norman Blake und Raymond McGinley | |
> über Lockdowns, die schottische Unabhängigkeit und obszöne | |
> Streaming-Zahlen. | |
Bild: „Dieses Virus ist ein globaler Gleichmacher“: die Bandmitglieder von … | |
Die bizarre Intimität von Zoom-Interviews: An einem sonnigen Frühlingstag | |
in Glasgow sitzt Norman Blake hibbelig in seinem Auto am Ufer des River | |
Clyde. Gerade hat er seine Tochter zum Gericht gefahren, wo sie als Zeugin | |
aussagt. Wenige Kilometer entfernt nimmt sein Bandkollege Raymond McGinley | |
vor einem Eichenschrank in seinem Haus Platz. Vor wenigen Tagen ist | |
„Endless Arcade“ erschienen, das neue Album ihrer Band Teenage Fanclub. Zum | |
Auftakt erklingen sieben Minuten erhabene Melancholie: Der Song „Home“ | |
erzählt davon, morgens mit dem Bewusstsein aufzuwachen, dass sich das Leben | |
grundlegend geändert hat. Norman Blake singt darin von der Sehnsucht nach | |
anderen Menschen. | |
taz: Warum startet Ihr neues Album mit einer „Homeoffice“-Ballade? | |
Norman Blake: Nach mehr als einem Jahr im Lockdown und einem für die | |
allermeisten Menschen drastisch geschrumpften Bewegungsradius könnte man es | |
so lesen, ja. Komponiert habe ich den Song schon vorher, in einer für mich | |
schwierigen Lebensphase, in der ich nicht zu Hause sein konnte und vieles | |
daran sehr vermisst habe. | |
Im Refrain von „Endless Arcade“ empfehlen Sie „Don’t be afraid of this | |
life“, ein anderer Song heißt „Everything Falls Apart“. Kann Musik die | |
Isolation der Menschen überhaupt lindern? | |
Raymond McGinley: Wir suchen in Musik, wie in jeder Kunst etwas, das für | |
uns relevant ist. Egal ob ein Stück kurz vor der Pandemie oder vor 200 | |
Jahren auf einem Acker in Sussex entstanden ist, man baut nur dann eine | |
Verbindung dazu auf, wenn man etwas davon auf sich selbst beziehen kann. | |
Wir machen es den Leuten dabei ziemlich einfach, [1][weil wir über | |
grundlegende Dinge singen]: Emotionen, Beziehungen, unsere Existenz. Wenn | |
diese Pandemie überhaupt etwas Gutes hat, dann vielleicht, dass sie | |
Menschen in einer Situation und mit einer wichtigen Erkenntnis vereint: Wir | |
sind keine Superhelden, die Natur hat uns immer noch allesamt im Griff. | |
Blake: Ich finde die interpretatorische Dominanz von Covid-19 vollkommen | |
verständlich. Gab es jemals einen Moment in der Geschichte der Menschheit, | |
der jeden Einzelnen auf dem Planeten in gleicher Weise betroffen hat? | |
Dieses Virus ist ein globaler Gleichmacher. | |
Im Video zu „Home“ spielen Sie als Band auf Stühlen im Kreis sitzend auf | |
der Bühne eines leeren Theaters. Der proaktive Umgang mit der | |
Unmöglichkeit, Konzerte zu geben? | |
McGinley: Wir haben kein Pandemievideo gedreht, wir wollten nur zusammen | |
Krach machen. Und wir haben mit dem Setting die Bandszene aus dem | |
britischen Film „O Lucky Man“ von 1973 kopiert. Da spielt Alan Price in | |
einem kontextlosen Raum und kommentiert den Film. Aber natürlich, es gibt | |
diesen globalen, alles dominierenden Kontext namens Covid. | |
Lindsay Andersons Spielfilm „O Lucky Man“ ist schlaue Kapitalismuskritik, | |
verkleidet in eine britische Musical-Komödie. Hadern Sie mit dem System? | |
Veröffentlichung verschoben, Tour abgesagt: Wie viel der fehlenden | |
Einnahmen hat zusätzliches Streaming wettgemacht? | |
McGinley: Da muss ich nur sehr kurz überlegen: null. Die Zahlungen sind | |
vermutlich vom üblichen „fast nichts“ auf etwas mehr als „fast nichts“ | |
gestiegen. Für zehn Pfund im Monat alle jemals veröffentlichte Musik hören | |
zu können, das Angebot ist obszön. Für Hörer:Innen mag es ein | |
Schnäppchen sein – für Bands bedeutet es, dass man froh ist, wenn Alben | |
ihre Kosten einspielen. | |
Blake: Ich erinnere mich, wie mir in den 1980ern [2][die Musik von Captain | |
Beefheart] vorgespielt wurde. Danach habe ich mühsam versucht, seine Alben | |
aufzutreiben. Kompliziert und teuer. Heute bekomme ich alles mit einem | |
Klick. Bis auf sein Meisterwerk „Trout Mask Replica“. | |
Früher haben Sie bei jeder Gelegenheit die erhabene Schönheit der Musik von | |
Alex Chilton gepriesen. | |
Blake: Den kann ich immer noch jeden Tag hören. Aber Beefhearts „Clear | |
Spot“ etwa hat diesen funkigen, souligen Gitarrensound, den ich innig | |
liebe. | |
Wen kennenzulernen war für Sie wichtiger: Kurt Cobain oder Alex Chilton? | |
Blake: Wir sind mit Nirvana 1992 getourt, in einer Zeit, als sie sehr | |
schnell sehr berühmt wurden, und dabei wurde Kurt zum Freund. Mit Chilton | |
standen wir zusammen auf der Bühne, haben dabei eine Menge von ihm gelernt. | |
Das hatte für mich eine andere Qualität. | |
Glasgow hat eine lange Poptradition: Bands wie Orange Juice und das Label | |
Postcard Records haben in Deutschland viele Fans. Was bedeutet Ihnen dieses | |
Erbe? | |
Blake: Postcard war schon deshalb wichtig, weil das Label zu Schottland | |
steht. Auch die Simple Minds kommen von hier, aber sie sind sofort nach | |
London abgehauen, um Karriere zu machen. Postcard vermittelte das Gefühl, | |
dass wir doch mehr sind als nur Provinz. | |
McGinley: Postcards ästhetisches Selbstvertrauen hat der Szene hier Mut | |
gemacht: Es war dann okay, [3][zugleich Punk und Funk zu mögen]. Als junge | |
Band zeigte uns das: Wir brauchen niemanden um Erlaubnis fragen. | |
Könnte man heute als schottische Band noch ein Album mit dem Titel „Songs | |
from Northern Britain“ veröffentlichen? | |
McGinley: Beim Erscheinen 1997 wirkte Großbritannien noch geeinter. Auch | |
England und Schottland lagen näher aneinander. Wir fanden den Titel lustig, | |
weil wir wussten, dass die Leute etwas hineinprojizieren würden. Fast 25 | |
Jahre später ist uns das Lachen vergangen. Die Menschen finden immer neue | |
Trennungslinien: geografische, politische und kulturelle. | |
Blake: Diese Spaltung ist deprimierend, denn sie läuft auch in Schottland | |
quer durchs Land. Historisch wurden große Veränderungen wie | |
Unabhängigkeitsbewegungen von einer breiten Mehrheit getragen, etwa in den | |
früheren Sowjetstaaten. Im Streit über die schottische Unabhängigkeit, | |
genau wie beim Brexit, gibt es keine klare Mehrheit, nur zwei etwa gleich | |
große, kaum kompromissbereite Lager. Eine ähnliche Polarisierung wie in den | |
USA. Und darüber geraten die großen Themen – Gesundheit, Bildung, | |
Klimawandel – aus dem Blick. | |
McGinley: Politik ist von einer pragmatischen Diskussion zu einem | |
romantischen Stellungskrieg geworden. Natürlich habe ich nicht für den | |
Brexit gestimmt, weil ich es im Grunde albern fand. Aber viele Menschen auf | |
beiden Seiten identifizieren sich vollständig mit diesen gegensätzlichen | |
Positionen, die oftmals romantische Ideen sind und kaum irgendetwas mit | |
alltäglichen gesellschaftlichen Problemen zu tun haben. | |
Gibt es noch Hoffnung, dass nach den Regionalwahlen kein zweites | |
Unabhängigkeitsreferendum vorbereitet wird, um den gesellschaftlichen Riss | |
nicht noch weiter zu vertiefen? | |
McGinley: Manchmal denke ich, wir sollten dieses Referendum gleich morgen | |
abhalten, damit wir endlich über etwas anderes reden können. Aber ich bin | |
sicher, dass sich nichts ändern würde. Die unterlegene Hälfte würde auf ein | |
weiteres Referendum drängen, und dann noch eins. Mir persönlich ist die | |
Verfassungsfrage im Grunde egal. Ich glaube nicht, dass ein Vereinigtes | |
Königreich einem unabhängigen Schottland oder eigenständigem England | |
moralisch überlegen wäre. Umgekehrt natürlich auch nicht. Vielleicht sollte | |
England darüber abstimmen, ob sie unabhängig werden wollen. | |
Blake: In Kanada geht das mit Quebec seit Jahren so. Sie nennen das | |
inzwischen Neverendum. | |
Über Ihr ehemaliges Label Creation gibt es nun den Dokfilm „Creation | |
Stories“. Darin wird Label-Gründer Alan McGee als aufgekratzter, | |
hyperaktiver Schotte in London mit Macher-Syndrom und hohem Drogenkonsum | |
charakterisiert. | |
Blake: Das klingt nah an der Wahrheit. Alan war Impulsgesteuert, | |
Businesstrategie hat er keine, aber er glaubte an seine Bands. Als wir 1991 | |
für „Bandwagonesque“ im Studio waren, nahmen parallel Primal Scream | |
„Screamadelica“ und My Bloody Valentine „Loveless“ auf. Die Studiokosten | |
waren astronomisch, das Label nahezu pleite. McGee und sein Kompagnon Dick | |
Green haben die Rechnungen mit Hypotheken auf ihre Eigentumswohnungen | |
bezahlt. Wären die Alben gefloppt, die beiden hätten sich gehackt hinlegen | |
können. | |
McGinley: In den USA standen wir in den 1990ern beim Major Geffen unter | |
Vertrag und der kulturelle Unterschied zu England hätte größer nicht sein | |
können. Wenn wir dort zum Mittagessen Bier bestellten, stand in jedem | |
Label-Gesicht die Frage: Oh, was hat er nur für Probleme!? Bei einem | |
Meeting in L.A. sollte Geffen mit Creation sprechen. In London war es 11 | |
Uhr morgens, aber es dauerte ewig, bis jemand ans Telefon ging. Nur um | |
gegen sehr laute Musik anzubrüllen: Hier ist heute Feiertag: Alan hat | |
Geburtstag, wir schmeißen eine Party. | |
Gab ’s mal einen Moment in der Karriere von Teenage Fanclub, in der Sie | |
lieber wieder Straßenmusik in Glasgow gemacht hätten? | |
Blake: Nein, Höhepunkt der Straßenmusik in Glasgow war der Auftritt von | |
Neil Young inkognito Mitte der Siebziger vor der Bank of Scotland. Danach | |
ging’s bergab. | |
McGinley: Ist einige Jahrzehnte her, seit ich das zuletzt gemacht habe. Wir | |
spielten Syd-Barrett-Songs, aber die Passanten hatten keinen Sinn für die | |
künstlerische Vision eines genialen LSD-Opfers. Wir bekamen nicht einen | |
Penny. | |
8 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Danger-Dan-ueber-Solidaritaet/!5768195 | |
[2] /Kevin-Coyne-zum-75-Geburtstag/!5567886 | |
[3] /Schorsch-Kamerun-ueber-seine-Biografie/!5282801 | |
## AUTOREN | |
Gregor Kessler | |
## TAGS | |
Musik | |
Indie | |
Kapitalismuskritik | |
Schottland | |
Singer-Songwriter | |
Schwerpunkt Brexit | |
Pop | |
Kurt Cobain | |
Neuseeland | |
Chile | |
Folk Music | |
USA | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Schottische Popband Belle and Sebastian: „Aus jedem Tag das Beste machen“ | |
Die Popband Belle and Sebastian macht sich auf ihrem neuen Album Gedanken | |
übers Alter. Ein Gespräch über alternde Musiker und einen Song für die | |
Ukraine. | |
Biografie über Britband TV Personalities: Der Wäschebote mit heimlichen Hits | |
„Dreamworld“ von Benjamin Berton ist eine ergreifende Biografie der | |
britischen Band Television Personalities und ihres tragischen Helden Dan | |
Treacy. | |
Jubiläum von Nirvanas „Nevermind“: 30 Jahre „Vergiss es einfach“ | |
Am 24. September 1991 erschien „Nevermind“. Das zweite Album der US-Band | |
Nirvana hat sich bis heute 30 Millionen Mal verkauft. Ein paar | |
Erinnerungen. | |
Neues Album von The Chills: Straucheln und Berappeln | |
Die neuseeländische Gitarrenpopband The Chills trotzt persönlichen Krisen – | |
und bietet auf ihrem neuen Album „Scatterbrain“ außerirdisch schöne Songs. | |
Sänger der Manic Street Preachers: 100 MPs und eine Huldigung | |
James Dean Bradfield, Sänger der Popband Manic Street Preachers, | |
veröffentlicht eine gelungene Hommage an den chilenischen Sänger Victor | |
Jara. | |
Neues Album von Shirley Collins: Liebe, mehrere Oktaven tiefer | |
Einfach und direkt: Das Comeback der großartigen britischen Folksängerin | |
Shirley Collins geht mit dem Album „Heart's Ease“ weiter. | |
Neues Album der Band Wilco: Geradlinige Freude | |
Wohin marschiert dieser Zug? Die Band Wilco aus Chicago testet in „Ode to | |
Joy“, was in ausufernder US-Rockmusik noch für Leben steckt. |