| # taz.de -- Album des britischen Popstars Jamie xx: Euphorie, Bass und Melancho… | |
| > Jamie xx gelingt auf „In Colour“ ein Spagat zwischen den Klangsignaturen | |
| > von elektronischem Dancefloor und den Hooklines des Indierock. | |
| Bild: Durch das Album „In Colour“ von Jamie xx zieht sich ein Dialog mit de… | |
| Tiefseetiere haben einen paradoxen Lebensstil. Tagsüber tauchen sie durch | |
| den schwarzen Untergrund des Ozeans, in den kein Sonnenlicht mehr dringt, | |
| und nachts schwimmen sie in Richtung Wasseroberfläche, wo sie Nahrung | |
| finden. Beim Londoner Produzenten Jamie Smith alias Jamie xx ist das | |
| ähnlich, wenn auch umgekehrt. | |
| Als einer der gehyptesten Künstler des zeitgenössischen britischen Pop | |
| ernährt er sich seit jeher vom nächtlichen Sound des Undergrounds, operiert | |
| dabei aber stets an der Oberfläche. Das Mitglied des Indiepop-Trios The xx | |
| bespielt inzwischen die großen Festivalbühnen dieser Welt und hat bereits | |
| mit Stars wie der US-R & B-Sängerin Alicia Keys und dem kanadischen Rapper | |
| Drake zusammengearbeitet. Die DJ-Sets von Jamie xx sind jedoch vor allem | |
| von frühem britischen Jungle- und Dubstep-Sound geprägt und strictly | |
| underground. | |
| 2011 gelang Jamie xx mit „We’re New Here“ und seinem Remixalbum für den | |
| US-Soulmusiker, Jazzpoeten und Rappaten Gil Scott-Heron ein musikalischer | |
| Coup. Smith schaffte es, den Texten und Songs Herons mithilfe eines | |
| basslastigen, clubbigen Sounds einen State-of-the-Art-Anstrich zu geben, | |
| ohne in die Kitschfalle zu treten. | |
| ## Potenzial zum Sommerhit | |
| Ganz im Gegensatz zu seinem heute erscheinenden Debütsoloalbum „In Colour“, | |
| an dem der 27-Jährige sechs Jahre gearbeitet hat. Denn auf der Oberfläche | |
| spiegelt sich eine buntfröhliche Unbeschwertheit, die man vom ansonsten | |
| eher melancholischen Sound des Briten nicht gewöhnt ist. | |
| Zwei Songs haben das Potenzial zu echten Sommerhits: „Loud Places“, das mit | |
| der Stimme der The-xx-Sängerin Romy Madley Croft, dem sedierend-gefälligen | |
| Gitarrensample samt Chor klingt wie ein Gospelsong für Pophörer auf der | |
| Suche nach Instanttranszendenz. Und „I Know There’s Gonna Be Good Times“, | |
| eine Kollaboration mit dem US-Rapper Young Thug und dem jamaikanischen | |
| Dancehall-Star Popcaan, deren Stimmen zusammen mit den vordergründigen | |
| Gesangsamples der Soulband The Persuasions eine Brücke zwischen der | |
| Dur-Fröhlichkeit des 20. Jahrhunderts und dem Gepose aktueller R & | |
| B-Produktionen schlägt. | |
| ## Entschleunigung der Krise | |
| Jamie xx ist mit Dubstep sozialisiert. Einem Sound, der mit seinem düsteren | |
| wie melancholischen und vor allem entschleunigten Patterns nicht nur völlig | |
| neue Klangerlebnisse, sondern auch die angemessenere Reflektion der nuller | |
| Jahre, die in Großbritannien zunehmend von Krisen geprägt war, bot. Dubstep | |
| konnte in Städten wie Bristol und London entstehen, weil seine Produzenten | |
| unzufrieden mit der kulturellen Stagnation waren und etwas Eigenes | |
| kreierten, mithilfe kostenlos heruntergeladener Musiksoftware. So entstand | |
| ein Genre, das der chaotischen Gegenwart gewachsen war. | |
| Clubmusik, somit auch Dubstep, unterliegt seit jeher kulturellen Zyklen. | |
| Auch Dubstep hatte Anfang der Zehner Jahre seine Ecken und Kanten verloren | |
| und kam im sogenannten Mainstream an. Durch Radiodauerberieselung konnte | |
| sein Sound keine Gefühle mehr wecken und war stattdessen zum bloßen | |
| Hintergrundrauschen geronnen. | |
| Vor allem war Dubstep nicht mehr in der Lage, ein Lebensgefühl | |
| auszudrücken. Das Bedürfnis nach etwas Neuem, Anderem, Aufregenderem wurde | |
| so stark, dass Künstler begannen, mithilfe der neuesten Musiktechnik neue | |
| Klänge und neue Rhythmen zu produzieren. Inzwischen hat Dubstep das andere | |
| Ende dieses Zyklus erreicht – und ist in den Radiomainstream diffundiert, | |
| während unterhalb des Radars Hunderte kleine Labels weiterhin den | |
| „ursprünglichen“ Sound pflegen. | |
| ## Ein zyklisches Zucken und Zaudern | |
| Dieses zyklische Zucken und Zaudern von Dubstep hört man auch in den Tracks | |
| von „In Colour“. Durch das ganze Album zieht sich ein Dialog mit der | |
| Vergangenheit. So atmet der unmittelbar auf die Tanzfläche schielende | |
| Auftaktsong „Gosh“ die Energie früher Drum-’n’-Bass- und Jungle-Raves,… | |
| dem eine Stimme immer wieder einige der zentralen, das Publikum anheizenden | |
| Codewörter der bis heute in Londoner Clubs präsenten MCs herunterbetet. | |
| „Oh my gosh“ und „easy easy“ sagt die unter einem verlangsamten Breakbe… | |
| versteckte Männerstimme, bevor sich im zweiten Teil eine dramatische, aus | |
| zwei Akkorden bestehende Synthesizermelodie hereinschleicht und den Track | |
| in hymnisches Pathos kleidet. | |
| Fehlenden Kontext lässt sich Jamie xx nicht vorwerfen. Ist doch Dubstep | |
| anders als Techno selbst für die längst im Pophimmel angekommenen | |
| Produzenten von einem strengen Glauben an die Community und ihre Codes | |
| geprägt. Deshalb ist „In Colour“ auch voll von Querverweisen an die Wurzeln | |
| und Ursprünge der Szene. | |
| ## In völliger Dunkelheit | |
| So nennt Smith in Interviews immer wieder Namen von Künstlern, Clubs und | |
| Labels, die sein Schaffen beeinflusst haben. Da wäre etwa der legendäre | |
| Londoner Club Plastic People, der nichts anderes war als ein kleiner, in | |
| völliger Dunkelheit belassener Raum mit einem großen Soundsystem, das den | |
| ganzen Körper zum Vibrieren bringen konnte. | |
| Bis heute birgt das den wichtigsten Aspekt von Dubstep: Dunkelheit erzeugt | |
| ein Gefühl des Auf-sich-selbst-geworfen-Seins, die kathartische | |
| Konfrontation der Tänzerkörper mit dem Bass, das die Krise des Individuums | |
| reflektiert. Man hört das auch in „You wanna disappear in a crowd“, | |
| gesungen von Smiths Bandkollege Oliver Sim im Song „Stranger in the Room“. | |
| Alleinsein unter vielen war für Smith immer inspirierend, wie er im | |
| Interview erzählt. „Ich bin gerne ohne Begleitung ins Plastic People | |
| gegangen, das war am besten für diese unmittelbare Klangerfahrung. Bei | |
| Dubstep geht es um nichts anderes als um Dunkelheit und Kopfnicken.“ | |
| ## Bunt und nachdenklich | |
| „In Colour“ ist alles andere als der Soundtrack für düstere Clubs und | |
| Kopfnicken. Unter den bunten, grellen Popsongs steckt eine | |
| Nachdenklichkeit, die gelegentlich von einer kurz aufblitzenden Düsternis | |
| gebrochen wird. Damit ist der Sound von Jamie xx auch ein Zeichen einer | |
| Zeit, in der jegliche Form der Kunst nicht mehr unabhängig von ihrer | |
| Rezeption produziert wird. | |
| Jamie xx ist sich bewusst, dass er zentraler Bestandteil des kulturellen | |
| Zyklus von Dubstep ist. „Der beste Dancesound ist immer traurig“, sagte er | |
| mal in einem Interview – recht hat er. Viele Menschen gehen in Clubs, um | |
| eine persönliche Leerstelle in ihrem Leben zu füllen. Vielleicht lässt sich | |
| die Grundstimmung von Jamie xx daher am besten mit einem Paradoxon | |
| beschreiben, das auch zum Zustand unserer Gegenwart passt: melancholische | |
| Euphorie. | |
| 28 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
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