# taz.de -- Die Sex Pistols und die Stranglers: No Future – und was daraus wu… | |
> Ständig fliegen die Fetzen: John Lydon, Sänger der Sex Pistols, hat seine | |
> Autobiografie geschrieben. Allerdings waren die Stranglers reflexiver. | |
Bild: Kriegt die Punkfrisur auch heute noch ganz gut hin: John Lydon. | |
„Kennt Ihr das Gefühl, verarscht worden zu sein?“, lautet die sarkastische | |
Coda von Johnny Rotten beim letzten Konzert der Sex Pistols im Januar 1978 | |
in San Francisco, als er von der Bühne herunter die Auflösung bekannt gibt. | |
Zur Legende geworden, wie der wüste Auftritt, wie jede Polemik Rottens in | |
der knapp dreijährigen Karriere der berühmt-berüchtigten britischen | |
Punkband The Sex Pistols, deren Sänger er ist. | |
In seiner zusammen mit dem Journalisten Andrew Perry entstandenen | |
Autobiografie „Anger is an Energy“ hält sich Lydon, so sein bürgerlicher | |
Name, nur kurz mit den Ereignissen jenes Abends auf. Verarschen kann er | |
sich selbst, also schildert er ausführlicher, was im Anschluss geschah: Das | |
21-jährige Bleichgesicht reist zusammen mit Gwen Dickey, Sängerin der | |
US-Funkband Rose Royce, deren Managerin und ihrem Kind im Wohnmobil durch | |
Mexiko. Zwei schwarze Frauen, ein Baby und ein stachelhaariges Alien, was | |
für eine Kombination. „Wir haben ordentlich für Aufsehen gesorgt.“ | |
„Never Mind the Bollocks“, das erste und einzige Studioalbum der Sex | |
Pistols, wird ihr Vermächtnis bleiben. Gibt es eine ähnlich einflussreiche | |
Band, die es auf nur ein Album bringt, fragt Lydon rhetorisch. Zorn ist | |
sein Antrieb, und die Blaupause des Punk steckt in den elf Songs: In den | |
Texten unbändiger Zorn darüber, was Pop zuvor darstellt. Als hätte er Paul | |
Feyerabends „Wider den Methodenzwang“ gelesen, spuckt Lydon in die Suppe, | |
begehrt auf gegen die Apathie der britischen Gesellschaft und verachtet die | |
Innerlichkeit der Hippies. „There’s no future / in England’s dreaming“.… | |
dazugehörige Sound, stumpf wie nur was, wendet sich notwendig hin zum | |
primitiven Gestus von Rock ’n’ Roll. Im Buch beschreibt er diese Umwälzung | |
auch für jüngere Leser nachvollziehbar. | |
Von der Negativfolie des Punk sollte 25 Jahre nach dem Ende der Band sogar | |
noch das Intrigenfeuilleton zehren, diese für sich zu vereinnahmen suchen, | |
um die 68er endgültig zu verbannen. Umso schöner, dass „Anger is an Energy�… | |
mit einigen Klischees und Behauptungen aufräumt – etwa der, dass Lydon und | |
die anderen Ur-Punks homophobe und rassistisch motivierte Aversionen gegen | |
Andersdenkende gehegt hätten. Zu erfahren ist, dass Lydon und seine Kohorte | |
in den Siebzigern regelmäßig in Schwulen-Clubs gegangen sind, dort sei die | |
bessere Musik (Soul und Disco) gelaufen, schreibt er und charakterisiert | |
sich als leidenschaftlichen Tänzer. | |
Punk war mitnichten der Urschrei, vorher begeisterte sich Lydon für den | |
Blues-Freejazz-Prog eines Captain Beefheart, den Glam von T. Rex und den | |
Funk der Fatback Band, alles keine Archetypen von machistischem Mainstream. | |
Und kurz nach dem Ende der Pistols gründet er Public Image Limited (PIL), | |
eine tolle, Dub und Disco zugeneigte Postpunkband, mit der er seine | |
gebetsmühlenhaften Texte noch schneidender rüberbringt. | |
## „Freundchen, dich kann ich nicht ausstehen!“ | |
Ausführlich kommentiert Lydon auch die Arbeitsweise der britischen Medien, | |
die ihn zum Feindbild erklären. Dass er in der Presse runtergeschrieben | |
wurde, hat zu seiner Mythenbildung beigetragen. Bis heute erwidert Lydon | |
diese Animositäten, sieht sich angesichts von Abhörskandalen moralisch im | |
Recht. Was Lydons Abneigung gegen Journalisten bedeutet, erfährt auch | |
dieser Autor, mit dem der Brite anlässlich einer geplanten PIL-Tour | |
gesprochen hat. Anger is an Energy: Mit den Worten „Freundchen, dich kann | |
ich nicht ausstehen!“ beendet er das Gespräch. | |
Traumatisiert wurde Lydon nicht erst in seiner Rolle als Sündenbock. | |
Paranoia ist bei ihm keine Pose. Als Zwölfjähriger an Meningitis erkrankt, | |
verliert er zeitweilig sein Gedächtnis, kämpft sich mühsam zurück, Bücher | |
lesen hat ihm beim Kampf gegen Ausgrenzung geholfen. Diese | |
Außenseitererfahrung prägt seine Weltsicht, härtet ihn ab, auch gegen den | |
Sturm der Entrüstung, der auf die Sex Pistols hereinbrechen sollte. | |
Lydon wird überleben, anders als John Simon Ritchie alias Sid Vicious, der | |
1977 von Glen Matlock den Bass bei den Pistols übernimmt und sich im Jahr | |
nach der Pistols-Auflösung 1979 per Überdosis das Leben nimmt, nachdem er | |
zuvor mutmaßlich seine drogensüchtige Freundin Nancy Spungen in New York | |
erstochen hat. Von Vicious verabschiedet sich Lydon gebührend. Wobei, er | |
selbst wird nicht müde, den Gebrauch von Amphetaminen zu propagieren. | |
„Mein Leben unzensiert“, so der Untertitel seiner Memoiren, klingt wie eine | |
Drohung. Es finden sich auch Kapitel mit rührseligen Familiengeschichten. | |
Die Liebe zu seiner deutschen Lebensgefährtin Nora ist im Stile einer | |
Rosamunde-Pilcher-Schmonzette aufgeschrieben. „No Feelings“ heißt ein Song | |
auf „Never Mind the Bollocks“, nun schaltet Lydon auf Kuscheltyp. | |
## Nur Hohn und Spott | |
Der Begriff Situationismus fällt hingegen nicht. Für den 2010 verstorbenen | |
Pistols-Manager Malcolm McLaren und dessen Exfreundin, die Modedesignerin | |
Vivienne Westwood, hat er nur Hohn und Spott übrig. Giftet auch gegen den | |
Punk-Chronisten Jon Savage, die eigenen Bandkollegen und die Konkurrenz: | |
Man mag das als Reaktion auf die tumultuösen Ereignisse der Siebziger zwar | |
verstehen, auf Dauer ermüden diese Tiraden. | |
Erfrischend dagegen der aufreizend-selbstbewusste „Geezer“-Ton, in dem | |
„Anger is an Energy“ verfasst ist: Geezer, so nennt man in Großbritannien | |
die straßenschlauen Trickser. Lydons Alltag am Rande der Legalität: Ständig | |
fliegen die Fetzen, mittenmang der unsympathische Ober-Geezer, alle | |
anrempelnd. Gibt’s was auf die Omme, setzt es Vergeltung. Zur Illustration | |
ist diese Legende in Satzstummel gegossen, die sich lesen, als seien sie | |
vom Pub-Tresen auf den Boden gespuckt: Scheißt der Hund drauf, Charles | |
Dickens wird’s freuen. | |
Überhaupt, dass Lydon die renitente Nervensäge verkörpert, erscheint | |
angesichts seiner Herkunft als Sohn eines Bauarbeiters aus dem Londoner | |
Viertel Finsbury Park als poetische Gerechtigkeit. Wäre so einer nicht zur | |
singenden Kreissäge geworden und trotz aller Widerstände der herrschenden | |
Klasse nach einigen Umwegen im Seniorenstift des Pop angekommen, der | |
„shitstem“, die schiefe Bahn hätte gewartet. Seine Behauptung. Gleichwohl, | |
im Zeitalter von Elite-Uni-Absolventen wie Mumford & Sons ist eine Karriere | |
wie jene von Lydon kaum noch möglich. | |
## Zahnbürsten zum Schuhe putzen | |
„Anger is an Energy“ birst vor Widersprüchen, die Tragik einer | |
zugeschriebenen Rolle blitzt darin auf, die dem Hauptdarsteller zum Klotz | |
am Bein wird. Manchmal wirkt das Kaputte trotz allem lustig – der Spitzname | |
Rotten ist von den verfaulten Zähnen abgeleitet. Zahnbürsten dienen bei | |
Lydons zum Schuhe putzen: Nicht nachmachen, bittet er die Leser. | |
Mit zunehmendem Alter wirkt Lydon stammtischaffin. Wenn er schreibt, das | |
britische Gesundheitssystem stelle „eine bedeutende Errungenschaft“ dar und | |
möge ausschließlich den Bürgern des Vereinigten Königreichs vorbehalten | |
bleiben. „Bitte denkt jetzt nicht, ich rede denselben Quatsch wie dieser | |
Blödmann Nigel Farage von der Ukip, wenn er das sagt, hat es rassistische | |
und nationalistische Untertöne.“ Selbst wenn das ironisch gemeint sein | |
soll, haltbar ist dieser Dreck nicht. | |
Seit mehr als 20 Jahren in Kalifornien ansässig, hat Lydon 2013 die | |
US-Staatsbürgerschaft angenommen. Sein Geld verdient er inzwischen als | |
Zottel fürs Reality TV und kleidete sich für einen Werbespot der Marke | |
„Country Butter“ in Tweed. Was die irischen Konkurrenzmolkereien in Rage | |
gebracht hat. Zweimal haben die Sex Pistols seit ihrer Auflösung | |
Reunion-Tourneen in Originalbesetzung absolviert, seit 2009 ist Funkstille. | |
Wenn die nächste Whirlpoolreinigung ansteht, kann das wieder anders sein. | |
„Cash from Chaos“ hieß der Firmenname von McLarens Management, das Chaos | |
ist Geschichte, geblieben ist Lydons Geschäftssinn. | |
Natürlich findet sich auf den über 600 Seiten dadurch viel Unterhaltsames, | |
aber dass bei aller Ausführlichkeit eine Tatsache etwas zu kurz kommt, ist | |
unverzeihlich: Lydon und seine Punk-Freunde haben das komplizierte | |
multikulturelle Miteinander im Großbritannien von heute in den siebziger | |
Jahren durchaus radikalpolitisch vorgelebt. | |
## Essays über die Stranglers | |
Anschaulicher wird diese prekäre Existenz in einem Band des unabhängigen | |
britischen Verlags Zero Books beschrieben. Doppelt interessant, weil das | |
Buch eine inzwischen in Großbritannien verfemte Band der Vergessenheit | |
entreißt und gegen Kritik in Schutz nimmt: In „Strangled“ untersucht Phil | |
Knight anhand zweier Essays die Karriere der Stranglers, eines Quartetts, | |
das seit Längerem aus den offiziellen britischen Pop-Chroniken verschwunden | |
ist. | |
Die Stranglers sind verhasst, weil sie zur Primetime der Punkrebellion auf | |
Kriegsfuß mit einflussreichen Journalisten standen. „Reflexivität“, | |
schreibt Knight und argumentiert mit dem US-Parapsychologen George P. | |
Hansen und seiner Definition des Tricksters, „ist antistrukturell, weil sie | |
die arbiträren Ansichten, auf denen die Gesellschaft fußt, offenlegt. Dies | |
erklärt auch, warum die Stranglers ständig aneckten, da ihr Verhalten | |
äußerst reflexiv war. Sie stellten damit die informellen Hierarchien des | |
Musikbiz bloß und wendeten sich in ihrer Musik gegen Kräfteverhältnisse.“ | |
„I Feel Like A Wog“ heißt der Auftaktsong ihres zweiten Albums „No More | |
Heroes“, für Knight zentraler Song der Band. Wog ist britischer Slang für | |
„Kanacke“. Als das Album 1977 erscheint, durchlebt Großbritannien eine | |
Identitätskrise. Das Empire befindet sich in Auflösung, eine Rezession | |
schwächt die Ökonomie, die Gesellschaft ist tief gespalten. Das trifft | |
besonders junge Erwachsene und Kinder von Einwanderern, wie John Lydon, | |
Sohn irischer Migranten, und Jean-Jacques Burnel, Bassist der Stranglers, | |
dessen Eltern aus Frankreich eingewandert waren. | |
„I feel like a wog / People giving me the eyes / But I was born here just | |
like you / I feel like a wog / Got all the dirt shitty jobs / But | |
everybody’s got to have something to do with their time.“ Burnel verkörpert | |
nicht nur den gesellschaftlichen Außenseiter, sein | |
schmatzend-brutalistischer Bass-Sound wird zum Markenzeichen des Genres. Er | |
bringt die düstere Aura der Gewalt zum Klingen. | |
25 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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