# taz.de -- Noisepunk und Inferno: Das Leben der Brians | |
> Volle Kanne ungemütlich: Um Exzess und Experimente geht es beim Duo | |
> Lightning Bolt. Mit seinem neuen Album kommt es auch nach Berlin. | |
Bild: Brian Chippendale (x2), Brian Gibson (x2). | |
Man muss sich das so vorstellen: In einem Kreis von wogenden, wippenden, | |
pogenden Menschen sitzt eine Mumie hinter einem Schlagzeug. Jedenfalls | |
sieht der Typ, der eine Stoffmaske über den Kopf gezogen hat, aus wie eine | |
Mumie. Er prügelt auf sein Schlagzeug ein. Und er bellt dazu wie ein | |
Terrier in ein Mikro, das er unter der Maske trägt. | |
Daneben steht ein unscheinbar wirkender junger Mann, blonde Haare, | |
freundliches Gesicht, und gleitet über die Saiten seines E-Basses. Alle | |
Pegel sind übersteuert. Es wummert im ganzen Raum. Es ist heiß. | |
Wer die Band Lightning Bolt einmal live erlebt hat, der mag ähnliche Bilder | |
vor Augen haben - vielleicht auch die körperlichen Empfindungen, die ein | |
Konzert dieser Band auslöst. Denn, da passt der Bandname – Blitzschlag - | |
perfekt: Die Musik fühlt sich so an, als werde man selber unter Strom | |
gesetzt. | |
Lightning Bolt, das ist ein Duo aus Providence in Rhode Island, das es | |
durch seine Auftritte zumindest im Indie-Underground zu einem gewissen Ruhm | |
gebracht hat. Ihre Musik wird gern als Noise oder Noisepunk bezeichnet; | |
Brian Chippendale und Brian Gibson, die Mumie und der Unscheinbare, hören | |
das nicht so gerne, weil der Begriff ihre Kunst nur ungenau wiedergibt. In | |
erster Linie sind Lightning Bolt wohl eine große Performance-Band. | |
Mit jedem Album, so auch mit dem kürzlich erschienenen neuen Werk „Fantasy | |
Empire“, versuchen Lightning Bolt, die Kraft des Live-Erlebnisses im Studio | |
einzufangen. „Ich glaube nicht, dass man uns ganz versteht, wenn man uns | |
noch nie auf der Bühne gesehen hat“, sagt Brian Gibson, der Bassist, | |
während des Skype-Interviews. „Die Aufnahmen geben – selbst, wenn sie noch | |
so krass sind - nicht vollumfänglich wieder, wer und was wir sind.“ | |
Wer und was sie sind, das kann man nun sehen und hören, wenn sie für einige | |
Konzerte nach Europa und für ein einziges nach Deutschland (Berlin) kommen. | |
Die Story von Lightning Bolt ist deshalb bemerkenswert, weil sie inzwischen | |
mit ihrem nervösen, unverdaulichen, übersteuerten Sound über Squats und | |
Underground-Clubs hinaus bekannt geworden ist. Weil sie bis heute keiner | |
bestimmten Szene zuzuordnen ist und es sich nie in Nischen gemütlich | |
gemacht hat, wobei „gemütlich“ eine Assoziation ist, die sowieso | |
unvereinbar mit dem Sein und Wirken dieser Band ist. | |
Vor allem aber weil sie, seit sie 1994 begonnen haben, etwas Eigenständiges | |
geschaffen haben. Etwas, das es so noch nicht gab. Sie rühren die Genres | |
durch den Mixer: Punk, Noise, Metal, Hardcore, Elektrogrind, Krautrock, | |
Improvisation, Minimal - um nur einige Stile zu nennen. | |
## Zwei Universalkünstler am Werk | |
Einflüsse aus Rock und Neuer Musik vereinen sich so, dank einer | |
grenzenlosen Liebe zu Gitarren- und Gesangsverzerrern, mit digital | |
anmutenden Klängen. Verwurzelt sehen sich Lightning Bolt im Punk: „Ich | |
glaube schon, dass wir eine Punkband sind“, sagt Gibson, „das trifft es am | |
ehesten. Es gibt natürlich viele Bedeutungen von Punk – ich würde ihn eher | |
in dem Sinne verstehen, dass wir in keine Kategorie passen.“ | |
Lightning Bolt, das ist auch die Geschichte der beiden Brians und damit die | |
Story zweier Universalkünstler. Der eine, Brian Chippendale, ist nicht nur | |
Schlagzeuger, hat nicht nur zwei Bands – neben Lighntning Bolt noch sein | |
Solo-Projekt Black Pus -, sondern arbeitet auch Maler und gestaltet Comics. | |
Zuletzt hat er zudem gemeinsam mit Greg Saunier von Deerhoof ein Album | |
veröffentlicht. | |
Der andere, Brian Gibson, ist Designer von Videospielen. Und er hat noch | |
„diese Band, in der ich mich als Hund verkleide. Wir tragen Tierkostüme an | |
und flippen aus.“ Gibson meint die Gruppe Barkley‘s Barnyard Critters, die | |
hierzulande bislang noch nicht zu sehen war. | |
Kennengelernt haben sich die beiden Brians Anfang der Neunziger auf der | |
renommierten Rhode Island School of Design, die auch schon Musikerinnen wie | |
Heather Nova oder David Byrne von den Talking Heads besucht haben. | |
1994 gründete sich Lightning Bolt als Trio, damals war noch der japanische | |
Gitarrist Hisham Bharoocha mit dabei, der später bei der New Yorker Band | |
Black Dice spielte. Eine „mindblowing experience“ nennt Gibson den Beginn | |
dieser Kollaboration. Vom (japanischen) Noiserock waren sie in ihren | |
Anfangstagen genauso beeinflusst wie vom Minimal Music-Pionier Philip Glass | |
oder von Jazz-Erneuerer Sun Ra. | |
Mitte der neunziger Jahre gründete Chippendale mit einem Freund den | |
USA-weit bekannten Veranstaltungsort „Fort Thunder“ in einer ehemaligen | |
Lagerhalle in Providence. Er bildete sechs Jahre lang das Kraftzentrum | |
einer Szene, die experimentelle Musik, randständige Kunst und | |
Comic-Ästhetik zusammenbrachte. | |
Lightning Bolt traten zunächst nur live auf, ihr Debüt erschien 1999. Bis | |
zuletzt veröffentlichten sie ihre Alben auf dem in Providence ansässigen | |
Label Load Records. Erst jetzt, mit „Fantasy Empire“, hat man in Thrill | |
Jockey ein renommiertes Indie-Label gefunden, das dafür bekannt ist, | |
künstlerische Freiheit vor kommerzielle Interessen zu stellen. | |
## Nix Mackertum | |
Einer größeren Öffentlichkeit, zumindest in den Staaten, wurde die Band | |
erst mit dem Album „Wonderful Rainbow“ (2003) bekannt, das viele gute | |
Kritiken bekam. Bis heute, sagt Gibson, hätten sie etwa tausend Konzerte | |
gespielt. Die Physis des Alles-kann-passieren, erklärt Gibson, ist | |
Vorraussetzung für die Atmosphäre auf der Bühne: „Wir waren lange Zeit | |
regelrecht süchtig nach Konzerten und brauchten dem Exzess-Aspekt der | |
Auftritte.“ Körperliche Erschöpfung treibt Lightning Bolt an. Im Gegensatz | |
zur Metalszene hat der Sound von Lightning Bolt mit Maskulinität und | |
Mackertum nichts zu tun. | |
„In unserem Songs stecken viele für die mittleren Neunziger in der Musik | |
typischen Gefühle wie Energie, Intensität, Angst, Dunkelheit und Wut“, sagt | |
Gibson. „Wir haben sie aber in etwas Positives umgewandelt, gehen | |
spielerischer, positiver mit ihnen um.“ Ihre Kostümierungen, das | |
unscheinbare Äußere der beiden, der Witz, den sie in den Vordergrund | |
stellen: In „harten“ Musikgenres ist das meist nicht vermittelbar. | |
Auf „Fantasy Empire“ kommen Lightning Bolt dem nahe, was sie live | |
auszeichnet. Ein Song wie „Horsepower“ weist dem Titel entsprechend | |
ordentlich Pferdestärken auf, im Prinzip besteht er nur aus einem – | |
unterschiedlich verzerrten - Gitarrenpart, auf dem Gibson endlos | |
herumreitet. Bereits im nächsten Song, „King of my World“, entschwinden | |
Chippendale und Gibson in Progrock-Parallelwelten. | |
„Fantasy Empire“ ist, mehr als die Lightning Bolt-Alben zuvor, ein Trip | |
durch die Rockgeschichte. Mal klingen die Bassläufe dabei mehr nach Metal, | |
mal technoid, dann wieder doomig. Die Songstrukturen sind dabei besonders: | |
Oft basieren Stücke nur auf einzeln angeschlagenen Tönen auf dem Bass. | |
Dabei entsteht ein nuancenreiches Gewummer und Geballer, das begleitet wird | |
vom Schlagzeugspiel Chippendales, der mit irrem Tempo auf Snare und Becken | |
eindrischt. | |
Den Rest erledigen Verzerrer und Effektgeräte, indem sie Noise kreieren. | |
Wer dabei aber nur Krach heraushört, hat Lightning Bolt nicht verstanden. | |
28 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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